Rückblicke auf ein verpfuschtes Leben

Mordecai Richlers pikarischer Roman "Wie Barney es sieht"

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als in den USA, bildete sich in Kanada - obwohl in erster Linie von Immigranten geprägt - relativ spät eine Minoritätenliteratur heraus. Während in den USA bereits im frühen zwanzigsten Jahrhundert Autoren wie Abraham Cahan den jüdischen Immigranten aus Osteuropa und Russland eine literarische Stimme verliehen und die Spannung zwischen jüdischer Identität und nationaler Assimilation thematisierten, begann sich in Kanada erst in den späten vierziger Jahren mit Autoren wie Abraham Klein und Henry Kreisel eine Literatur zu etablieren, die die Erfahrungen der jüdischen Immigranten mit der britisch geprägten Kultur Kanadas konfrontierte.

Seit Jahrzehnten nimmt Mordecai Richler, 1931 in Montreal geboren und einer jüdischen Immigranten-Familie entstammend, die vor den Pogromen in Osteuropa 1904 nach Kanada fliehen konnte, eine herausragende Stellung in der jüdisch-kanadischen Literatur ein. Ironischerweise kehrte er als 19-Jähriger seiner kanadischen Heimat mit ihrer provinziellen geistigen Enge den Rücken, um sich zunächst in Frankreich in einem Zirkel amerikanischer Expatriates, zu dem Beat-Literaten wie Allen Ginsberg und Terry Southern gehörten, die ersten literarischen Sporen zu verdienen. Nachdem seine ersten drei Arbeiten eher Fingerübungen waren, reüssierte er schließlich mit dem Roman "The Apprenticeship of Duddy Kravitz" (1959), der - in Anklang an Cahans "The Rise of David Levinsky" - den Aufstieg eines jungen Juden aus den Slums Montreals in die Oberschicht der kanadischen Gesellschaft beschreibt. Obwohl er bis 1972 in Europa lebte, blieb für Richler das Thema jüdischer Identität im britisch oder französisch dominierten Kanada auch in der Folgezeit zentral.

In seinem bislang letzten, 1997 veröffentlichten Roman "Barney's Version", der nun auch in einer - stellenweise etwas verunglückten - deutschen Übersetzung vorliegt, er spielt das alte Thema in einer originellen Variation erneut durch. Protagonist des Buches ist ein jüdischer Selfmade-Millionär namens Barney Panofsky mit pikarischen Anklängen. Wie Duddy Kravitz, der in diesem Buch mit verschiedenen Cameos reanimiert wird, entstammt er einfachen Verhältnissen: Sein Vater Izzy brachte es zum ersten jüdischen Polizei-Inspektor Montreals, während seine Mutter sich eher um das Personal von Seifenopern und Comic-Strips als um ihren Sohn sorgte, dessen Namenspatron folgerichtig die Comic-Strip-Figur Barney Goggle ist. Obwohl Barney kaum die High School schaffte und vordergründig für Künstler Verachtung hegt ("ich habe nie einen Schriftsteller kennengelernt, der sich nicht selbst in höchsten Tönen lobte, der kein Aufschneider und kein bezahlter Lügner und Feigling gewesen wäre, getrieben von Habgier, versessen auf Ruhm"), entschließt er sich als junger Mann, nach Paris zu gehen und dort sich als Außenseiter ohne literarische Ambitionen im Zirkel aufstrebender, nach Anerkennung und lukrativen Kontrakten gierender Poeten und Regisseure aufzuhalten, die entweder von der amerikanischen Sterilität oder der antikommunistischen Paranoia ins Exil getrieben worden sind.

Hier trifft er auf jenes Personal, das seine zukünftige Geschichte prägen wird: Bernard "Boogie" Moscovitch umgibt die Aura des amerikanischen Rimbauds, der zwischen den Heroin-Kicks die Rolle des genialen Autors spielt, von dem der Große Amerikanische Roman zu erwarten ist; Terry McIver, ein kanadischer Karrierist, der sich selbst zur Celebrity im kulturellen Showbiz stilisieren möchte und innerhalb der Expatriate-Clique mit seiner spießigen Attitüde zum Paria und mit seiner Prätentiosität bei einer Lesung zum willkommenen Opfer für französische Vorboten der Spaß-Guerilla wird, den Lettristen und schließlich trifft Barney hier auf die erste Frau seiner "Troika": Clara ist eine Dichterin, Malerin, Kleptomanin und Nymphomanin, die mit ihrem Selbstmord Schuldgefühle in ihm weckt und ihn - so meint er jedenfalls - in die Ehe mit der "zweiten Mrs. Panofsky", einer Tochter aus einer wohlhabenden jüdisch-kanadischen Familie, führt; ein Ehe, die schließlich desaströs endet, bevor er sein Glück bei seiner dritten Frau Miriam findet, ein Glück, das er freilich nach dreißig Jahren selbst zerstört.

Nach seiner "Lehrzeit" in Paris kehrt Barney zurück nach Montreal, um als "geborener Unternehmer" - ob als Exporteur von französischem Käse, Distributor italienischer Motorroller, schottischer Stoffballen, ausrangierter Flugzeuge oder ägyptischer Grabbeigaben - den Grundstock für sein Vermögen zu legen, ehe er als Produzent kanadischer Fernseh-Serien reüssiert.

