Magische Vater-Sohn-Geschichte

Joe Fiorito spürt dem Leben seines Vaters nach

Von Hildegard KuesterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hildegard Kuester

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich beginnt diese Erzählung vor langer Zeit an einem fernen Ort. Dieser mythische Ort heißt Ripabottoni, ein kleines Dorf in den Abruzzen. Unter einem gnadenlos blauen Himmel bewegen sich schwitzende Menschen auf staubigen Straßen. Einer von ihnen ist der hitzköpfige Joe Silvaggio, der Großonkel des Erzählers. In einem Anfall von besinnungsloser Wut erschießt er einen Menschen. Für ihn gibt es nur einen Ausweg, die Flucht nach Kanada. Zusammen mit seinem Schwager Matteo läßt er sich Ende des 19. Jahrhunderts in den Wäldern des nördlichen Ontario nieder.

Man könnte es auch die Geschichte einer italo-kanadischen Einwandererfamilie nennen. Während die Einwanderer der ersten Generation, Joe und Matteo, zusammen mit ihren Frauen Land roden, Felder urbar machen und inmitten der Wildnis eine Schar Kinder großziehen, erleben ihre Nachkommen das kleinstädtische Kanada, in dem sie ihren Platz als "Itaker" haben. Von der besseren, anglokanadischen Gesellschaftsschicht ausgegrenzt beziehen sie ihre Identität aus den starken italienischen Wurzeln. Heimat bietet ihnen der große Familienclan, in dem Blut und Ehre noch eine große Rolle spielen. Wie sehr dieser Ehrenkodex bis in die heutige Zeit fortwirkt, erlebt der Erzähler am eigenen Leib.

Es ist eine Welt der Männer. Während Frauen, Mütter und Schwester irgendwo für den nötigen Familienzusammenhalt sorgen, erobern die Männer die Welt, in der sie leben. Sie brechen die Herzen der schönsten Frauen, sie verzaubern mit ihrer Stimme und ihren Erzählungen, sie saufen und schlagen sich, und sie erleben Demütigungen, die sie genausowenig wegstecken können wie ihr heißblütiger Vorfahre Joe Silvaggio.

Die Lebensgeschichten der Brüder Fiorito sind voll von Leidenschaft und Liebe, aber auch von Tragik. Im Mittelpunkt steht die Geschichte von Dusty Fiorito, dem jüngsten der zahlreichen Söhne Matteos. Dustys Stimme, also der Stimme des Vaters, spürt der Erzähler nach. Und zwar in leisen, feinfühligen Tönen, die in deutlichem Kontrast zum abenteuerlichen Leben Dustys und seiner Brüder stehen.

Dusty begegnet den Lesern als alter Mann, der mit anderen alten Männern im Krankenhaus liegt. Sein Körper ist von Krebs zerfressen, Dusty wird das Krankenhaus nicht mehr lebend verlassen. Die letzten Tage sind von Demütigungen gezeichnet, die ihm sein schwacher Körper bereitet. Doch Dusty muß nicht allein sterben. Seine Frau und Söhne haben sich um das Krankenbett versammelt und wechseln sich in Schichten ab. Die Nachtschichten übernimmt sein Sohn Joe, der Autor dieser Erzählung.

Umgeben vom Gestank alter sterbender Männer kommen sich Vater und Sohn noch einmal ganz nahe - durch Geschichten. Geschichten, die bis weit nach Ripabottoni zurückreichen, und Ereignisse, die aus der Kindheit des Erzählers stammen. Dusty war ein begnadeter Geschichtenerzähler, seine Erzählungen beschwören die Vergangenheit wieder herauf.

Dusty, der schon sehr früh für eine vielköpfige Familie zu sorgen hat, verdient sein Geld als Briefträger. Abends spielt er Posaune in einer Tanzkapelle. Mit seinem Charme gewinnt er die Gunst seines Publikums, die Frauen drehen sich nach ihm um. Doch Dusty ist kein glücklicher Mensch. Er trinkt, manchmal bis zur Besinnungslosigkeit, und verprügelt Frau und Kinder. Der Erzähler liebt und hasst den Vater zur gleichen Zeit.

Eine ganz besondere Bedeutung nehmen in den Kindheitserinnerungen des Erzählers die Momente ein, in denen Dusty sich für seinen Sohn Zeit nimmt und ihm Geschichten erzählt. Es sind Geschichten von Joe Silvaggio und Matteo, und es sind Erinnerungen an Dusty und seine Brüder. In diesen Momenten wird Joe klar, wie sehr er seinen Vater liebt.

Je hinfälliger Dusty im Krankenhaus wird, desto öfter beschränkt sich die Kommunikation zwischen Vater und Sohn auf Stichworte. Joe greift die Stichworte auf und erzählt für die Leser die Geschichten nach, die ihm sein Vater früher erzählt hat. Die Leser werden Zuhörer und somit Teil einer Erzähltradition, die über das rein Persönliche und Individuelle hinausgeht. Dabei sind nicht unbedingt alle Aspekte für die Allgemeinheit von Interesse. Etwas weniger hätte der Wirkung des Buches keinen Abbruch getan. Denn die eigentliche Stärke liegt in der Darstellung der Vater-Sohn-Beziehung, die hier auf einmalige Art zum Ausdruck kommt. Joes Erzählungen stellen eine Hommage an seinen Vater dar. Man könnte sie sogar eine Liebesgeschichte nennen. Ein Sohn nimmt sich die Zeit, um zu seinem sterbenden Vater zu reisen und an seiner Seite 21 Nächte lang zu wachen, bis der Vater endgültig mit seinem Leben abgeschlossen hat.

Der Autor hat eine Geschichte ohne falsche Sentimentalitäten und Beschönigungen vorgelegt. Beeindruckend ist die feinfühlige Art, mit der Joe Fiorito den Sterbeprozeß seines Vaters den Lesern vermittelt. Er gibt seinem Vater damit die Würde wieder zurück, die dieser in seiner Hilflosigkeit als schwerkranker Sterbender vermisst.

Titelbild

Joe Fiorito: Die Stimmen meines Vaters. aus d. engl. v. sigrid ruschmeier.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2000.
374 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3828601162

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