Wissenschaftsgeschichtliches Kompendium

Nach 300 Ausgaben ist die erste digitale Edition der kompletten Arno-Schmidt-Zeitschrift "Bargfelder Bote" erschienen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der gipfelstürmende nationalistische Provinzialismus, mit dem sich Katalonien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2007 empfahl, beschäftigte das erstaunte Feuilleton bereits Monate vor dem Ereignis. Mittlerweile gehört es in dem kleinen, offiziell zweisprachigen Land jenseits der Pyrenäen zum guten Ton, selbst auf Spanisch schreibende Autoren so zu ignorieren, als handele es sich um ehemalige Kollaborateure des faschistischen Diktators Franco. Literatur, die außerhalb der eigenen Region entstanden ist und die eigene "Kultur" bereichern könnte, kommt aus einer solchen Perspektive gar nicht erst mehr in den Blick.

Dabei ist es gerade die Welt der Literatur, die keine Grenzen kennt und wie kaum eine andere die Chance der produktiven Vermischung von Kulturen befördert. Juan Goytisolo etwa, einer der wichtigsten, auf Spanisch schreibenden Autoren aus Barcelona, der aufgrund seiner Opposition gegen das Regime Francos 1956 ins Pariser Exil floh, erinnert an eine Tradition katalanischer Intellektueller, die noch in der Lage waren, über die engen Grenzen ihres Landes hinauszublicken.

Im Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse von 1983 erlärte Goytisolo: "Arno Schmidt ist für mich einer der wichtigsten Prosaschriftsteller in Europa nach 1945." Das war vier Jahre nach dem Tod Schmidts, und es erstaunt doch, dass Goytisolo hier einen Autor so hoch einschätzt, der zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal beim deutschsprachigen Leserpublikum über den Status eines Geheimtipps hinausgekommen war. Das Statement des katalanischen Schriftstellers findet man - wie so vieles Bemerkenswertes - auf einer CD-ROM, die alle bisherigen 300 Ausgaben einer als literaturgeschichtliches Rezeptionsphänomen selbst schon wieder studierbar gewordenen Zeitschrift zugänglich macht. Die Rede ist von der digitalisierten Gesamtausgabe des "Bargfelder Boten".

1972 vom Literaturwissenschaftler Jörg Drews mit einigen wenigen getreuen Schmidtlesern gegründet, wandelte sich das sympathische Unternehmen vom bloßen Mitteilungsblatt für stichwortartige Einzelstellenentschlüsselungen Schmidt'scher Intertextualität zu einem professionellen philologischen Periodikum, das gleichzeitig durch seine prinzipielle Offenheit für alle möglichen Ansätze und Schulen bestach. So "ist der 'Bargfelder Bote' inzwischen selbst ein Dokument bzw. auch ein möglicher Gegenstand von Wissenschaft" geworden, wie Drews im Editorial zur 300. Nummer der Printausgabe schreibt, "eine Art 'wissenschaftsgeschichtliches Kompendium'".

Klickt man sich auf der vorliegenden CD-ROM einmal kursorisch durch die Hefte seit den frühen 1970er-Jahren, so bekommt man schnell einen Eindruck der merkwürdigen Begeisterung, die Schmidts Literatur bei denjenigen auslösen kann, die einmal in ihren Bann geraten sind. Dass seine urkomischen Bücher diese Wirkung auch über die Grenzen deutschsprachiger "Kultur" hinaus zeitigten, belegt Goytisolos Bemerkung von 1983. Dass Schmidts Prosa trotz ihrer besonderen Form mittlerweile in viele Sprachen übersetzt worden ist und weiter übersetzt wird, dürfte letztendlich auch ein Verdienst des "Bargfelder Boten" sein: Viele Leser, Germanisten und eben auch Übersetzer fanden hier erstmalig Aufschluss über zunächst einmal kryptisch erscheinende Andeutungen innerhalb der Schmidt'schen Literatur.

Nicht mehr "ganz so viele" wie die anfänglichen 1.000 Abonnenten habe der "BB" heute noch, räumt Herausgeber Drews im Editorial der digitalen Gesamtedition ein. Das mag auch mit dem - zumal auf einschlägigen Tagungen heute bereits unübersehbaren - allgemeinen Altern der "Schmidt-Gemeinde" zu tun haben, der es augenscheinlich an jüngerem Nachwuchs zu mangeln beginnt. Auch werden seit den 1990er-Jahren kritische Stimmen lauter, die am "BB" mangelnde Schritte hin zu zeitgemäßeren literatur- und kulturwissenschaftlichen Diskursen monieren - ist in der Zeitschrift doch, alles in allem, immer noch ein starker Fokus auf den bloßen Gestus des "Dechiffrierens" Schmidt'scher Texte feststellbar, der differenziertere Deutungsansätze oft vermissen lässt.

