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Lynn Breedlove, Sängerin der lesbischen Punk-Band "Tribe 8", erweist sich mit ihrem Roman-Debüt als Szene-Autorin von Talent

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Godspeed" lautete der Namen eines der drei Schiffe, die 1607, also vor genau 400 Jahren, 104 englische Männer zur dauerhaften Besiedlung der Neuen Welt an die nordamerikanische Küste brachten, wo die Kolonisten alsbald einige Hütten an den Strand stellten und die kleine Siedlung Jamestown nannten. Ein Unternehmen, das wie kein anderes für den amerikanischen Gründungsmythos steht.

Wenn Jim allerdings von "Godspeed" spricht, denkt sie an etwas ganz anderes. An das gleiche nämlich wie Lynn Breedlove, Sängerin der nur in Insiderkreisen bekannten Punkband "Tribe 8", bei deren Namen man sich ruhig an die antiken Tribaden erinnert fühlen darf.

Breedlove also röhrt nicht nur auf den Bühnen amerikanischer Punk-Schuppen, sondern greift zumindest gelegentlich auch mal in die Tasten ihres Notebooks. Dabei ist Anfang der 1990er-Jahre ein Roman entstanden. Titel: "Godspeed". Anderthalb Dezennien hat es dann doch gedauert, bis das Buch ins Deutsche übersetzt wurde und nun hierzulande "Götterspeed" heißt.

Besagte Jim, eine junge Punk-Frau, die von ihrem Vater "wie ein Sohn großgezogen" wurde und sich "innendrin" noch immer "wie ein vierzehnjähriger Junge" fühlt, ist die Protagonistin des Werkes. Wenn Breedlove von "Godspeed" schreibt und Jim über "Godspeed" spricht, denken sie also an dasselbe. Und das sind Drogen. Vermutlich ist das nicht das einzige, was Autorin und Protagonistin gemein haben. Man sollte sich allerdings davor hüten, den Roman autobiografisch zu lesen. Und das nicht nur darum, weil Breedlove in der Danksagung darauf hinweist, ihre Mutter habe ihr geraten, allen zu sagen, "dass das hier eine ERFUNDENE Geschichte ist".

Um es gleich vorweg zu nehmen: Sie ist gut erfunden. Und was noch wichtiger ist: Sie ist gut erzählt. Manchmal sogar sehr gut. Der Anfang etwa, eine rasante Radfahrt durch die Straßenschluchten San Franciscos, deren atemberaubendes Tempo Breedlove in eine Sprache überträgt, die einen glatt vom Sattel zu reißen droht. Brösels Werner hätte mit seiner Horex jedenfalls keine Chance gegen die Fahrradkurierin von Daredevil Delivery. Doch nicht nur die ersten Seiten, jede Zeile des gesamten Buches vibriert förmlich vor Leben.

Jim hält es nicht lange im einstigen Hippieparadies. Bald führt sie ihr Weg aus der Küstenstadt hinaus, quer durch die USA von sunny california nach New York City und wieder zurück, nicht länger auf dem Rad allerdings, sondern zumeist als Roadie im Kleinbus der Lesbenpunkrockband Hostile Mucus.

Jim, die sich Breedlove als Ich-Erzählerin und Identifikationsfigur ausgedacht hat, erweist sich durchaus nicht nur als sympathisch, aber auch kaum einmal als wirklich unsympathisch, sondern als menschlich eben. Mit allerlei üblen Angewohnheiten sowie liebens- und hassenswerten Schwächen, wie sie Menschen nun einmal eigen sind. Dabei ist sie nicht nur schlau, sondern erweist sich immer wieder als klug. Jedoch handelt sie oft unbedacht und urteilt nur selten differenziert. Während sie ihre Geliebten nach allenfalls kurzem Zögern selbstsüchtig wechselt, ist sie unter ihrem Punk-Outfit selbst überaus verletzlich. Jim ist eine von denen, die sich immer wieder in die Tasche lügen und doch stets genau wissen, was los ist. Und das ist eigentlich nie etwas Gutes. "Der Schmerz wird nie aufhören, egal, mit wie vielen Babes ich ausgehe oder wie viele Drogen ich drücke." Ihre Melancholie drückt sich gelegentlich ganz unmelancholisch in knappen, drastischen und aphoristisch geprägten Sätzen aus: "Das Leben ist ein Zug, und ich schmeiß mich davor".

Manches an Jim, ihren Wünschen, Hoffnungen, Ängsten und Emotionen erinnert an die Serien-Heldin Ally McBeal. Würde man ihr das allerdings ins Gesicht sagen, würde sie einem zweifellos an die Gurgel gehen. Denn schließlich ist Jim keine besser gestellte Anwältin in Boston, sondern eine lesbische Punk-Frau, die an der Nadel hängt. Dennoch ist sie irgendwie wie wir alle. Manchmal gesteht sie sich das sogar selbst ein: "Ich bin wie Jedermann, hin und wieder".

