Lotterknäbchen und Freudenmädchen

Lotte van de Pols Studie zur Prostitution im Amsterdam der Frühen Neuzeit

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Behauptung, Prostitution sei das "älteste Gewerbe der Welt", ist zwar eine von deren ApologetInnen gerne verbreitete Mär, aber eben doch nur ein Märchen, und ein sexistisches obendrein. Wenn man überhaupt von einem ältesten 'Gewerbe' sprechen mag, kämen weit eher Frauenraub und -handel in Betracht. Dennoch können keine Zweifel darüber bestehen, dass es die Prostitution schon sehr lang gibt. Man kann durchaus einige Jahrtausende veranschlagen. So war sie auch im Amsterdam der Frühen Neuzeit alles andere als unbekannt.

In einer jüngst unter dem Titel "Der Bürger und die Hure" ins Deutsche übersetzten Studie Lotte van de Pols kann man sich nun genauer über das - wie es im Untertitel heißt - "sündige Gewerbe" in der holländischen Hauptstadt während des 17. und 18. Jahrhunderts kundig machen und sein vermutlich doch recht oberflächliches Wissen darüber vertiefen. Denn die Autorin schöpft aus einem reichen Quellenfundus, der es ihr ermöglicht, ihr Forschungsobjekt in zahlreichen seiner vielfältigen Facetten und oft genug bis in Einzelheiten hinein zu beleuchten. So ist ein informatives Buch entstanden, das sich gelegentlich als geradezu detailversessen erweist.

Zunächst einmal weist die Autorin darauf hin, dass zur Zeit der Frühmoderne nicht die Prostitution im Zentrum der gesellschaftlichen und staatlichen Aufmerksamkeit (und somit auch derjenigen der Strafverfolgungsbehörden) stand, sondern die "Hurerei", unter der nicht nur das, was heute der Begriff Prostitution bezeichnet, subsumiert wurde, sondern überhaupt alle sexuellen Handlungen zwischen Menschen "außerhalb des Ehebettes" und selbst diejenigen "im Ehebett", sofern sie nicht "der Zeugung diente[n]". Allerdings differenzierte die Amsterdamer Justiz im Strafmaß erheblich zwischen Prostitution, Ehebruch und Unzucht.

Zwar machten sich nicht nur die Huren, sondern auch die Freier strafbar, doch wie van de Pol feststellt, galt das eher in der Theorie als in der Praxis. "Nur verheiratete Männer und Juden wurden festgenommen." Während ledige Freier de facto keine strafrechtliche Verfolgung zu fürchten hatten, war Ehebruch "viel schlimmer als gewöhnliche Hurerei". Laut Gesetz war er gar mit dem Tode zu bestrafen. Tatsächlich wurde diese Strafe jedoch nie vollzogen, sondern üblicherweise 50 Jahre Verbannung verhängt. Eine ledige Frau, die sexuellen Kontakt mit einem Mann hatte, wurde (unabhängig davon, ob sie Geld dafür erhielt oder nicht) zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt - "nur", wie die Autorin vergleichend meint. Die Frau hatte zwar "Hurerei" betrieben, aber keinen Ehebruch vollzogen. Ledige "Hurer" hatten hingegen "von der Polizei meist wenig zu befürchten" und gingen gemeinhin straffrei aus, wie van de Pol nunmehr kommentarlos und ohne den Vergleich mit der ledigen "Hurerin" zu ziehen konstatiert. Die Ehefrauen der verheirateten Freier sahen von der Anzeige ihres hurenden Mannes in aller Regel ab, da sie unter dessen Bestrafung mindestens ebenso sehr zu leiden gehabt hätten wie er selbst.