Dies lag und liegt aber wie gesagt nicht an einer wie auch immer gearteten methodologischen Festlegung des "BB". Vielmehr scheint es sich um eine generationsbedingte Form der Rezeption zu handeln, die zusammen mit dem Herausgeber in die Jahre gekommen ist. Um so mehr ist der Schritt, die Zeitschrift per Volltextsuche digital durchsuchbar zu machen, zu begrüßen: "Inzwischen tragen wir [...] überdies der Tatsache Rechnung", schreibt Drews, "dass raschere Kommunikationsarten bezüglich Veranstaltungen, Zitaten und kurzen Dialogen sowie auch in der Archivierung sehr großer Textmengen aller Arten bis zu ganzen Bibliotheken möglich sind, via E-Mail, ASml, etc., die die rasche und unmittelbare Verbreitung gerade auch bibliografischer Daten und den Zugang zu ausgedehnten Texten erlauben, zugleich auch mit der Möglichkeit, Stellen rasch und ausführlich zu zitieren, an denen Äußerungen zu Arno Schmidt und seinem Auftauchen stehen: Kaum steht's morgens in der FAZ, findet man's vormittags schon in der ASml."

Gemeint ist die damit die Arno-Schmidt-Mailinglist Giesbert Damaschkes, auf der sich interessierte Schmidtforscher und -leser seit etwa 10 Jahren über Neuigkeiten via Internet austauschen und die Literatur ihres Lieblingsautors diskutieren. In der Tat war es an der Zeit, dass auch der "BB" die Möglichkeiten der Digitalisierung zu einer Forcierung seiner eigenen Rezeption nutzte: "Jetzt [...] hilft uns in ganz enormem Maße die Elektronik, die nicht nur poetische Texte, sondern eben auch Texte der Forschung erschließt. Bis in die Details liefert uns nun die Volltextsuche Ergebnisse und gibt uns die 'Kontrolle' darüber, wo von Wörtern bis Motiven, von Themen wie Begriffen im 'Bargfelder Boten' die Rede ist oder war", freut sich Drews. "Die Kombination von Volltext- und Stichwortsuche auf der vorliegenden CD-ROM macht den Umgang mit der ganzen verwinkelten Fülle des Materials des 'Bargfelder Boten' so sehr viel leichter, man spart so viel Kopfzerbrechen und Zeit, dass man doch - mit etwas ironischem Pathos gesagt - an den so oft geschmähten Fortschritt zu glauben beginnt."

Schade ist allerdings, was in der User-Szene auf der ASml bereits zu vielfältigen Beschwerden geführt hat - dass nämlich die CD-ROM überhaupt nicht jenen technischen Standards entspricht, die vergleichbare Produkte mittlerweile in der Regel bieten. Eine solche Ausgabe etwa mit einer Funktion zu versehen, mit deren Hilfe man in den Text der Ausgaben hineinschreiben und diese Änderungen auch noch speichern kann - das ist ein wahrlich kurios zu nennender Programmierfehler. Kein Wunder, dass dies unter fanatischen Schmidtianern bereits zu ähnlichen Empörungsbekundungen geführt hat, wie sie sonst höchstens noch bei Islamisten denkbar wären, denen man eine Ausgabe des Korans in Bleistiftschrift mit beigefügtem Radiergummi am Lesebändchen überreichen würde.

Wie dem auch sei - dass es diese digitale Ausgabe nun gibt, ist trotz alledem als veritabler Meilenstein für die zukünftige Schmidt-Forschung zu begrüßen. Und für die kommenden Ausgaben des "BB" möchte man sich wünschen, dass ihnen die Erkenntnisse, die ein auf solche Weise erleichterter Rechercheüberblick verschafft, zugute kommen werden.


Titelbild

Jörg Drews (Hg.): Bargfelder Bote auf CD-ROM. Lieferung 1-300.
edition text & kritik, München 2007.
49,50 EUR.
ISBN-13: 9783861506966

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