Schlächter Müller zieht zum Wasser

Ein paar grundsätzliche Überlegungen zu Helmut Krausser - anlässlich seiner "Kartongeschichte"

Von Alexander Martin PflegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Martin Pfleger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, liebe Leser, hier wird mitgedacht. Die Anspielung im Titel erschliesst sich dem Kenner umgehend, und jeder andere dürfte, könnte, müsste, sollte nach gar nicht allzu langer Zeit herausfinden, was gemeint ist. Als kleine Hilfestellung sei noch vermerkt, dass hierzu keine vertieften Kenntnisse des Krausser'schen Gesamtwerks nötig sind. Reden wir also lieber über Helmut Krausser und sein jüngstes Opusculum, oder nein - reden wir vorerst besser über Gerhart Hauptmann, Robert A. Heinlein, Martin Walser und Günter Grass.

Über Gerhart Hauptmann schrieb Karl Siegfried Guthke einmal, dass er ab einem gewissen Zeitpunkt veröffentlichen konnte, was er wollte - war es Schund, so war es doch Schund von Gerhart Hauptmann. Die Kritik hielt sich weitgehend zurück, abgesehen von denjenigen, die der künstlerischen Erscheinung des schlesischen Nobelpreisträgers schon immer distanziert gegenüberstanden. Allerdings wird auch immer wieder gerne betont, dass noch in den 1920er-Jahren Samuel Fischer seinem Stammautor ein komplettes Manuskript mit der Begründung, es sei zu schlecht, zurückgehen lassen konnte - Nobelpreis hin oder her.

Robert A. Heinlein, einem der grossen Überväter der US-amerikanischen Science Fiction, wurde von der Kritik nahezu einhellig attestiert, dass er mit seinem erzählerischen Realismus in den 1940er-Jahren viel für die Erneuerung des Genres getan, sich aber in späteren Werken immer mehr in einer ihm eigenen Art des Solipsismus verfangen und nur noch Bücher geschrieben habe, die aus endlosen Hommagen an seine früheren klassischen Romane, die Werke befreundeter Kollegen und diverses Bildungsgut sowie sexistischen Machtphantasien (wenn auch überraschend häufig aus weiblicher Perspektive erzählt) und reaktionären Tiraden bestünden.

Über Martin Walser äußerte Marcel Reich-Ranicki einmal, irgendwann in den 1960er-Jahren habe sich in der Aufnahme seiner Werke durch die Kritik die Tendenz abgezeichnet, dem Autor wie einem Patienten zu begegnen, der zwar verschiedene Symptome zeige, bezüglich dessen eigentlicher Erkrankung man sich aber uneinig sei - woran es liege, dass der zweifellos begabte Walser regelmässig literarische Fehlschläge zu verbuchen und noch kein hundertprozentiges Meisterwerk produziert habe, sei unklar, und die Aufgabe einer verantwortungsvollen Kritik müsse darin bestehen, den Autor durch mitunter scharfe Worte zu besseren Leistungen anzuspornen.

Seit "örtlich betäubt" hört man über Günter Grass bei nahezu jedem neuen Buch, es offenbare im Einzelnen Proben seines beachtlichen Talents, sei aber als Ganzes missraten. Die "Danziger Trilogie", die so unumstritten niemals war, mutiert in diesem Zusammenhang gerne zum sakrosankten Meisterwerk, das der Autor nie mehr erreicht habe, auch wenn "Der Butt" im Allgemeinen besser als "Ein weites Feld" wegkam. Der einzige Ausscherer war in diesem Zusammenhang "Im Krebsgang", aber mit dem "Häuten der Zwiebel" wechselte man wieder zum Standardmodell über - wobei in diesem Fall die Diskussionen um die Versuche des jungen Günter Grass, der häuslichen Enge zu entfliehen, tatsächlich diejenigen um eventuelle erzähltechnische Unzulänglichkeiten seiner Erinnerungen ein wenig überdeckten.

Fällt eine Besprechung nicht so aus wie erhofft, tendieren Autoren bisweilen dazu, ihren Kritikern, von gängigen Verschwörungstheorien ohnehin abgesehen, vorzuwerfen, mehr oder weniger reflexhaft gehandelt und bestimmten Ritualen des Kulturbetriebs gefolgt zu sein. Das ist natürlich nur ein Standardeinwand, aber jeder ehrliche Rezensent - und das dürften die meisten von uns sein - muss sich doch eingestehen, dass es sich manchmal geradezu anbietet, wenn nicht gar aufdrängt, einfach nur ein bestimmtes Schema auszufüllen - wenn auch nur "mit tiefem Bedauern" oder "gezwungenermaßen". Es ist eben nicht so, dass sich ein intelligenter oder auch nur brutaler Verriss grundsätzlich leichter schreiben ließe als ein originelles Lob. Will man wirklich zu denen gehören, die einen großen Namen auf dem Tiefpunkt seiner Entwicklung aufstöbern, gebetsmühlenhaft gönnerhafte Aufmunterungen wiederholen oder noch einmal resigniert frühere Glanzleistungen beschwören, die nun bedauerlicherweise unerreichbar erscheinen?