Wie die Autorin darlegt, lag die "Organisation der Prostitution" größtenteils in den Händen von Hurenhauswirtinnen, also von Frauen. Eine Prostituierte, die in einem solchen Haus lebte, "tauschte ihren Verdienst und ihre Freiheit gegen Unterkunft, Verpflegung und Schutz ein", wobei der Einstieg ins "Hurendasein" meist schon mit "Schulden für die Anschaffung von Kleidern und Aufmachung" verknüpft war. Eine Chance, diese jemals ganz abzubezahlen, hatten die Frauen kaum. "Viele mussten sogar ihren ganzen Verdienst abliefern." Eine im übrigen auch heute noch bei Zuhältern und Menschenhändlern beliebte Masche. Und dass die Wirtinnen (und die wenigen Wirte) der Hurenhäuser oft Menschenhandel betrieben, wird von van de Pol zwar nicht explizit ausgesprochen, doch von einer Passage ihres Buches belegt, in der es heißt, dass die WirtInnen 'ihre' Prostituierten "mitsamt den Schulden anderen Wirtinnen oder Wirten übertragen" konnten.

Als Quellen standen van de Pol Verhörprotokolle aus Prozessen gegen Prostituierte und WirtInnen von "Hurenhäusern", Reiseberichte von Freiern, Tagebücher, Memoiren und Briefe zur Verfügung. Hinzu traten "fiktionale Quellen". Unter letzteren versteht die Autorin primär literarische Werke, aber auch Gemälde, welche allerdings stärker als literarische Erzeugnisse "in der Geschichte des Genres verwurzelt" seien und darum eher als "Quelle zu den Ideen über Frauen und Sexualtät" im Allgemeinen als zum "Prostitutionsgewerbe" im Besonderen taugten. Eine Ausnahme bilde Judith Leysters 1631 entstandenes Gemälde "Der Antrag". Leyster, die einzige Frau, die sich van de Pol zufolge "an das Genre herangewagt hat", teilt nicht den einvernehmlich männlichen Blick von Maler, Freier und Betrachter auf die dargestellte Prostituierte, sondern zeigt "die weibliche Seite": "Die Frau wird nicht als eine dekolletierte, liebäugelnde Hure dargestellt, sondern als einfache, sittsam gekleidete Näherin. Das Dilemma des Mädchens ist spürbar. Der Mann ist nicht das Opfer, sondern der aktive Teil."

Doch nicht dieses Gemälde ziert den Umschlag von van de Pols Buch, sondern genau eines der von der Autorin kritisierten: Gerard van Honthorts "Die Kupplerin" (1625), das die im Titel genannte Person ebenso wie einen Freier nur im dunklen Schattenriss zeigt, dafür aber den Blick des (zweifellos als männlich intendierten) Betrachters auf den üppigen hellerleuchteten Busen der Prostituierten lenkt. Sex sells, wird sich, wenn nicht die Autorin, so doch der Verlag gesagt haben. Immerhin findet man Leysters Bild im Abbildungsteil des Bandes.

Nicht nur die Wahl der Umschlagillustration ist an dem vorliegenden Buch zu monieren. Etliches weitere kommt hinzu. Da ist zunächst einmal der missliche Umstand, dass Aufbau und Struktur der Untersuchung nicht recht deutlich werden wollen. Ein zweiter Punkt ist van de Pols den der Prostitution innewohnenden Sexismus verschleiernde Terminologie. So bezeichnet die Autorin sie meist als "Gewerbe" oder als "Beruf". Prostituierte sind ihr eine "arbeitende Berufsgruppe", BordellbetreiberInnen "Arbeitgeber" und Freier "Kunden", die "bedient" werden. Geradeso als wären sie beim Bäcker oder beim Barbier. Einmal versteigt sich die Autorin sogar zur Rede von der "käufliche[n] Liebe".

