Satantango

Zur Neuausgabe von Martin tom Diecks Comic "Der unschuldige Passagier"

Von Jonas EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Noch ein Wort zum happy end... ein obskurer Auftrag und letztlich scheitert Buster denn er hat zwar einen Plan aber keine Ahnung. Nein er hat keinen Plan aber eine Ahnung. Buster scheitert nicht wir meinen das nur weil wir keine Ahnung haben." So schreibt Martin tom Dieck in "noch ein Wort", einer Art Epilog zu seinem 1997 erschienenen Comic "Hundert Ansichten der Speicherstadt". Um dem Inhalt dieses Werks auf die Spur zu kommen, ist Diecks Nachwort nur bedingt zu gebrauchen; wohl aber spiegelt es seine Arbeitsweise wider: Die Handlung bewegt sich im Kreis und wird immer wieder von neuem aufgegriffen, wobei neue Aspekte hinzugefügt werden; so ist es in "Hundert Ansichten der Speicherstadt", im berühmten, gemeinsam mit Jens Balzer geschaffenen "Salut Deleuze" und auch schon in "Der unschuldige Passagier", seinem ersten umfangreicheren Werk von 1993, das nun im Berliner Reprodukt Verlag neu aufgelegt wurde.

Getragen und vorangetrieben wird die Handlung in allen drei genannten Arbeiten vom Motiv des Wassers. Matthias Schneider liest das Wasser als Metapher für die Veranschaulichung der inneren Gefühls- und Gedankenwelt von Diecks Protagonisten; dem ist hinzuzufügen, dass das Wasser bei Dieck mehr als nur eine Metapher ist, nämlich durchaus ein Eigenleben führt, beziehungsweise, wie in "Hundert Ansichten der Speicherstadt", selbst zum eigentlichen Protagonisten wird.

Er wolle in erster Linie einen Sound und einen Rhythmus erschaffen, sagte Martin tom Dieck einmal in einem Interview. "In diesem Sinne lassen sich Comics gut mit der Musik vergleichen. Es gibt Komposition, Mehrstimmigkeit und Arrangements, und in dieses arrangierte Ganze ist auch die Improvisation eingebettet." Ein solches zum Teil improvisiertes Vorgehen zeichnet "Der unschuldige Passagier" aus. Entstanden in der Abgeschiedenheit der hessischen Provinz, wo der Autor als Stadtzeichner in Alsfeld lebte, war es Diecks erste größere Arbeit, doch bereits hier ist der bis heute immer weiter differenzierte Stil herausgearbeitet, der es dem Publikum niemals leicht macht, aber gerade in seiner Rücksichtslosigkeit zu überzeugen weiß. Rücksichtslos im Sinne des Brechens von Lesererwartungen, insbesondere solcher, die die Comic-Konventionen betreffen. Er nimmt sich Zeit, bestimmte Motive über viele Panels hinweg auszuarbeiten, oder in immer wieder neuen Kontexten aufzugreifen, ohne dass die Handlung dadurch erkennbar vorangetrieben würde. Oder aber Dieck lässt den Leser mit dem Protagonisten über Seiten hinweg im Dunkel herumirren, fast schwarze Seiten zeugen hiervon.

Das Buch handelt von einer Suche, der Suche eines Mannes nach dem Kapitän eines Schiffes, auf das er geraten ist, ohne dass er oder die Leser wüssten, wie und warum. Er erwacht aus einem Traum, in dem er sich in einem kleinen Ruderboot auf offener See befand, und findet sich an Bord des Schiffes wieder. Das Schiff nun fährt in die falsche Richtung, weg von der Quelle und aufs offene Meer hinaus. Der unschuldige Passagier durchsucht das ganze Schiff, in der Hoffnung den Kapitän zu finden, um ihn zur Umkehr zu bewegen - findet jedoch nur seltsame Mitreisende, einen stummen Schiffsjungen und einen bedrohlichen Maschinisten. Der Comic mündet schließlich im Traum vom Beginn, einsam in einem Ruderboot treibt der namenlose Mann in Richtung Horizont. Differenz und Wiederholung. Bereits hier klingt Gilles Deleuze an, dem Dieck später ein ganzes Album widmen wird.

Dieck ist in seiner Bedachtheit und der Langsamkeit, in der er seine Geschichten sich entwickeln lässt, mit nur wenigen anderen Comic-Zeichnern vergleichbar. Viel eher ist eine Art Seelenverwandtschaft mit dem ungarischen Regisseur Béla Tarr zu erkennen. Beide setzen statt auf konventionelle Geschichten viel stärker auf Atmosphäre und Rhythmus, auf ein Eintauchen in Raum und Zeit. Dadurch versuchen beide, einen Rhythmus zu erschaffen, der den Zuschauer oder Leser trägt und in die Geschichte eintauchen lässt, man denke an Tarrs Meisterwerk "Werckmeister Harmóniak", der die musikalische Struktur bereits im Titel trägt. Noch stärker die Ähnlichkeit zwischen Dieck und Tarrs "Satantango", etwa zeitgleich mit "Der unschuldige Passagier" entstanden: Gerade was das Brechen von Zuschauererwartungen betrifft, setzen beide Maßstäbe: "Satantango" beginnt mit einer Szene, die einige Kühe in einer verregneten und nebligen ungarischen Dorfkulisse zeigt und dauert etwa zwanzig Minuten; nichts ist zu hören außer dem Regen und dem Muhen der Kühe. Jegliche Filmkonvention wird in dem siebenstündigen Film außer Kraft gesetzt und gerade dies macht seinen Reiz aus. Eine ebensolche Investition von Zeit verlangen auch die Arbeiten Diecks. Comics nicht als schnell konsumierbare Massenware, sondern Bildgeschichten, denen sich mit jedem Lesen neue Dimensionen abgewinnen lassen.


Titelbild

Martin tom Diek: Der unschuldige Passagier.
Reprodukt Verlag, Berlin 2007.
296 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783938511350

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