Aber um ehrlich zu sein, muss man sagen, dass sie vielleicht doch etwas extremer ist. Und sie ist mit einer obszöneren Sprache bewaffnet als die meisten von uns. Gelegentlich wartet sie allerdings ganz überraschend mit Sätzen von beinahe poetischer Zartheit auf, etwa wenn sie ihre Lieblingsfarbe beschreibt, Indigo: "Sie ist tief und warm und kalt wie eine Wüstennacht, wie die butterweiche Liebkosungen des Sommerwinds, wie das breitstreifige Prügeln eines Wildlederfoggers. Sie ist in deinem Bauch in der ersten Nacht mit dem Mädchen deiner Träume, demjenigen, hinter dem du jahrelang her warst. Sie ist dein Herz, wenn sie dich verlässt, trostlos, verzweifelt, exquisite Stille des so Alleinseins, Tod. Sie ist die Nacht, in der du begreifst, dass du so viele Schneeflocken behalten kannst, wie du fangen kannst. Sie ist der Geruch des Kellers, wo du dich immer noch herumtreibst, sie in modrigen Schiffstruhen suchst, nach Ratten horchst."

Und das erstaunliche, ja bewundernswerte dabei ist, wie Breedlove es versteht, beides in Einklang zu bringen - die harte, aggressive, oft obszöne Punksprache und die Poesie, ohne dass irgendetwas je unpassend wirken oder sich ein stilistischer Bruch bemerkbar machen würde. Auch dann nicht, wenn fast schon kitschig anmutende Bilder unvermittelt ins Grauen kippen: "Der Himmel ist blau, wie 'ne Kornblume hinter Kinderbuchbäumen, Lousianamoos hängt herab wie Haut von einem Napalmbaby". An dieser Stelle sei auch Andrea Rick, der Übersetzerin, die ihr gebührende Anerkennung gezollt. Sie hat die sicher nicht immer einfache Aufgabe, Breedloves slangdurchdrängtes Amerikanisch in ein entsprechendes Deutsch zu übertragen, geradezu bravourös gemeistert.

Es gibt übrigens doch einen großen, ja gravierenden Unterschied zwischen Ally McBeal und Jim. Glaubt und hofft die Bostoner Anwältin unverdrossen auf das immerwährende Glück der großen, einen Liebe, so ist die Fahrradkurierin aus San Francisco davon überzeugt, dass es eine Liebe ohne Leid nicht geben kann, denn dieses macht geradezu ihren Kern aus. "Das Mädel, das immer für dich da ist [...] nichts als Lächeln und Ausgeglichenheit, keine Probleme und zufrieden [...] wozu ist die gut?" sinniert Jim. "Hingabe ist bloß bequem, keine Herausforderung." Denn "wenn du dich überhaupt nicht dafür anstrengst, ist es dann überhaupt etwas wert? Ich würde lieber mein Leben damit verbringen einem Mädel nachzujagen, dessen Gleichgültigkeit mich hoffnungslos fasziniert." Und dieses "Mädel" findet sie in - Ally: "Wir sind einfach zu wahnsinnig ineinander verliebt, um zusammenzusein." Davon ist natürlich nur die Hälfte wahr.

Man könnte die Namensgebung Ally für eine intertextuelle Bezugnahme zur schon erwähnten Fernsehserie halten. Doch ist dies schwerlich möglich, schrieb Breedlove ihr Buch doch bereits Anfang der 1990er-Jahre, während die Fernsehserie erst ein gutes halbes Jahrzehnt später über die Mattscheiben flimmerte.

Ally, der "zarteste Engel", bestreitet ihren Lebensunterhalt am "niederste[n], heruntergekommenste[n] Ort": einem Bordell mit Peepshow. Außerdem studiert sie, "dekonstruiert Geschlechterrollen" und "benutzt Theoriebegriffe wie 'Performativität'". Wenn es in Jims Welt etwas wie die große Liebe geben sollte, dann ist es diese Ally, von der Jim sagt, dass "alles außer ihr [...] Lüge" sei. Am Ende ist Jim quer durch die USA gereist und wieder zurück bei dieser, ihrer einzigen wahren Liebe. Doch das Wiedersehen gestaltet sich ganz anders als erwartet und es zeigt sich, dass die abwesende Ally nicht viel mehr war, als eine Projektionsfläche von Jims Liebesfantasien. Nun, vielleicht fällt das Wiedersehen doch nicht so sehr anders aus, als von Jim erwartet. Anders, als von ihr erträumt aber ganz sicher.

Sex and drugs and punk is all her brain and body needs, könnte man bei oberflächlicher Lektüre meinen, und oft genug versucht sich die Ich-Erzählerin das auch einzureden. Aber so stimmt das eben doch nicht. Und vielleicht fehlt sogar das Wichtigste. Etwas, das sie sich selbst kaum einzugestehen vermag.

Es mag nicht eben wahrscheinlich sein, dass der Roman seine Autorin bekannter machen wird, als sie es bislang als Sängerin von "Tribe 8" wurde. Dafür ist es aber umso wünschenswerter. Sie und ihr Buch hätten es verdient.


Titelbild

Lynn Breedlove: Götterspeed. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Andrea Rick.
mox & maritz Verlag, bremen 2006.
322 Seiten, 17,80 EUR.
ISBN-10: 3934790100

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