Am Ende seines Lebens sieht sich Barney, ein Relikt aus einer alten, überkommenen Zeit, Prahlhans und Aufschneider, von der Vergangenheit eingeholt. Terry McIver, inzwischen zur allseits im literarischen Betrieb gefeierten Zelebrität aufgestiegen, beliefert die Kulturindustrie nicht nur mit seinen Tagebüchern, in denen er der Nachwelt die Anzahl seiner geschriebenen Wörter vermacht ("Heute 670 Wörter"), sondern auch mit seiner Autobiografie, in der Barney als jüdischer Parvenü und Vertreter einer minderen Kultur verunglimpft wird. McIvers Autobiografie "Zeit und Rausch" liest sich in Barneys Version wie eine Parodie auf Hemingways denunziatorische "Memoiren" über seine Zeit in Paris ("A Moveable Feast"), in denen nicht nur F. Scott Fitzgerald eine Abreibung bekam. Unterschwellig bedient McIver nicht allein Ressentiments innerhalb des akademischen Establishments gegenüber dem Underdog, der sich der universitären Galeere entzog und doch geschäftlich erfolgreich war, sondern karikiert Barney in antisemtischen Untertönen als vulgären Emporkömmling, der infolge seiner mangelhaften Bildung immer wieder in die "Untersprache" des Jiddischen zurückfällt.

"Barney's Version" ist die vielschichtige, facettenreiche Replik auf McIvers Verleumdungen, die freilich über die bloße Widerlegung der Unrichtigkeiten hinausgeht. Als erfolgreicher Fernsehproduzent hat sich Barney einen Platz innerhalb der kanadischen Gesellschaft erobert; zugleich aber verachtet der literarische Autodidakt das, was der gesellschaftliche Mainstream täglich im Fernsehen anschaut und was er, Barney Panofsky, als Dienst am Kunden ihm liefert.

"Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Unter dieser Prämisse schreibt Barney an seinen Memoiren, setzt aber zu spät an, um seine Version seines "verpfuschten Lebens" zu vollenden und sich von dem Makel zu befreien, er habe sein bewundertes Idol Boogie, auf mysteriöse Weise verschwinden lassen und ermordet. Immer wieder werfen ihn Gedächtnisaussetzer zurück; stets aufs neue sucht er nach Autoren-Namen, Buch-Titeln und Bezeichnungen für einfache Haushaltsartikel. Wie hießen noch die Sieben Zwerge? Am Ende hindert ihn die feindliche Übernahme durch Alzheimer, seine Memoiren zu beenden. Diese Aufgabe überträgt er seinem Sohn Mike, der nach der Reduzierung des ehedem virilen Vaters auf einen "gemüseartigen Zustand" die Aufgabe übernimmt, die "mäandrierenden Memoiren" zu redigieren und vorgebliche Irrtümer des Autors zu korrigieren. In seiner pedantischen Faktenhuberei, in der er seinen Vater des Irrtums zu überführen sucht und sich in der sekundengenauen Angabe der Tor-Reihenfolge in Eishockey-Spielen des Stanley-Cups nebst Auflistung der Torschützen und Vorlagengeber verfranst, erkennt er nicht, dass die vermeintlichen Fehler und falschen Zitate eigens für ihn, den testamentarisch bestimmten Nachlass-Verwalter, bestimmte Fallen sind.

Amerikanische Rezensenten vermissten in dieser komplexen, mehrfach gebrochenen Autobiografie eines Außenseiters, der zugleich Insider ist, die Verschränkung von öffentlicher und privater Geschichte. Tatsächlich bleiben Korea- und Vietnamkrieg äußere Phänomene, die auf Barneys Wahrnehmung einen eher geringen Einfluss nehmen. In seinen Augen erscheint Kanada als "Wolkenkuckucksheim", dessen "hausgemachten Probleme" auf komische Weise "von den Sorgen der wirklichen Welt" ablenken. In seiner Perspektive hat die kulturelle Welt der Spätmoderne - die expatriierte Bohème mit ihren eigenständigen, nonkonformistischen Werten, ihre Welt der little magazines, der großen Versprechen und des grandiosen Scheiterns - ihre eigene Wahrheit. Die satirischen Sottisen richten sich nicht allein gegen nationalistische, engstirnige Separatisten, assimilierte Juden, schwarze Aktivisten, Feministinnen, Liberale, Rechte, Politiker und Schriftsteller unterschiedlicher Provenienz, sondern auch gegen sich selbst und das kulturelle Ödland zwischen Kommerz, Kitsch und Kunst und ihre Überreste im planvoll durchrationalisierten Betrieb, der Barney den Aufstieg ermöglichte.

Die Generation nach Barney verschachert die Hoffnung entweder an der kapitalistischen oder an der ideologischen Börse. Mit Barney, der die Zeit bis zum klinischen Tod in einem luxuriösen Pflegeheim verbringen wird, stirbt auch die Hoffnung auf eine kulturelle Alternative. Obwohl er Zeit seines Lebens ein Prahlhans und ein unglücklicher Kapitän der kanadischen Kulturindustrie war, lief er nicht mit wehenden Fahnen zur "new economy" über: "Ich bin nicht online und werde es nie sein", erklärt er kategorisch. Obwohl er aufgrund seiner ökonomischen Stellung zuweilen dem Opportunismus nicht ausweichen kann, bleibt Barney - etwa in der Parodie von "politisch korrekten Briefen" für das eine oder andere vermeintlich gemeinnützige Anliegen - ein Subversiver, der sich durch nichts einschüchtern lässt. In dieser Anarchie liegt - neben der virtuosen Handhabung von Zeitsprüngen, Rückblenden, Imaginationen, Rückspulungen und Digressionen - die Stärke des Buches. Oder mit Barney Panofsky gesprochen: "Das Leben ist absurd, und kein Mensch kann einen anderen wirklich verstehen." Damit lässt es sich selbst im Falschen bis auf Widerruf aushalten.

Titelbild

Mordecai Richler: Wie Barney es sieht.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
476 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3446198512

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch