Liebe in der Zwangsjacke

Frederik Peeters Comic "Blaue Pillen" beschreibt das Leben mit einer HIV-positiven Freundin

Von Jonas EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Willkommen in der kleinen Welt des Aids." Mit diesen Worten wird Frederik von Dr. R. in seiner neuen Realität begrüßt. Fred, der Protagonist und Erzähler in Frederik Peeters' "Blaue Pillen", muss sich von allerlei gesellschaftlichen Klischees befreien, als er die HIV-positive Cati und ihren ebenfalls infizierten Sohn kennen lernt, insbesondere vom eigenen Bild, das er sich von der Krankheit gemacht hatte. Die Welt, auf die er trifft, unterscheidet sich stark von der Welt des Aids, die man als Leser zu kennen glaubt, beziehungsweise in den Jahren der Sexualerziehung beigebracht bekommen hat, und die Gedanken Freds nach Verlassen der Praxis müssen wohl auch für die Mehrheit der Leser beim Zuklappen des Buches gelten: "Als ich die Praxis verließ, war ich völlig aufgewühlt [...] Für mich hatten sich die Tore zu einer ungeahnten Welt geöffnet, fern der gesellschaftlichen Klischees, der Skandalgeschichten [...] und der voreiligen Verurteilungen. Eine Welt, die aus Dramen Erfahrungen macht".

Frederik Peeters autobiografischer Comic stellt Freds Auseinandersetzung mit Catis Krankheit in den Mittelpunkt, fokussiert sein fragendes, oft zweifelndes Gesicht. Der Auftakt, der so vielen anderen autobiografischen Comics ähnelt (an sich selbst zweifelnder Comic-Zeichner trifft faszinierende Frau, verliebt sich, was sein Leben verändert), wird gebrochen, wenn Cati Fred bei einem romantischen Abendessen ihre Krankheit beichtet. Bis hierher war die Phase des sich Näherkommens zwischen den beiden Protagonisten abgekürzt auf wenige Momentaufnahmen, jetzt erst beginnt der Leser Cati richtig kennen zu lernen. Sie begegnet ihm nur als HIV-positive Cati, die mit ihrer Krankheit zu leben gelernt hat oder dabei ist, damit leben zu lernen: "Zu dem Zeitpunkt, als unsere Wege sich kreuzten, war Cati davon überzeugt, dass ihr Sexualleben fortan ziemlich erbärmlich sein würde [...] sie meinte, das Virus mache sie schmutzig und gefährlich und vergifte ihr jeden Anflug von Liebe oder Lust [...]" Von hier aus, von diesem Moment, erklärt sich auch der Auftakt: Er ist überschattet vom nachträglichen Wissen über die Krankheit, das unbeschwerte Zusammensein ist nur noch in Form aufblitzender Augenblicke in der Erinnerung vorhanden.

Optisch folgt der Comic diesem alles überschattenden Wissen, wenn Peeters dem Moment des "Geständnisses" drei Panels folgen lässt, in denen all die Gefühle, die Fred überkommen, als Worte in die Bilder eintreten: "Leidenschaft, Mitleid, Lust, Ekel, Bestrafung, Abscheu, Flucht, Traurigkeit." Die Begrenzungen der einzelnen Panels sind porös, lassen die Worte nach außen dringen und Besitz ergreifen von der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Dies erklärt auch die unchronologische Erzählweise: Es sind diese Gefühle und Widersprüche, die der Comic - mal als Frage und mal als Antwort - in immer neuen Situationen aufgreift. Peeters schreibt: "Drei Monate zeichne ich jetzt, was ich erlebe oder erlebt habe [...] Drei Monate, in denen ich mein Leben mit den Beiden von allen Seiten betrachtet habe [...] in denen ich geschrieben, beschrieben, nachgedacht habe [...] ohne Atempause, ohne aus meinem eigenen Gefühlsleben herauszukommen [...]". Die kurze Entstehungsdauer merkt man dem Comic an - im positivsten Sinne. Die oftmals nur angedeuteten Hintergründe lassen mehr Raum für die Figuren. Je freier sich Fred und Cati fühlen, desto weniger wird der Leser von ihnen abgelenkt; wachsen ihre Selbstzweifel, werden Peeters' Bilder düsterer, drohen die beiden zu verschlucken.

