Leben der Sinne und nature morte

Niklaus Largiers Untersuchung zur Kunst des Begehrens zwischen Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch hat die - zugegebenermaßen hohen - Erwartungen der Rezensentin nicht erfüllt, sondern die Lektüre wuchs sich mehr und mehr zu einer Enttäuschung aus. Dafür mag es nun (mindestens) zwei Gründe geben: Entweder waren die an das Buch gestellten, vom Klappentext provozierten Erwartungen unangemessen - oder aber: die Erwartungen waren durchaus angemessen, wurden aber inhaltlich oder formal nicht erfüllt. Beides trifft im Hinblick auf die Lektüre von "Die Kunst des Begehrens" zu.

Verführung, Begehren und Intensität seien, so die Verlagsankündigung, nie unmittelbar zu haben, sondern artifiziell, raffiniert und kunstvoll inszeniert. In vierzehn Kapiteln entfalte Niklaus Largier diese These und illustriere sie mit Beispielen aus Kulturgeschichte, Literatur, Kunst und Film. Der Bogen, den er spanne, reiche von der Evokation verführerischer Bilder in mittelalterlichen Heiligenviten bis zu den Filmen von Luis Buñuel und der Literatur von Charles Baudelaire, Joris-Karl Huysmans und Georges Bataille, von den geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola bis zu den pornografischen Fantasien des Marquis de Sade, vom Kunstgenuss frühneuzeitlicher Stillleben bis zum Kult sinnlicher Erfahrung in der postmodernen Küche.

Das Thema des Buches sei der Kult exquisiten, dekadenten Genusses: die exzentrische Lust an ausgewählten Delikatessen, die Vorliebe für sinnliche Vergnügen, der legendäre Genuss einer Flasche Chateau d'Yquem mit Roquefort, die vom "Stabat Mater" ausgelöste Stimmung exquisiter Wehmut, eine laszive Berührung, und, vor allem, die lange Geschichte dieser Lust in der Askese, die im Urteil der aufgeklärten Moderne als "überreizt" bezeichnet worden sei.

Der Autor Niklaus Largier, Professor für deutsche Literatur an der University of California, Berkeley, ist ein ausgewiesener Kenner der Geschichte der deutschen Mystik und Herausgeber der Werke Meister Eckharts im Deutschen Klassiker Verlag. Im C. H. Beck Verlag erschien von ihm im Jahr 2001 eine Kulturgeschichte der Erregung: "Lob der Peitsche".

"Die Kunst des Begehrens" übernimmt - in überarbeiteter, veränderter und ergänzter Form, wie die editorische Notiz bemerkt - Texte, Gedanken und Formulierungen, die Largier an anderer Stelle in ihren Grundzügen mit reicheren Verweisen auf die Forschungsliteratur entwickelte. Genannt werden unter anderem seine Aufsätze "Inner Senses - Outer Senses: The Practice of Emotions in Medieval Mysticism" (2003), "Schrift als Ereignis. Zur Inszenierungsstruktur mittelalterlicher Liturgie" (2003), "Tactus spiritualis" (2004), "Präsenzeffekte. Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung" (2005) sowie "Rhetorik des Begehrens. Die 'Unterscheidung der Geister' als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität" (2005). Vor dem Hintergrund dieser Forschungs- und Publikationsschwerpunkte Largiers werden auch die Ausführungen der vorliegenden Studie transparenter und sehen sich in ein Bedingungsgefüge implementiert, das sich wesentlich von aktuellen kulturwissenschaftlichen Begrifflichkeiten und Paradigmen, wie beispielsweise denen des Ereignisses, der Inszenierung und der Präsenz, her schreibt.

In seiner Einleitung "Künstliche Welten, oder: Apologie des Verrats" intoniert Largier "die essayistische These dieses kleinen Buches": Der Verrat an der Natur sei zu preisen, weil dieser Verrat - und ein produktiver Begriff der Entfremdung - überhaupt erst die Möglichkeit intensiven Genusses schaffe, der sich in der Natur und im Alltag einniste. Freiheit des Genusses und intensives Erleben entstünden lediglich in der Herausforderung der Natur und der so genannten natürlichen Identität. Es sei das irreduzibel Partikuläre, das Einzelne, nicht das Vernünftige oder Natürliche, das beschworen werde und dessen Bedeutung ganz im Ereignis des Genießens aufgehe.

