Gesetzmäßigkeit des surrealistischen Zufalls

Ludvík Kundera: Teetrinker, Dichter, Übersetzer, Graphiker, Experte für alkoholische Destilate, Surrealist, unermüdlicher Literaturvermittler und deutsch-tschechischer Brückenbauer

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ludvík Kundera, Jahrgang 1920, lebt hochbetagt im mährischen Kunštát, einer kleinen Ortschaft knapp 50 Kilomter nördlich von Brünn. Noch während der Kriegszeit war er der surrealistisch inspirierten Künstlergruppe Ra beigetreten. Kundera schrieb Gedichte, Essays, Dramen und trat auch als Herausgeber vor allem der Gedichte von František Halas auf. Bereits in den 1950er-Jahren knüpfte er Kontakte mit Schriftstellern aus der DDR und übersetzte deren Gedichte in das Tschechische. Ludvík Kundera gehört jener Generation tschechoslowakischer Künstler an, deren Anfänge durch die Protektoratszeit stark behindert, ja gefährdet waren und die nach der siegreichen Machtübernahme der Kommunisten im Jahr 1948 wiederum in Bedrängnis kamen. Ihre Arbeiten konnten sie zumeist über Jahrzehnte hinweg nur unter erschwerten Bedingungen, oft aber gar nicht veröffentlichen.

Ein Vorteil dieser Generation war allerdings, dass sie als junge Leute nach dem Ende des Krieges wenigstens für einen kurzen Zeitraum den freien Zugang zur Welt nutzen konnten. Der Aufenthalt des 26-jährigen Kundera im Juni 1946 in Paris hatte nachhaltige Eindrücke hinterlassen. Nicht nur die Kunstausstellungen, sondern vor allem die unvermittelte Begegnung mit Hans Arp in einem Ausstellungssaal überzeugten Kundera "von der Gesetzmäßigkeit des surrealistischen Zufalls". Gemeinsame Pläne einer Arp-Austellung in Brünn wurden durch die kommunistische Machtübernahme zunichte, Arps Briefe erreichten Kundera erst wieder im Jahr 1957. Zu einem Wiedersehen war es nicht mehr gekommen.

Der vorliegende Band vereint Gedichte, Erzählungen, Erinnerungen sowie Bilder von Ludvík Kundera. Die meisten der Texte sind in der kongenialen Übersetzung von Eduard Schreiber erstmals im deutschen Sprachraum veröffentlicht. Dass bereits erfolgte Veröffentlichungen aus entlegenen Zeitschriften und Sonderdrucken noch einmal vorgelegt werden, kommt dieser Sammlung zugute.

Im Prosateil wird Kunderas Novelle "Berlin" aus dem Jahr 1944 vollständig übersetzt dargeboten, der Text "Guten Tag Brünn" wurde in Brünn im Jahr 2001 erstveröffentlicht. Ein gutes halbes Jahrhundert Textarbeit kennzeichnet auch Kunderas Dichtungen. Aus verschiedenen Gedichtsammlungen dieser Zeit werden repräsentative Texte vorgestellt. Eine kluge Einteilung dokumentiert Gedichte während und nach der Kriegszeit und setzt eine Zäsur nach dem gewaltsamen Ende des "Prager Frühling" von 1968, als Kundera im Zuge dieser Invasion "Gipsköpfe an Hufeisentischen" sitzen sah. Daß die Jahre der sogenannten "Normalisierung" in eine Phase von 1969-1980 sowie von 1980-1994 aufgeteilt werden und somit über das Ende des "real existierende Sozialismus" hinausreicht, kann damit erklärt werden, dass Kundera keine politischen Gedichte geschrieben hat, die unmittelbar auf gesellschaftliche Befindlichkeiten reagierten.

Die letzte Phase der Gedichte reicht von 1995-2005. Den Abschluss dieses sauber edierten und mit einem kundigen Erläuterungsapparat versehenen Bandes bilden Erinnerungsporträts an deutsche Dichterfreunde wie etwa Erich Arendt, Franz Fühmann oder Peter Huchel sowie an tschechische Weggefährten und Künstler wie Karel Teige, Emil Juliš, Bohdan Lacina oder Jan Skácel. Dass František Halas nicht fehlen darf, versteht sich von selbst. Kundera, der die umfassendste Monografie über Halas geschrieben hat, betrachtet sich in gewisser Weise als seinen Schüler. Seine Dichter-Gäste führt Ludvík Kundera obligatorisch an das Grab von František Halas, das nur wenige Gehminuten von seinem Haus in Kunštát entfernt liegt. Es sind auf diese Weise im Laufe der Jahre eindrucksvolle Gedichte von Günter Kunert, Reiner Kunze, Wulf Kirsten oder Heinz Czechowski entstanden.

Kundera war 1945 zum ersten Mal nach Kunštát gekommen, da seine spätere Frau Jirina von dort stammte. Die Begegnung mit Halas war menschlich und künstlerisch prägend für Kunderas weiteren Lebensweg. Dass Kundera sich 1976 auf Dauer in Kunštát niederlassen würde, um den Pressionen in Brünn im Zuge der "Normalisierung" zu entweichen, war damals nicht vorherzusehen. Die Winter- und Mitternachtsgedichte der 1970er- und 1980er-Jahre gehören zu den künstlerisch ausgereiftesten Texten Ludvík Kunderas. Über Jahre hinweg bilanzierten Gedichte mit dem Titel "Überwintern" nicht nur ein weiteres absolviertes Lebensjahr sondern bildeten Ansätze einer die Existenz transzendierenden Betrachtungsweise.


Titelbild

Ludvik Kundera: el do Ra Da(da). Gedichte, Erzählungen, Essays, Bilder.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Eduard Schreiber.
Arco Verlag, wuppertal 2007.
290 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3938375108

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