Dennoch ist "Blaue Pillen" kein Comic, der versucht, Betroffenheit und Mitleid zu vermitteln, oder irgendwem eine Schuld zuzuweisen. Über Catis Infizierung erfährt man nichts, ebenso wenig über ihre Vergangenheit, sieht man von den wenigen, über sechs Jahre verteilten Begegnungen mit Fred ab. Die Handlung konzentriert sich auf das Jetzt, auf die etwa anderthalb Jahre des Zusammenseins vom intensiven Kennenlernen bis zur Fertigstellung des Comics. Anders als beispielsweise David B. in "Die heilige Krankheit", der versucht, dem Leser eine Umsetzung der Epilepsie seines Bruders in Bildern zu präsentieren und sich dabei oft in diesen verliert, zeigt Peeters, dass es eines in Bezug auf Aids eben nicht gibt: eindeutige Bilder. Zu stark ist die Krankheit von Ängsten und Halbwissen überfrachtet. Einzig die titelgebenden blauen Pillen, Therapiemittel einerseits, mit starken Nebenwirkungen verbunden andererseits, werden bei Peeters zu einem Symbol, das all das beinhaltet, was die Krankheit ausmacht und eben auch seine und vor allem Catis zwischen Zuversicht und Verzweiflung pendelnden Gefühle spiegelt: "Sofern die Medizin keine Fortschritte macht, wird dieses Kind für immer in eine Art lebenserhaltende Drogenabhängigkeit gestürzt, unter Aufsicht seiner Mutter [...] es gibt keine Wahl, nur Ängste und Fragen [...]".

Dabei schafft es Peeters, gerade indem er nicht die gesellschaftliche Dimension der Krankheit, sondern seinen persönlichen Bezug zu ihr zeigt, die gesellschaftliche Dimension darzustellen: die Unwissenheit, das Misstrauen und die Ängste. So tauchen plötzlich Fragen auf, deren Beantwortung unlösbar erscheint: Wie sage ich meinen Eltern, dass meine Freundin HIV-positiv ist? Was tun, wenn das Kondom reißt? Auf letztere Frage hat Dr. R. eine Antwort ("Ich werde Ihnen mal etwas erklären [...] man fängt sich das HIV nicht wie eine Grippe [...]. Die einzige Möglichkeit, wie sie sich anstecken können wäre also, dass das Blut von Madame in ihren Körper gelangt, was sehr unwahrscheinlich ist. Oder dass eine Wunde in Kontakt mit ihrem Sekret kommt [...] und selbst dann [...] Es ist nicht so einfach, wie man denkt!"), erstere ist viel schwerer zu beantworten: "in ihrer Generation [...] ich meine HIV [...] Aids, das ist gesellschaftlich belastet [...] es macht Angst." Und genau dies ist der Verdienst von "Blaue Pillen": Er macht deutlich, dass die medizinischen Fragen in Bezug auf Aids viel leichter zu beantworten sind, weil dort all die Gerüchte und Vorurteile keinen Platz haben. Viel drückender sind die so leicht erscheinenden Fragen des Alltags, der unmittelbaren Umgebung und auch die Selbstzweifel: "Was mich angeht, so erinnere ich mich an flüchtige Visionen [...] an plötzlich aufblitzende Empfindungen [...] der Abscheu, der Wut, des Wunsches nach Bestrafung [...] an Fragen: 'Gibt es einen unguten Zusammenhang zwischen ihrer Krankheit und meinem Begehren?' [...] 'Unbewusste Selbstzerstörung?'"

Der Comic konzentriert sich auf die Personen, auf ihr Verhältnis zueinander, ihre in eine Zwangsjacke gesteckte Liebe und die Befreiung daraus. So ist es fast schon störend, wenn Fred gegen Ende in einen Dialog mit einem Oscar Wilde zitierenden Mammut tritt, um mit diesem sein Verhältnis zur Krankheit zu diskutieren. Bezeichnend vielleicht, dass dieses (Selbst-)Gespräch zermürbender und intensiver ist, als das unmittelbar vorangehende mit einem Freund, das sich an der Frage aufreibt, ob der Zwang, Kondome benutzen zu müssen, ein Problem für die Beziehung darstellen kann. Das Mammut dagegen legt Fred nahe, die Krankheit auch als Chance zu sehen, als Chance, die endlichen Dinge zu schätzen: "[...] ich glaube, das Glück ist, dass du gezwungen bist, zu suchen [...]". Hier versucht der Comic Sinn zu suchen, wo es eigentlich keinen geben kann und wirkt dabei etwas moralisierend. Aber auch dies ist natürlich Teil der Auseinandersetzung mit Aids, fällt es doch schwer, mit der Gewissheit zu leben, in Ungewissheit zu leben. Die Krankheit verhindert fast jedes Nachdenken über die Zukunft, insbesondere die Zukunft von Catis Sohn, denn diese ist überschattet vom Gedanken an seinen Tod. Lediglich ein wenig Zukunft bleibt am Ende, die Vorfreude auf eine Reise nach Bangkok im Anschluss an Fertigstellung des Comics: "Ich sehe sie in die Halle kommen, mit ihrem hinreißend verlebten Gesichtsausdruck [...] den Kopf voller Ängste und Wünsche [...] und die Tasche voller kleiner blauer Pillen".


Titelbild

Frederik Peeters: Blaue Pillen.
Reprodukt Verlag, Berlin 2006.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3938511621
ISBN-13: 9783938511626

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