Im Unterschied zum gängigen Lob des Natürlichen, des Authentischen und der angeblich wahren Identität werde hier die Geschichte des Plädoyers für die Entfremdung des Gewohnten, für die Hochschätzung des Artifiziellen, für den Verrat an der Natur und für die verführerische Kraft überwältigender Imagination erzählt. Es sei die Geschichte der Kultivierung des Genusses, der sich nicht der Natur verdanke, sondern der Stilisierung, der besonderen Zubereitung, der Rahmung in bewusst außergewöhnlicher Umgebung. Dass diese Geschichte gleichzeitig bei der dekadenten Literatur und der christlichen Askese ansetze, möge man als willkürliche, vielleicht ironische Geste betrachten. Man könne von einer Geschichte der Geburt der Sinnlichkeit aus dem Geist der Askese sprechen, die sich jenseits - oder vielmehr: diesseits - von Natur und Vernunft ansiedele. Diese frivole Verbindung werde von den dekadenten Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts vielfach betont. Es überrasche nicht zu sehen, wie eng verwandt Askese und Dekadenz seien. Gesättigt vom Wunsch nach einer nie möglichen Unmittelbarkeit der Erfahrung, nach vollkommener sinnlicher Intensität des Genusses, lasse sich beides paradoxerweise nicht voneinander trennen. Dies hänge damit zusammen, dass Askese und Dekadenz alle intensive Erfahrung nicht in der Natur ansiedelten, sondern von technischen Verfahren, von mechanischen Inszenierungen und vom geschickten Einsatz rhetorischer Mittel abhängig machten. Im dekadenten Kult des Genusses wie auch in der asketischen Herausforderung der Natur liege das Gewicht auf der Verwandlung des Menschen und der Welt ins Artefakt und Spektakel.

Die Verwandlung in ein Artefakt, die Metamorphose in ein Kunstwerk sei es, was in der Zurückweisung aller als natürlich etablierten Verbindlichkeiten und im Spiegel des Begehrens eine Intensität entstehen lasse, die sich nicht der Natur, sondern allein kunstvoller Inszenierung und Dramatisierung verdanke. Überschritten würden das Alltägliche und das bürgerlich Geordnete der Wahrnehmung, die realistische und materialistische Welt. Inszenierung, Dramatisierung und Artifizialisierung setzten dabei oftmals mit der bewussten Konstruktion eines Ortes, mit einer gewollten Absonderung im stilisierten und die Regeln des Sozialen durchbrechenden Raum ein: der Eremitei in der Wüste Thebais, der Zelle des Mönchs im entlegenen Alpental, dem isolierten Landhaus in Fontainebleau, dem Studierzimmer des Gelehrten oder der Szene im Film. Die karg ausgestattete Mönchszelle sei darin dem abgedunkelten Raum der Chambre séparée durchaus vergleichbar: Beide seien stilisierte Räume, Orte künstlich induzierter Erregung, Medien zur Herstellung bestimmter Erlebnisse, in denen das Medium zur neuen Welt werde.

"Künstliche Welten, oder: Apologie des Verrats" exponiert die zentralen thematischen Leitlinien (wie Askese und Dekadenz, Sinnlichkeit und Inszenierung) sowie die formal-methodischen Charakteristika (Essayismus und Eklektizismus als Methoden der Erkenntnisgewinnung und -vermittlung) der Untersuchung Largiers und führt selbstreflexiv eine sich dem Leser/der Leserin bereits aufdrängende Problematisierung des gewählten Verfahrens an: "[V]ielleicht allzu eklektisch" würden Stationen einer Strategie benannt, die innerhalb der geordneten Welt gegen die Verbindlichkeit der Natur und die Rhetorik des Natürlichen einen positiven Begriff des Simulakrums entstehen lasse, der im Zeichen nicht des Realen, sondern einer endlosen Vervielfachung der Möglichkeiten stehe.

In Kapitel 2 untersucht Largier Buñuels Film "Simón del desierto" im Hinblick auf den dort thematisierten Abschied von der Natur und die Kontamination der Welt durch die Imagination. Der Film stellt das Leben des syrischen Eremiten Symeon Stylites dar, der vierzig Jahre auf einer Säule in der Wüste verbracht haben soll. Bereits in den ersten Szenen des Films, so Largier, werde eine komplexe Form filmischer Erzählung sichtbar, in deren Zentrum nicht bloß eine von Ironie gezeichnete historiografische Rekonstruktion, sondern vielmehr ein Akt der Imitation stehe: Simón begegne hier nicht als der spätantike Symeon, sondern als ein Zeitgenosse, der in seiner asketischen Praxis dem Exempel des berühmten frühchristlichen Säulenheiligen folge. Im Film vollzieht sich eine vielfache Überlagerung von Realem und Surrealem, es überkreuzen sich die Perspektiven, ohne dass das eine vom anderen klar geschieden, das Imaginäre vom Realen getrennt werden kann. Was Buñuel interessiere, bemerkt Largier, sei nicht primär eine Biografie, sondern der Akt der mimetischen Nachahmung und der Produktion des visuellen Raumes. Simón produziere sich selbst und seine Welt im Wunsch nach der Nachahmung des Symeon. Das Gebet sei die grundlegende Geste seiner Performance, in der er zum Abbild des von ihm verehrten Heiligen werde. Aus dem Gebet gingen auch die Modellierung des Ortes und die komplexen Konfigurationen hervor, in denen die Austerität der Wüstenlandschaft mit der Naivität Simóns in seinem Begehren nach Gott zusammenträfen. Alles beziehe sich auf diesen Akt, durch den der Heilige sich selbst stilisiere und darstelle. Intensität des Erlebens sei das Ziel seiner asketischen Praxis, nicht Bedeutung oder gar die Entdeckung unbewussten Sinns. Was Buñuel hier vorführe, sei die Produktivität der Imagination im Blick auf die Metamorphose des "Realen" und "Rationalen". Das bedeute, dass die Bilder gezielt von der Natur entfremden und ihre Transfiguration evozieren sollten. Dies entfalte sich dort, wo der Film einen artifiziellen Wahrnehmungsraum produziere, in dem sich die surreale Überformung der Natur durch die produzierten Bilder vollziehe. Buñuels Film statuiere ein Exempel dafür, dass es keine asketische Praxis gebe, die nicht auch die diabolische Ästhetik absorbierender Sinnlichkeit entstehen lasse. Askese sei immer als Evokation und Animation eines Bildes zu sehen und die asketische Übung könne nie "wirklich rein" sein. Kein Bild sei endgültig, sondern animiere immer neu die Imagination und rufe weitere Bilder hervor.

Das Motiv der Herausforderung der Natur durch die Konstruktion künstlicher Wahrnehmungsräume beschäftigt Largier auch im folgenden Kapitel "Gegen die Natur", das Huysmans' Roman "À rebours" zu seinem Gegenstand hat. Mit "À rebours" nehme Huysmans Bezug auf eine mittelalterliche Tradition neu konstruierter Wahrnehmung und animierter Sinnlichkeit: Die mittelalterliche Innen/Außen-Unterscheidung sei neu als eine an den Sinnen orientierte Ästhetik zu verstehen, die auf eine Transformation der Welterfahrung und der Sinnlichkeit abziele. Fesselnd daran sei, dass der ästhetische Sensualismus, der zur Sprache komme, nicht an die Erfahrung einer empirischen Realität oder einer verlorenen Natur gebunden werde. "Innen" bedeute hier nicht "innen", wie auch "außen" nicht "außen" bedeute. "Innen" und "außen" bezögen sich vielmehr auf Modalitäten medial produzierter Wahrnehmung, wobei "außen" die alte, natürliche, sozial etablierte Wahrnehmungsform meine, "innen" hingegen die neu konstruierte, artifiziell vermittelte, befreite Form. Die ästhetizistische Lebensform des Protagonisten des Esseintes erlaube nur noch eine artifizielle Produktion von Welt- und Erfahrungszuständen innerhalb eines kunstvoll geordneten Erfahrungsraumes. Alles, was sich darin ereigne, beruhe auf der Wirkung von Texten, Bildern und anderen die Sinne und die Einbildungskraft anregenden Artefakten. Jean des Esseintes werde, wie Buñuels Simón, in seinen mimetischen Akten selbst zum Teil eines lebenden Bildes, das er evoziere und mit dem er die Welt besetze. Gleichzeitig führe er exemplarisch vor Augen, was man als "Geburt der Sinnlichkeit aus dem Geist der Askese" bezeichnen könne. "Welt" werde hier nicht empirisch am Gegenstand erfahren, sondern in der Inszenierung selbst zur puren Erfahrung.

Angesichts der Konstruktion der bildhaften Räume, die Huysmans dem Erleben seines Protagonisten zugrunde lege, führt Largier im vierten Kapitel aus, könne man durchaus von einem "Skript" sprechen, das seinerseits auf die Technik der "compositio loci" und der "applicatio sensuum" - die "Komposition des Ortes" oder die "Zurichtung des Ortes mit Anwendung der Sinne" - rekurriere, eine Technik, die der Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola wenn nicht erfunden, so doch in seinen "Geistlichen Übungen" im 16. Jahrhundert erstmals definiert und systematisch entfaltet habe. "Anwendung der Sinne" bedeute, dass der aufgrund der Schriftlektüre konstruierte Wahrnehmungsraum nicht nur den narrativen Gehalt der Schrift theatralisch rekonstruiere, sondern dass dieser Gehalt sich in eine Vielfalt der Sinnenwahrnehmungen und Affekte unmittelbar übersetze - und zwar so, dass die Möglichkeiten der affektiven und emotionalen Stimulierung durch Praktiken analogisierender Übertragung evoziert würden. Ignatius beziehe sich auf ein Modell des Verständnisses menschlicher Wahrnehmung, das nicht auf Seelenkräfte und eine Physiologie der Sinne abhebe, sondern auf Erlebens- und Erfahrungsmöglichkeiten. Diese würden damit im Blick auf ihre mediale Konstitution und Modifizierbarkeit gefasst.

In Kapitel 5 seiner Studie entfaltet Largier die Bezugspunkte beziehungsweise Bezugstexte von Loyolas Technik der Applikation der Sinne, auf die auch Huysmans rekurriere. Die wichtigste unmittelbare Quelle der "Geistlichen Übungen" sei ohne Zweifel in der spätmittelalterlichen "Vita Christi" Ludolfs von Sachsen zu sehen. Durch Ludolfs Meditationsbuch, aber auch vermittelt durch andere Texte, kenne Ignatius eine Tradition geistiger Übung und kontemplativer Praxis, die dezidiert die Bedeutung der Sinneserfahrung betone. Im Zentrum der praktischen Bedeutung der Sinneserfahrung im kontemplativen Gebet, von der diese Tradition spreche, stehe die Lehre von den "geistigen" oder "inneren" Sinnen. Diese Theorie der inneren Sinne gehe nicht von einer (aristotelischen) Psychologie der Vermögen aus, sondern von einer Phänomenologie der aisthesis, das heißt, vom Umgang mit der sinnlichen Erfahrung von Welt und Schrift. Die Sinne würden hier als Medien der Erfahrung begriffen, die von einer rhetorischen Inszenierung abhängig seien und inmitten der alltäglichen Welt artifiziell modifiziert und stimuliert werden könnten. Die Praxis der "geistigen" Sinneserfahrung ziele auf die Entgrenzung der Sinnlichkeit in der Erfahrung der Intensität, der artifiziellen Amplifikation, des Genusses ab.

In Kapitel 6 seines Buches veranschaulicht Largier die Verbindung zwischen "Fragen der Sinnlichkeit" beziehungsweise einer "Lehre der inneren Sinne" und der "negativen Theologie", wobei er eine "Phänomenologie sinnlicher Wahrnehmung" skizziert, die sich über Begriffe wie theatralische Performance, Inszenierung, Erfahrung und Medium/Medialität, Rhetorik der Herstellung von Präsenzeffekten, Dramatisierung der Sinnlichkeit, Virtualität und Artifizialität definiert sieht und in der dem Raum als Medium einer phänomenologischen Exploration der Sinneserfahrung ein exponierter Stellenwert beigemessen wird. Immer neu - "bildhaft verkörpert in Simóns Säule, in der Wüste, der Mönchszelle, und in Jean des Essaintes' [sic!] kunstvoll gestalteten Räumen" - werde ein Möglichkeitsraum produziert, in dem die Geste der Distanz die Positivität buchstäblich genommenen Weltwissens aushöhle und einen Freiraum der Erfahrung schaffe. Man könne von einer "Verlebendigung" möglicher Sinneserfahrung sprechen, insofern diese nun nicht mehr nur von Objekten der Erfahrung zeuge, sondern inszeniert und in ihrer Intensität und der damit verbundenen Affektivität genossen werde. Es würden so ästhetisch-sinnenhafte Bewusstseinszustände erschlossen, durch die Seele und Welt als solche neu Gestalt annähmen.

Die beiden folgenden, als "Exkurse" zu verstehenden Kapitel seines Buches beschäftigen sich mit dem Stillleben als Gattung der Malerei und mit "Bildern kulinarischer Versuchung": "Delikatessen". Von grundlegender Bedeutung sei im Hinblick auf das Stillleben vor allem das Engagement der Sinne, das dieses Genre oft buchstäblich einfordere. Schale, Krug und Vase, Obst und Blumen evozierten das Faktum, dass alle Sinnlichkeit nicht nur zeitlich und vergänglich sei, sondern immer schon in Formen der Inszenierung und der medialen Produktion eingebettet und daraus hervorgehend. Es gehe um die Transfiguration der Sinnlichkeit in Genuss und um den performativen Aspekt der Allegorie. Aller Genuss, so sei zu schließen, sei kunstvoll geformte Wahrnehmung, in der sich die Tradition der Vermittlung der Sinnlichkeit spiegele und in der sie zugleich akkumuliere. Gerade die Küche und die Kochkunst seien privilegierte Orte, wo die Natur zum Artefakt umgewandelt werde und die Sinne im Genuss gleichzeitig neu geformt und befreit würden. Dies geschehe vor allem, aber keineswegs nur in der Tradition der Haute Cuisine und in den Reminiszenzen aristokratisch repräsentativer Tischkultur.

In "Dramatik der Versuchung", dem neunten Kapitel, führt Largier weitere Punkte zur Charakterisierung des von ihm bereits eingeführten "Skript"-Begriffs an. Die rhetorische Praxis, auf die Buñuel und Huysmans sich bezögen, rekurriere nicht allein auf das Skript der Applikation der Sinne, auf die auch das Stillleben und die kulinarische Kunst zu beziehen seien. Sie bette die Evokation der Sinne vielmehr in andere, ebenfalls der monastischen Tradition entnommene Skripts ein, die einen Rahmen der Dramatisierung bildeten. Ein weiteres exemplarisches Skript, dem eine überragende Bedeutung zukomme, sei die Geschichte des Heiligen Antonius, insbesondere die oft nacherzählte und bildhaft reproduzierte Szene der Versuchung des Antonius durch die Dämonen. Sie gebe die Vorlage für eine Dramatisierung ab, die das Paradigma der Applikation der Sinne ergänze. Die Antoniushagiografie könne schon in ihren frühesten Formen als exemplarische Figur agonaler Inszenierung gelesen werden, die auf die Produktion einer neuen Gestalt des Menschen durch die als Drama vorgestellte Transformation der Sinnlichkeit abziele. Die exemplarische Szene, welche die Antoniusvita abgebe und zum Vorbild asketischer Imitation mache, beinhalte drei Elemente, die uns auch bei Buñuel begegneten: Die Isolation in der Wüste und die Konstruktion eines Wahrnehmungsraums durch die Praxis des Gebets; die Evokation der Bilder, die diesen Raum füllen; die Ambivalenz, die den Bildern zu eigen ist, da sie sich letztlich als dämonische Verkörperung erweisen. Antonius werde zum Teil eines lebenden Bildes, seien es doch seine mimetischen Akte, die ihn selbst als Asketen und dabei auch die dämonische Umgebung entstehen ließen. In Buñuels und Huysmans' Verwendung des Antoniusmodells nun würden die Applikation der Sinne und die Evokation von Affekten in entscheidender Weise neu gefasst. Man dürfe dabei jedoch nicht von einer reinen Ästhetisierung sprechen, die den spirituellen Gehalt tilge und einer "Säkularisierung" opfere. Vielmehr sei die Produktion intensiver sinnlicher und affektiver Erfahrung gekoppelt an das Antonius-Skript, insofern hier die dramatische Überschreitung der Natur in entscheidender Weise zum Ausdruck komme.

Das Drama, das sich im Leben eines Antonius, einer Teresa, eines Simón und Jean des Esseintes abzeichne, legt Largier in den Kapiteln 10 und 11 dar, sei "ein Drama maßlosen Begehrens". Im Rückgriff auf die mittelalterliche Tradition der Stimulierung durch Bilder entfaltet Largier Techniken der Animation der Sinne und der Dramatisierung des Plots sinnlichen Erlebens. Die Kunst des Begehrens stehe nicht nur im Zentrum der Heiligenleben und der pornografischen Adaption des Modells mittelalterlicher Hagiografie, sondern auch der dekadenten Kultur des Genusses. Zu konstatieren sei die enorme Tragweite eines Modells der Selbstwahrnehmung, das auf einer Rhetorik des Begehrens beruhe, die, in verschiedenen Formen, von der Spätantike bis in die Frühe Neuzeit als christliche Praxis der Stimulierung des Begehrens, als Phänomenologie der Emotionen und der Sinneswahrnehmung, schließlich im Spätmittelalter auch als normativer Diskurs der Kontrolle des Begehrens Gestalt angenommen habe. Emotionalität und sinnliche Wahrnehmung seien auch hier nicht naiv-empirisch als primäre, unmittelbare Formen der Selbst- und Welterfahrung zu verstehen, sondern als immer schon vermittelte, medial erzeugte Formen habitueller Spontaneität, in denen Passionen und Affekte subjektiv Gestalt annähmen.

In den abschließenden Kapiteln seiner Untersuchung setzt Largier sich weiter mit der von ihm skizzierten "Rhetorik des Begehrens" auseinander, die Formen von Subjektivität entstehen lasse, die durch eine in hohem Grade komplexe emotionale und sinnenhafte Wahrnehmungsintensität charakterisiert seien, welche sich der externen - rationalen, kirchlichen, dogmatischen - Kontrolle permanent zu entziehen drohe. Das "Theater des Genusses" sei ohne das "Theater des Schreckens" nicht zu haben, was das Exempel der Antoniusvita deutlich mache, in deren Zentrum die notwendige Verbindung der Artikulation von Himmel und Hölle stehe. So zeigten sich die "Welt der Dämonen und Monster" sowie die "Disartikulation der Natur" eng mit der beschriebenen Rhetorik des Begehrens verknüpft. Die asketische Praxis, die auf eine Stilllegung aller geistigen Unruhe abzuzielen scheine, provoziere das Gegenteil davon. Sie lasse tiefste Unruhe, überwältigende Imagination, endlose Vervielfältigung verführerischer Gedanken entstehen. Der Gang in die Wüste evoziere die Monstren. Ohne die Travestie, ohne das Medium der disartikulierten Natur und der Monster sei keine Intensität des Begehrens und Genusses denkbar, denn diese sei nur greifbare Form der Herausforderung aller scheinbar natürlichen Ordnung.

