Sinnspiel des Lebens

Renate Wagners literarische Reportage über den großen Fin-de-siècle-Schriftsteller Arthur Schnitzler

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur wenige wichtige Autoren des vergangenen Jahrhunderts haben so penibel über ihr Innenleben Buch geführt wie Arthur Schnitzler (1862-1931). Zu Lebzeiten publikumsscheu in privaten Dingen, vertraute er seinen Tagebüchern - mehr als achttausend Seiten - und manchen Briefen intimste Details seiner Seelenzustände, ja auch seines Sexuallebens an. Er war sich dabei durchaus bewusst, dass das alles die Nachwelt einmal lesen würde.

Es gibt schon einige ausgezeichnete Arthur-Schnitzler-Biografien jüngeren Datums (von Giuseppe Farese, Hartmut Scheible, Ulrich Weinzierl, Konstanze Fliedl und anderen), von den unzähligen monographischen Darstellungen einmal abgesehen. Warum nun noch eine Biografie zum 75. Todestag des Schriftstellers? In der Tat ist in den letzten Jahren vieles aus dem Nachlass Schnitzlers publiziert worden, was das Schnitzler-Bild erweitert und verändert hat: der Briefwechsel mit Dichterkollegen, zwei Briefbände und vor allem die Tagebücher in zehn Bänden. Die haben allerdings auch schon andere Biografen zur Kenntnis genommen. Was aber das Besondere der neuen Publikation der Sachbuchautorin und Kulturjournalistin Renate Wagner ausmacht, ist, dass sie schon vor einem Vierteljahrhundert entstanden ist, als ein Großteil der autobiografischen Zeugnisse Schnitzlers noch nicht gedruckt war. Was die Autorin damals ausführlich erzählt und zitiert hat, ist heute "aus erster Hand" greifbar. So hat sie ihre Biografie umstrukturiert, an der damals getroffenen Entscheidung allerdings festgehalten, "das Leben chronologisch zu erzählen, wie es gelebt wurde, und es nicht in Einzelthemen zu zerlegen". Ihr Anliegen begründet sie so: "Im Alltag des Lebens verschränkt sich alles, Privates und Berufliches, Begegnungen und künstlerische Eindrücke, Außenwelt und Innenwelt. Und auch das, was das Ergebnis eines Dichterlebens ausmacht, nämlich die Werke, erwächst aus der Fülle des Lebens und nicht aus der theoretischen Zergliederung, die Interpreten unternehmen".

Eine gewisse Theorieverdrossenheit kann man auch ihrer Biografie entnehmen. Es gibt keine ausführlichen Analysen - nicht einmal der Hauptwerke -, sondern der einzelne Text wird jeweils in den biografischen Zusammenhang eingeordnet. Die Verfasserin unternimmt auch keine zeit- und kulturgeschichtlichen Ausflüge in die Gesellschaft des Fin de Siècle und der Wiener Moderne, der untergehenden Habsburgermonarchie und der 1. Republik, sondern sie verweilt "ganz eng an der Figur Schnitzlers". Das ist ihr gutes Recht, zumal es ihr mehr um eine literarische Reportage über ein Dichterleben als Lebensdokument geht, um ein Sachbuch, das sich, aufgeteilt in Skizzen und kurze Abschnitte, um Authentizität bemüht und allem wissenschaftlichen Anspruch - dem Nachweis von Zitaten, der Notwendigkeit von Anmerkungen oder einer Bibliografie - abhold ist. Diese publizistisch gut aufbereitete Biografie ist weniger für den Spezialisten geschrieben, sondern mehr für den interessierten Laien. Sie soll erzählend Spannung vermitteln, lebt von den Events des Schnitzler-Lebens, ohne dabei in Klischees zu verfallen. Ja, diese Klischees will Renate Wagner ausdrücklich attackieren: "die Reduktion seines Werks auf einen Lebemann 'Anatol', der sich mit 'süßen Mädeln' 'Liebeleien' hingibt und sich in einem golddurchwirkten Fin-de-Siècle in einem immerwährenden 'Reigen' lockender Sexualität bewegt...".

Geboren 1862 in Wien, gestorben 1931 in Wien. Dazwischen liegt eine Schriftstellerkarriere, die vor dem Ersten Weltkrieg, als man Schnitzler den berühmtesten österreichischen Dramatiker nannte, ihren Höhepunkt erreichte. Mediziner wie sein Vater - für Arthur Schnitzler "Leitfigur und Trauma"-, hatte er sich nach dessen frühem Tod nur mehr dem Schreiben gewidmet, blieb aber dem Berufsethos der scharfen Beobachtung und diagnostischen Präzision weiter verpflichtet. In der Jugend ein typisch Wiener Lebemann, wurde er nach einer späten Eheschließung ein verantwortungsbewusster Familienvater. In den 1890er-Jahren war er Mitglied des "Jungen Wien", der neuen literarischen Avantgarde in Österreich, und damit Kollege und Freund der wichtigsten zeitgenössischen Autoren. Als Jude repräsentierte Schnitzler eine Wiener Bildungselite, die, in der zweiten Generation assimiliert, die kulturelle Innovation in der späten Habsburgermonarchie vorantrieb. Alles das deutet wohl auf eine zeit- und kulturtypisch modellhafte Figur mit einem intakten Leben hin.

Aber Renate Wagner macht deutlich, dass von einer Geradlinigkeit - und damit von einer leichten Erzählbarkeit - dieses Lebenslaufes überhaupt nicht die Rede sein kann. Kein Faktum von Schnitzlers Biografie ist ungebrochen und unversehrt geblieben. Er hat unter Problemen, Konflikten und Krisen mehr als genug gelitten. Die Identität als Schriftsteller entwickelte sich spät, führte dann zwar auch zu großen Erfolgen, fiel aber nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie stetig ab und war außerdem immer schon von scharfer, mitunter hämischer Kritik begleitet. Er war zwar selbst weder gläubig noch zionistisch-patriotisch, musste aber seit den 1890er-Jahren bösartige antisemitische Angriffe hinnehmen. Nach jahrelangen zermürbenden Auseinandersetzungen wurde Schnitzlers Ehe 1921 geschieden, die Tochter erschoss sich 1928, seine Einsamkeit nahm rapide zu, ehemalige Verbündete und Vertraute gingen andere Wege. Die Schwierigkeiten, die er mit der Selbstdefinition hatte, verweisen gerade auf die Umwege und Brüche in seiner Lebensgeschichte.

"Ich meine, ich habe Sie gemieden aus einer Art Doppelgängerscheu... Ja, im Grunde Ihres Wesens sind Sie ein psychologischer Tiefenforscher", schrieb Sigmund Freud an Schnitzler. So gesehen stellt sich seine Novellenkunst um die Jahrhundertwende als eine Neuerung der realistischen Erzählkunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar. Traumelemente und die Gewalt des Unbewussten spielen in seinen Werken eine tragende Rolle. Darüber erfahren wir aber zu wenig in Renate Wagners Buch.

Dagegen werden die Beziehungen Schnitzlers zu Frauen ausführlich dargestellt: Zur Jugendliebe Franziska Reich, zum "Abenteuer seines Lebens" Olga Waissnix, zum "süßen Mädel" Jeannette Heger, zu Mizi Glümer, die er als die "erbärmlichste Dirne" beschimpfte, zur emanzipierten Adele Sandrock, die ihm erstmals als ebenbürtige Partnerin Paroli zu bieten wusste, zu Maria Reinhard, die ihm ein Kind tot gebar und dann selbst starb, so dass er sie nicht zu heiraten genötigt war. Olga Gußmann besaß dann die Gabe, nach der Geburt eines Sohnes den 41jährigen Schnitzler in die Ehe zu zwingen, was sie allerdings mit permanenten Streitigkeiten bis zur Scheidung 1921 bezahlen musste. Das liest sich zwar höchst spannend, zumal vieles von diesen persönlichen Erlebnissen Schnitzlers in seine Literatur eingeflossen sind, aber wenn dann bei Wagner für die Hauptwerke nur wenige Seiten zur Verfügung stehen, meist auch der "Skandal" um das Werk und weniger dessen Gehalt und Form im Vordergrund steht - dann scheinen die Proportionen dieser Biografie nicht ganz zu stimmen.

"Leutnant Gustl", das wohl berühmteste Werk Schnitzlers, in dem er die Technik des inneren Monologs zum ersten Mal in der deutschsprachigen Literatur angewandt hat, wird auf einer guten Seite abgehandelt, der Skandal um die Novelle auf zweieinhalb Seiten. Das einmalige sozialpsychologische Experiment dieser Monologerzählung, die ihrem Verfasser die Offizierscharge kostete, bleibt dem Leser verborgen: Denn dem k. u. k. Offizier Gustl wird die Chance gegeben, sein bisheriges Leben in Angesicht des Todes neu zu überdenken und Bilanz zu ziehen. Doch er nutzt den Bewusstseinsspielraum nicht, die tieferen Ursachen seiner Krise zu erhellen. Gustls militärisches Über-Ich wird nicht zum Bestandteil seiner moralischen Existenz, seines Gewissens, sondern zeigt ihn "außengesteuert". Kampflos überlässt Gustl dem Über-Ich das Feld. Das satirische "gute Ende" enthüllt die Experimentalsituation. Der Nachweis der Unbelehrbarkeit der Versuchsperson ist erbracht. Gustl wird zum unbeirrbaren Weiterwursteln als Gefangener seines Kastenbewusstseins verurteilt.

Die klassische Freud-Novelle "Fräulein Else", das Gegenstück zum "Leutnant Gustl", das Schnitzler ein Vierteljahrhundert später schrieb, bekommt knappe zwei Seiten. Dabei wirkt diese Prosa doch so revolutionär durch den neuen Erzählstil, in dem ausschließlich die Wahrnehmungen und Gefühle der Heldin wiedergegeben werden. Sie schockierte damals durch das Thema, das, wie Freuds "Unbehagen an der Kultur", neue Zusammenhänge zwischen dem erotischen Verlangen des Individuums und der gesellschaftlichen Moral herstellt.

Die "Traumnovelle", in der Schnitzler das Mögliche dem Wirklichen gegenüberstellt, bleibt mit etwas mehr als einer Seite Kommentar ebenfalls unterbelichtet. Denn hier hat der Schriftsteller den motivischen Ertrag seines fast ein halbes Jahrhundert umfassenden Werkes, die beständig wiederkehrenden Elemente seines Erzählens zusammengefasst. Im Traum tritt das Ich in seiner Spaltung gleichsam aus sich heraus und nimmt in der Verkleidung durch ein anderes Kostüm zugleich neue Gestalt und neues Wesen an. Trügerisch ist es, den Frieden des Alltags für die ganze Wahrheit zu nehmen, kann doch ein unmerklicher Anlass die Verwandlung bringen, in ungeahnte Gefahren hineinführen.

Auch bei den Stücken Schnitzlers ist es mehr die Aufführung, weniger die literarische Problematik des Stückes, von der sich die Biografin leiten lässt. "Liebelei" weist Renate Wagner als Welterfolg aus, aber wodurch wurde er begründet? Liegt er nicht auch in der Einheit von Thema und Bauart des Stückes, darin, wie Schnitzler, der Meister der dramatischen Kleinkunst, die "Zeiten" als unsichtbare Mitspieler eingeordnet und im Dehnen und Verkürzen in ihre eigentliche dramatische Funktion eingewiesen hat? Am Ende des 2. Aktes der "Liebelei" wird beim Abschied Fritzens von Christine in die "Zeit" eine plötzlich gesteigerte Entscheidungsgewalt projiziert: Große Verwandlungen können sich in Sekunden vollziehen; Glück ist wie eine Melodie und nur im Vorüberschweben vernehmbar. Glück bedarf der Bewegung, und die führt nun einmal notwendig zu einem Ende. Weil Glück nur im Zustand der Bewegung möglich ist, wird für Fritz Lobheimer die Möglichkeit eines Glücks erst im Augenblick des letzten Abschieds von Christine klar.

Andererseits ist die Partnerschaft in diesem Tanz auswechselbar, jeder kann sich zu jedem gesellen. Wird der Eros im Spiel gebändigt, ist die Nähe zur Parodie gegeben. So ist im "Reigen" die Chemie der Wahlverwandtschaften in zehn dramaturgischen Experimenten dargestellt. Wir haben es hier mit dem Zerfall des klassischen Fünf-Akters wie der konventionellen theatralischen Paarbindung zu tun: aus A und B werden B und C, C und D. Alle Spielregeln gesellschaftlicher Heuchelei werden außer Kraft gesetzt.

In "Professor Bernhardi" schlägt sich der Autor dann wieder ganz auf die Seite von Ibsens Gesellschaftskritik, er wandelt aber die Tragik gegen Ende des Werkes ab und lässt es als Komödie enden. Es nützt nichts, "bis in die letzten Konsequenzen zu gehen". "Es kommt nichts heraus dabei" - das ist die in der Resignation des Weltklugen gewonnene Regel zum erfolgreichen Mitagieren in diesem Spiel. Die schwache Welt kann keine Helden mehr ertragen, und wer sie dennoch zu sehen wünscht, kann ihnen allenfalls noch in der Komödie begegnen.

Renate Wagner bringt in ihrem Buch eine Unmenge biografischen Materials zusammen, das sie in kleinen Erzähleinheiten vor uns ausbreitet. Sie berichtet die erlebten und Literatur gewordenen Geschichten Schnitzlers, durchdringt das Gewebe von Erfolg und Scheitern, Schuld und Verzweiflung, Hoffnung und Leichtsinn, Selbstverwirklichung und Selbstvernichtung, Hoffnungslosigkeit und Tod. Mit ihrer Betrachtungsweise, die biografische Details und einzelne Werkaspekte unkonventionell zusammenführt, entwickelt sie dennoch ein faszinierendes Lebenspanorama und Psychogramm eines Schriftstellers, der zwar nur vom Hintergrund seines wienerischen Österreichertums zu verstehen, aber dennoch zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren seiner Epoche geworden ist. In seinem poetischen Theater gilt Ernst und Verzweiflung, Resignation und Verzicht, Träumen und Lachen, scheint alles bloßes Spiel und Sinnspiel des Lebens: "Also spielen wir Theater, spielen unsre eignen Stücke...".


Titelbild

Renate Wagner: Wie ein weites Land. Arthur Schnitzler und seine Zeit.
Amalthea Verlag, Wien 2006.
360 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3850025683

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