In den Zitaten der Prostituierten kommt hingegen ein weit genaueres Verständnis dessen zum Ausdruck, was in der Prostitution geschieht. Wiederholt sprechen sie davon, dass sie von den Freiern "gebraucht" - mit anderen Worten: benutzt - werden. Man darf also davon ausgehen, dass dies die im seinerzeitigen Amsterdamer Prostituiertenmilieu übliche Bezeichnung des Vorganges gewesen ist. Nun ist es aber so, dass Gegenstände, genauer gesagt Gebrauchsgegenstände benutzt werden und zwar so lange, bis sie unbrauchbar sind. Nicht aber Menschen. Und somit spiegelt der Begriff des "Gebrauchens" genau das Verhältnis wieder, das ein Freier zur Prostituierten hat. Zumindest ein unbewusstes Wissen darum drückt sich in der Wortwahl der zitierten Prostituierten aus.

Nicht so hingegen in den von van de Pol bevorzugten Begriffen. Abgesehen davon, dass Prostitution illegal war, unterschied sie van de Pol zufolge denn auch wenig, um nicht zu sagen gar nichts "von anderen Unternehmen der vorindustriellen Zeit". Sie war eben ein "Kleinbetrieb".

Zwar stellt die Autorin einmal ganz allgemein fest: "Frauen galten als unterlegen und hatten sich dem Mann unterzuordnen." Einen Bezug zur Prostitution stellt sie jedoch nicht her. Und wenn einmal die Erkenntnis aufblitzt, dass in der Prostitution die Geschlechterhierarchie und der Sexismus einer Gesellschaft auf den Punkt kommen, dann in der geradezu zynisch anmutenden Wendung: Ebenso wie in anderen Berufen werde auch in der Prostitution "die Geschlechtertrennung bei der Arbeitsverteilung [...] eingehalten".

Weiter ist zu monieren, dass van de Pol regelmäßig Prostituierte meint, wenn sie von Prostitution spricht. Um etwa die Frage des Umfangs der Prostitution zu klären, eruiert sie nur die Zahl der Prostituierten, nicht aber die der Freier. Nun mag es ja sein, dass letztere schwerer festzustellen ist. Doch scheint sich van der Pol gar nicht klar darüber zu sein, dass sich der Umfang der Prostitution erst aus beiden Angaben ergibt.

Zu derlei grundsätzlichen Kritikpunkten treten verschiedene zu monierende einzelne Aussagen oder Befunde der Autorin. So stellt sie einmal fest, "[w]ie jeder der in der vorindustriellen Gesellschaft zur Unterschicht gehörte, musste auch eine Prostituierte jede Verdienstmöglichkeit ergreifen". Sollten sich demzufolge alle Frauen der Unterschicht, denen es möglich war, prostituiert haben?

An anderer Stelle konstatiert sie, dass in Den Haag während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und in der Jurisdiktion des "Hofes von Holland", also dem höchsten Gericht, "alle Hurengänger verhaftet und verurteilt" worden seien. Es habe sich um "einige Dutzend" Männer gehandelt. Sollten das wirklich alle gewesen sein? Vermutlich dürfte die Zahl der "Hurengänger" in den doch immerhin rund 50 Jahren wohl um ein vielfaches höher gewesen sein.

Am Ende ihres Buches entdeckt van den Pol gar die Freier als die eigentlichen Opfer der Prostitution. Denn diese sei "ein wichtiger Grund [gewesen], warum junge Männer in Armut gerieten; und waren sie erst einmal Matrose, dann nahmen ihnen die Huren und die Hurenwirtinnen die verdiente Heuer so schnell wieder weg, dass ihnen kaum eine andere Möglichkeit blieb, als wieder anzuheuern". "So fährt das arme Lotterknäbchen / Für Wirt, Wirtin und Freudenmädchen, / So lang er lebt, bis an sein End", zitiert sie abschließend einige Zeilen eines offenbar zeitgenössischen Liedes oder Gedichtes.


Titelbild

Lotte van de Pol: Der Bürger und die Hure. Das sündige Gewerbe im Amsterdam der Frühen Neuzeit.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Rosemarie Still.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
263 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3593382091

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch