Seltene Nähe der Vergangenheit

Frauentagebücher aus der NS-Zeit

Von Alexandra SpalRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Spal

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die nackte Haut retten - wenn nur das noch zählt, wird man intensiv mit dem Ich konfrontiert. "Man muß mit sich selbst leben, als lebte man mit einem ganzen Volk von Menschen. Und an sich selbst lernt man dann alle guten und bösen Eigenschaften der Menschen kennen." Etty Hillesum ist eine von zwanzig Frauen in diesem Buch, deren Tagebucheinträge das Leben in der NS-Zeit dokumentieren. Sie wurde 1944 in Auschwitz ermordet.

"Geschichten vom Überleben" sind jedoch kein Abklatsch des Tagebuchs der Anne Frank, hier kommen vielmehr nicht nur Opfer zu Wort, sondern auch solche, die dem NS-Regime zugetan waren und Parolen mitplärrten.

Das alltägliche Erleben grundverschiedener Frauen in der Zeit einer grausamen Diktatur und eines verheerenden Krieges wird auf subtile Weise dargestellt. Ausschnitte aus einem Klassenbuch, in dem Absolventinnen eines Mädchengymnasiums ihr Leben nach dem Abitur skizzieren, zeigen, wie sehr Menschen der Ideologie der Nazis verfallen konnten. Eine von jenen, die in der Schule schon immer davon gesprochen haben, "berufliche Karriere zu machen", läßt sich, ganz nach Hitlers Vorstellungen von einer arischen Frau, auf Küche, Herd und Kinder reduzieren. Eine andere schwärmt vom Arbeitsdienst, der "wundervollen Einrichtung" des Bundes Deutscher Mädel und schließt mit dem Satz "Heil Euch Hitler". Eine 15jährige Jüdin berichtet im Tagebuch über den Alltag ihrer Familie 1938: Sie darf nicht mehr zur Schule, Freunde fliehen aus Deutschland - die letzten Lebenszeichen ihrer Familie stammen aus dem Lager Piaski bei Lublin.

Die Berichte der Frauen vollziehenden eine Gratwanderung, die den Leser erstarren läßt. "Es wäre eine sonderbare Selbstüberschätzung, mich für zu wertvoll zu halten, um in einem gemeinsamen `Massenschicksal´ mit den anderen unterzugehen" (Tagebucheintrag 1942 einer 29jährigen Jüdin). Gretel B. erhält gleichzeitig mit den Glückwünschen zu ihrer Hochzeit im Januar 1945 die Nachricht, daß ihr Mann an der Front gefallen ist. Sie führt ihr Tagebuch, als seien es Briefe an ihren geliebten Mann. Das Unglaubliche eines endgültigen Abschieds, der unendliche Schmerz, der Wunsch im Bombenhagel nicht unterzugehen, denn da gibt es noch die Familie - das alles erschüttert bis ins Mark.

Gerade die facettenreichen Schilderungen vom Alltag in der NS-Zeit geben diesem Buch eine ganz besondere Note. Der Haß ebenso wie die Angst, der Tod ebenso wie das Leben. Man wird mitgerissen in eine Epoche, die heute so weit weg scheint, hier aber nachvollziehbar wird, denn nichts liegt diesen Tagebucheinträgen ferner als Fiktion, so fantastisch die einzelnen Passagen auch sind.

Titelbild

Barbara Bronnen (Hg.): Geschichten vom Überleben. Frauentagebücher aus der NS-Zeit.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
250 Seiten, 11,20 EUR.
ISBN-10: 3406420648

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