Die Welt der Monster, die der asketischen Praxis des Antonius und seiner Nachfolger entspringe, sei eine Welt, in der keine Versöhnung herrsche, sondern alle Lust im Genuss einer versprochenen Erfüllung des Begehrens sogleich wieder die Fratzen der entstellten Natur vor sich sehe. Daraus folge indes gerade nicht, so Largier abschließend und in Anknüpfung an sein Einführungskapitel, die Verpflichtung, sich von dieser Logik der Ästhetisierung und des Scheins abzukehren: Die asketische Lehre ziele vielmehr darauf, keinem Ding, keiner Repräsentation und keiner vorgeblichen Präsenz zu trauen. Sie tue es nach Huysmans und der dekadenten Kultur des Genusses dadurch, dass die Natur immer neu herausgefordert, jedes Ding artifiziell zum Genuss zugerichtet und so in seiner "Natürlichkeit" überfordert werde. Man möge das Vorhaben seiner Studie als "zutiefst unmoralisch" empfinden, scheine es doch preiszugeben, was als Postulat der Einheit von Natur und Vernunft oder als Kontrolle der Natur durch kritische Vernunft moralisches Handeln oft begründen solle. Dies sei in der Tat der Fall. Das moralisch Gute, so wolle er im Anschluss an die vorgestellten Texte argumentieren, komme aus der Perspektive des Kults sinnlicher Erfahrung nur als Absurdität, als "credo quia absurdum" zustande. Es werde als Höhepunkt des Artifiziellen gewollt. Was dabei auf dem Spiel stehe - nämlich die Herausforderung etablierter Verbindlichkeiten - geschehe in Gesten der Distanzierung: Im asketischen Rückzug von Haus, Heim und Familie, in der Absetzung von der Natur, im amoralischen Kult der Künstlichkeit, der dem Begehren Gestalt zu geben suche und dabei in den Fratzen der Natur mit dem Genuss immer auch das Monströse, Böse evoziere. Was in seinen Ausführungen zur Darstellung gekommen sei, lasse sich als - durchaus ernstes, gleichzeitig frivoles und riskantes - Spiel beschreiben, das in Techniken der Herstellung künstlicher Paradiese gleichzeitig auf scheinbar verbindlich gegebene Konturen der Welt abziele und diese in heiterer Überforderung auflöse. Dabei rette keine Dialektik vor dem Abgrund, der sich hier auftue.

Die vorliegende Rezension startete mit dem Konstatieren eines Gefühls der Enttäuschung über das besprochene Buches. In inhaltlicher Hinsicht liegt diese Enttäuschung sicherlich vor allem in dem hohen Stellenwert begründet, der dem Rekurs auf christliche Askese und mittelalterliche Heiligenviten eingeräumt wird. Weder Verlagsankündigung noch Klappentext ließen diesen in "Die Kunst des Begehrens" bei Weitem zu stark ausgereizten thematischen Schwerpunkt vermuten. Wünschenswert wäre dagegen der Ausbau der Ausführungen zur Dekadenzliteratur gewesen: Welch reiches Sammelsurium bietet hier das literarische Panorama des fin de siècle, jener durch eine ausgeprägte Spätzeit- und Krisenstimmung gekennzeichneten Epoche, die mit einem höchst raffinierten Geschmack an allen Formen und Facetten von "Degeneration" und "Dekadenz" einherging! Welten aus Sinnlichkeit und Imagination werden hier, in der Autonomsetzung der Vorstellungskraft und in Konzepten des Konstruktiven, freigesetzt und literarisch entfaltet. Über den kanonischen und somit kaum überraschenden oder Neues beschreibenden Rückbezug auf die "Bibel der Dekadenzliteratur", Huysmans' "À rebours", hinaus hätten Texte von Maeterlinck, Wilde, Rilke, Rachilde, Moréas und Bourget, George und Przybyszewski - um nur einige zu nennen - zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden können, um das sinnliche Plateau, die Thematik eines Begehrens zwischen Dekadenz, Askese und Sinnlichkeit, vollendet zu illustrieren. Das fehlt dem Buch und ist einer der Hauptgründe für die Enttäuschung der Rezensentin.

Ein weiterer Grund für den während des Lesens sich verstärkt einstellenden Unmut liegt in den zahlreichen Redundanzen des Largier'schen Textes begründet. Die in der Einleitung von Largier intonierten Begrifflichkeiten und terminologischen Formeln, die Erkenntnissubstrate und -essenzen erscheinen auf den folgenden 150 Seiten als die Geduld der Leserin arg strapazierende, überpointierte "Wiederkehr des Immergleichen", sodass die Studie letzten Endes zirkulär und konstellativ, nicht progressiv angelegt anmutet. Die Thematik des Buches ist überaus spannend, doch das straffe begriffliche, an den Anfang gestellte Korsett lässt den Text nicht wirklich atmen beziehungsweise zu einem eigenen Rhythmus, einer eigenen Bewegtheit finden. Text-, Film- und Bildquellen werden der (Erkenntnis leitenden) terminologischen Apparatur quasi einverleibt: Hier sind die Begriffe, dort werden sie gefüllt mit den reichlich vorhandenen Materialien, die deshalb stark funktionalisiert erscheinen: Hier die Erkenntnisapparatur, dort der einzuverleibende Gegenstand.

