Intelligent schreiben über Pop

Kerstin Grethers gesammelte Texte zur Popmusik

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Musikgeschichten aus fünfzehn Jahren - der vorliegende Band scheint auf den ersten Blick ein Konglomerat aus Texten zu sein, ein Sampler, eine "Best-of"-Compilation - wie man es bei einer Plattenkritik aus Kategorisierungsbedürfnissen heraus formulieren könnte. Aber es nur eine Textsammlung zu nennen, würde dem entspannt und gleichzeitig gespannt komponierten Sammelband von Kerstin Grethers Texten nicht gerecht werden. "Was soll die dumme Debatte über mehr Pop oder weniger; über gar nicht Pop oder nur noch Pop? Spürt doch sowieso jeder normale Mensch, daß Schreiben über Pop Schreiben über die Wirklichkeit ist. Nur mit dem Unterschied, daß man vom Phänomen aufs Ganze, nicht vom Ganzen aufs Phänomen schließt. Und die Musik spricht dann noch mal ihre eigene Sprache."

Über welche Spannweite sich die "Exegesen der Welt" anhand von "Schreiben über Pop" kristallisieren, skizziert eine kurze Passage im Vorwort, die das verspricht, was dann die nachfolgenden Texte - über den genannten Aspekt hinaus - kongenial einlösen werden: "Noch später [in diesem Buch, A. d. V.] werde ich die Krankheit Magersucht, die im Kern Fehlkommunikation ist, anhand einer drastisch-introvertierten Begegnung mit PJ Harvey darstellen. Und für dieses Buch eine neue ausführliche Fassung des ursprünglich in der Intro abgedruckten Textes schreiben." Diese Vorgehensweise Grethers, den vorliegenden Band nicht nur als ein Sammelsurium von bereits veröffentlichten Texten zu sehen, sondern den Kontext und die Buchform der Veröffentlichung - also den ganzheitlichen Aspekt des Werkes - im Blick zu haben, macht eine der Besonderheiten des Bandes aus. Hinzu kommt eine große Themenvielfalt - was eigentlich beim Schreiben über Pop selbstverständlich ist, hier aber trotzdem erwähnt werden muss, da dies bei den meisten Autoren nicht selbstverständlich ist beziehungsweise aufgrund des engen Horizonts wohl eben auch nicht viel Sinn macht - gepaart mit jeder Menge mehrfach ironisch gebrochenem Humor. Wie anders lassen sich sonst Texte mit Titeln erklären wie "Werte Familien am Fließband" (über die Serie "Beverly Hills 90210"), "Ein Plädoyer für schwache Nerven. Ally McBeals Hungerstreik" und "Ein Dekolleté wie Beyoncé. Brüste kriegen - ein Pop-Märchen".

Man kann für den vorliegenden Band rein phänomenologisch gesehen feststellen: interessant, spannend, lesenswert - wie das Leben, das Grether in ihren Texten spiegelt. Sie liefert auf über 300 Seiten vollendetes Vergnügen beim Lesen über Pop. Man merkt bei der Lektüre auf, um festzustellen, wie witzig, interessant und intelligent über alltägliche Banalitäten und fundamentale Probleme geschrieben werden kann. Eine unterhaltsame Lektüre, bei der die Texte immer wieder zwischen kristallklaren Zeitanalysen, treffendem Musikjournalismus und bestechend lapidaren Formulierungen zirkulieren: "Und man kann euphorisch darüber werden, daß Mädchen, die Gitarre spielen, auch nur Menschen sind, die sich als freie Subjekte aufführen müssen." Mehr kann man nicht wollen.


Titelbild

Kerstin Grether: Zungenkuß. Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock ´n Roll Musikgeschichten 1990 bis heute.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
372 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518458570

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