Man hat einerseits seine Skrupel, und man hat durchaus die Befürchtung, dass man Krausser auf den Leim ginge, wenn man die "Kartongeschichte" verrisse - aber andererseits fühlt man sich hierzu geradezu gedrängt, wenn man der Begeisterungsstürme gewahr wird, welche dieses Werkchen bereits in diversen Online-Foren zu entfachen vermochte.

In seinem umfangreichen Tagebuchwerk äußert sich Krausser (dem Wissensstand des Rezensenten zufolge) nicht über Gerhart Hauptmann; Günter Grass und Martin Walser begegnen einem auf diesen Seiten zwar selten, aber gleichwohl hin und wieder, und wie vertraut er mit dem Werk Heinleins ist, belegt seine Besprechung der Heinlein-Verfilmung "Starship Troopers" im "Spiegel" im Frühjahr 1998. Auch Kraussers literarische Karriere begann mit einer Trilogie, deren Publikationsgeschichte allerdings etwas verworren ist - der sogenannten "Hagen Trinker"-Trilogie, und in der "Kartongeschichte" findet sich eine Szene, die man als deutliche Reminiszenz auf eine bekannte Stelle im ersten Band der Trilogie des jungen Günter Grass lesen sollte.

Von Martin Walser hat Krausser nach eigenem Bekunden keine Zeile gelesen, dafür aber die Auseinandersetzungen um dessen Paulskirchenrede durchaus interessiert mitverfolgt. Der junge Krausser hatte sich einst ein Heidenvergnügen daraus gemacht, als Opernstatist während der Probenpausen Passanten mit seinem SS-Kostüm zu erschrecken. Dieses Motiv zieht sich nicht nur bis heute durch sein Werk: der Hang, in diese Richtung gehend die "political correctness" zu unterlaufen, ist ihm auch so zu eigen geblieben.

Seitdem er mit den "Melodien" (1993) auch seinen kommerziellen Durchbruch erleben konnte, hat er eine gläubige Gemeinde gefunden, für deren Mitglieder sich jeder seiner Rülpser zur Epiphanie verklärt - allerdings auch einige seiner früheren Fans dauerhaft vergrault, die seine Wendung ins offensiv Mythische als Verrat am eklektischen Naturalismus der Trinkerprosa missdeuteten.

Man kann Krausser ab den "Melodien" problematisch bis bodenlos finden, auch ohne politisch korrekten Normierungen zu entsprechen. Auch sein schwammiges Mythisieren lässt sich noch als Attitüde abtun. Viel schlimmer ist jedoch, dass der Autor nur allzu gut über seine Superiorität Bescheid weiß, und da er sie weder sich noch anderen beweisen muss und die Kohle obendrein stimmt, produziert er fast nur noch Schrott. Hier und da Meisterwerke auf dem Gebiet des Hörspiels wie "Dienstag", ansonsten aber Werke, die davon leben, dass der Autor die Lustlosigkeit, mit der er sie hinschluderte, gekonnt zu übertünchen und somit das Ganze als beständiges Suchen nach neuen Herausforderungen zu verkaufen weiß.

Wie ihm das immer wieder gelingt? Nun - Helmut Krausser versteht einfach unendlich viel mehr von der deutschen Sprache, als man ihm zutrauen möchte. In jedem seiner Texte stösst man auf Kleinigkeiten, die für 250 Seiten Leerlauf entschuldigen. Und das sind dann immer Sachen, die dem durchschnittlichen Schriftsteller, der sich gerne auf seinen Schild schreibt, ihm ginge es allein um die Sprache, stets unerreichbar bleiben. Kraussers Werk lebt schon allzu lange von solchen wenigen Glanzlichtern, deren Strahlkraft die Miserabilität ihrer Umgebung zumeist zu überblenden vermag.

In seinen Tagebüchern äußerte er einmal sinngemäss über Romuald Karmakar, wer sich vom Erfolg nicht zumindest ein bisschen korrumpieren ließe, sei nie wirklich gut gewesen. Das bezog sich zum Glück nicht auf das Filmschaffen Karmakars. Der Autor Krausser hingegen hat sich korrumpieren lassen: nicht vom Publikum, nicht von seinen Jüngern, schon gar nicht von der Kritik - wohl aber von der eigenen Brillanz. In seinem "UC" präsentiert er sich als Musterschüler des späten Heinlein, lässt seinen Ressentiments politischer, religiöser und sexueller Art freien Lauf, kopiert seine "Melodien" so geschickt, dass es kaum einer merkt, und taucht schließlich selbst als Weltschöpfer auf. Und wieder retten ein paar Höhepunkte diesen Matsch.