Die vorgenommene Parallelisierung von christlicher Askese und dekadenter Literatur erscheint in vielerlei Hinsicht nicht überzeugend. Es hätte hier eine stärkere Historisierung der Gegenstände erfolgen müssen. Die Modelle von Sinnlichkeit, die sich in der Dekadenzliteratur des fin de siècle finden, stehen selbstredend unter den Bedingungen der Moderne, unter den in ihrem Verlauf sich vollziehenden Veränderungen und Transformationen der Wahrnehmungsformen sowie der Textualisierungsverfahren. Auch wenn, Largier zufolge, eine Diffusion der Kategorien "real" und "imaginär" im Hinblick auf die ausgewerteten Quellen zu beobachten ist, erscheint es als zumindest problematisch, diese Diffusion auch auf der Beschreibungs- und Analyseebene fortzuführen. Denn ob Sinnlichkeit, Lust und Genuss im Kopf oder mit dem Körper "ausgelebt" werden, ob das Ausleben rein fiktiver oder konkreter Natur ist, ist immerhin kein unwesentlicher Unterschied (womit keine Wertung oder Hierarchisierung hinsichtlich der Kategorien "real" und "imaginär" verbunden sein soll).

Interessant ist die Bedeutung der Phänomene beziehungsweise Begriffe "Raum" und "Subjekt", die die Largier'sche Untersuchung als roter Faden durchlaufen. Bei einer anders gelagerten Struktur der Ausführungen hätte beiden durchaus jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet werden können oder müssen. Inwiefern sind Räume subjektiven Erlebens figürlich strukturierte phänomenale Räume, inwiefern ist für sie die Verwischung der Grenzen von Wahrnehmung und Vorstellung, von Erkenntnissubjekt und -objekt konstitutiv? Inwiefern ist eine Phänomenologie des synästhetischen Wahrnehmens und Empfindens von Raum notwendig gekoppelt an die Ausbildung einer nicht-dualistischen Subjekttheorie? Welche historische Genese durchlaufen Subjekt- und Raumbegriff - gerade auch bezüglich ihrer Literarisierung und Fiktionalisierung?

Auch bei großer Sympathie für essayistische, eklektizistische, spielerisch-freie und konstellativ angelegte Methoden und Verfahren der Erkenntnisgewinnung und -vermittlung bzw. Textanalyse und -produktion muss das von Largier für seinen Untersuchungsgang gewählte Vorgehen, von ihm selbst als "vielleicht allzu eklektisch" bezeichnet, als überaus problematisch betrachtet werden. Es erschwert die Lektüre des Textes in hohem Maße.

Die Lektüre des Textes wird außerdem von der begrifflich-diskursiv enorm hohen "Aufrüstung" des Textes erschwert. Fraglich ist, ob die applizierten kulturwissenschaftlichen Paradigmen wirklich erkenntnisdienlich sind oder ob sie dem Gegenstand vielmehr äußerlich bleiben und ihm gleichsam "aufgepfropft" werden.

Ein letzter Kritikpunkt: Eine Studie zur "Kunst des Begehrens zwischen Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese" lässt auf viel Sinnlichkeit, Genuss und Lust (am Text) hoffen, auf eine Sinnlichkeit der Sprache, die das im Thema angelegte Imaginationspotential voll ausschöpft. "Die verführerische Kraft überwältigender Imagination" verlangt nach einem seinerseits imaginativen, anregenden und sinnlich reizvollen Stil. Diese Sprachsinnlichkeit und Imaginativität aber lässt der Largier'sche Text gerade vermissen. Das Leser-Bedürfnis nach Genuss bleibt unbefriedigt, das textuelle "Delikatessen"-Panorama letztlich ein totes Stillleben, eine "nature morte".


Titelbild

Niklaus Largier: Die Kunst des Begehrens. Über Dekadenz, Sinnlichkeit und Askese.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
188 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406558085

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