Ähnlich verhält es sich mit der "Kartongeschichte" - im Prinzip nichts Neues, aber gut verpackt. Helmut Krausser, der Charakterschilderer, hat schon immer ein Problem mit Frauenfiguren gehabt, und hier hat er nun endgültig den Tiefststand seiner Psychologisierungskunst erreicht. Über unfreiwillig karikaturistisch anmutende Zusammenballungen sexueller Abnormitäten kommt er einfach nicht hinaus - dafür verfügt er über ein Arsenal an Klischees. Rein summarisch neu ist hier die Vielzahl der vertretenen sexuellen Orientierungen beiderlei Geschlechts. Vielleicht ein humanistischer Aspekt - Schwule und Lesben werden hier als nicht weniger abstoßend dargestellt denn der durchschnittliche Hetero. Ein Krausser'sches Grundthema wird erneut aufgegriffen - der Kampf zwischen Jung und Alt, der nicht zur Familienproblematik oder zum Generationenkonflikt verniedlicht werden sollte, sondern bei ihm längst metaphysische Dimensionen gestürmt hat. Der Titel "Kartongeschichte" deutet, wie bereits die "Schmerznovelle", auf klassizistische Ambitionen des Autors hin - Dingsymbol, sich ereignete, unerhörte Begebenheit und ähnliches.

Aber das Ergebnis ist beileibe nicht das Genialste seit der Erfindung der Brotscheibe - wieder so eine Anspielung auf Heinlein, die Krausser, wenn er denn diese Rezension läse, sicher auf Anhieb verstünde. Die geradezu ontologischen Qualitäten des Kampfs zwischen Eltern und Kindern hat er in sprachlicher Höchstform mehr oder weniger exemplarisch in "Dienstag" abgehandelt - hier ist es nur noch mattes Selbstzitat, aufgeputscht mit ein paar wohl provokant wirken sollenden Gags der mittleren Klamaukklasse, die sich zur Not noch sprachphilosophisch umdeuten ließen. Einen wahrhaft überzeugenden Homosexuellen hat Helmut Krausser im Jahre 1989 in seinem, laut seinen Tagebüchern von ihm selber leider vergessenen, Romanerstling "Könige über dem Ozean" auf die Beine gestellt. Das war ein tolles Buch! Die Leute sind damals vor Begeisterung auf die Straße gerannt und haben "Helmut! Helmut!" gerufen! Das waren noch Zeiten! In diesem Buch kam auch zuerst das Thema der Pilgerfahrt zum Wasser als Ausgangs- und Endpunkt allen Lebens zur Sprache, das Krausser in seinen Tagebüchern im Zusammenhang mit Louis-Ferdinand Céline später noch einmal erörtern sollte und das auch das Hauptthema der "Kartongeschichte" ist.

Was bleibt? Ein paar halbwegs geglückte Grotesken, eine verschlungene, aber nicht übermässig konstruiert wirkende Handlung, hier und da die alles überstrahlenden sprachlichen Höhepunkte. Eine handwerklich solide Erzählung, ein bisschen auf experimentell eingestimmt, mit zahlreichen Reflexionen darüber, dass man verschiedenes hätte liebevoller erzählen können und dergleichen bis hin zum Überspringen eines kompletten Kapitels - Mätzchen, die er nie nötig hatte, die sich auch hier nicht zwingend ergeben und die letztlich nur stören. Er kann es zwar, aber er braucht es nicht.

Helmut Krausser äußerte vor einiger Zeit in einem Interview, er sei mittlerweile der beste Autor der Erde und trete nun in Konkurrenz zu den bedeutendsten Autoren anderer Planeten - Heinlein hätte sowas auch von sich gesagt. Mit solchem Zeug wie der "Kartongeschichte" lockt er aber auf Alpha Centauri wirklich keinen Hund mehr hinter dem Ofen oder besser irgendein extraterrestrisches Haustier hinter irgendeiner futuristischen Apparatur hervor. Worauf sich seine Selbstsicherheit wohl stützt?

Es handelt sich bei Helmut Krausser nicht um einen Notfall. Er liefert nur noch Meisterwerke ab, wenn er will - nicht, wenn er muss. Müssen tut er schon lange nicht mehr, und wollen will er wohl nur noch ganz selten. Und das Dumme ist, das Bücher wie die "Kartongeschichte" letztlich doch einer der Hauptgründe bleiben, sich überhaupt mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zu beschäftigen. Krausser weiß das, und so lange er es weiß, wird er den Teufel tun, sich noch einmal anzustrengen, um uns alle und vielleicht gar sich selbst zu überraschen. Schade eigentlich. So, und die ganzen restlichen Anspielungen lassen wir besser ungeklärt!


Titelbild

Helmut Krausser: Kartongeschichte.
Mare Verlag, Hamburg 2007.
144 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866480599

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