Erinnerung, die gegenwärtig wird

Neuere Publikationen zum Kolonialismus

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diskussionen über den Kolonialismus sind auch Diskussionen über die Gegenwart. Zwar gibt es ihn nicht mehr in der imperialistischen Form, in der die Großmächte um 1900 die Welt unter sich aufteilten: Die Unterschiede zu den Methoden der heute hegemonialen Staaten, Macht auszuüben, sind zu groß, als dass sich über das 21. Jahrhundert unmittelbar etwas lernen ließe. Doch verraten die Aspekte, die in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken, mindestens so viel über aktuelle Fragen wie über die der Vergangenheit.

Dies ist das Prinzip aller Geschichtsschreibung und muss kein Fehler sein, entsteht so doch im Idealfall mit der Zeit ein immer facettenreicheres Bild dessen, was war. Natürlich taugt nicht jedes Interesse zur Erkenntnis; die Kolonialapologetik, die glücklicherweise in die Defensive geraten ist, verrät mehr über die Bewusstseinslage ihrer Verfasser und deren Bereitschaft, notfalls auch dreist zu lügen, als dass sie die tatsächlichen Vorgänge in den Kolonien erschließt. Die Imperialismuskritik dagegen hat den Vorzug eines scharfen Blicks auf die kolonialistischen Verbrechen und vor allem auf die Ökonomie, die hinter allem Gerede von zivilisatorischer Mission oder nationalem Interesse stand und steht. Zuweilen aber tappt auch sie in die nationale Falle; dort nämlich, wo sie auf Seiten der Kolonisierten das Volk zum Opfer wie auch zum idealen Kollektiv des Widerstands stilisiert und eine tatsächlich komplexe Interessenlage moralistisch zu Vorwürfen auf der Ebene von Verrat oder Kollaboration schrumpft. Niedrigste und hoffentlich letzte Form solcher "Antiimperialisten" sind diejenigen, die immer noch den Terror sich religiös nennender Banden im Irak als Widerstand feiern.

Deutschland schien, jedenfalls in der Selbstwahrnehmung, lange Zeit kaum belastet, wurde doch die nur wenige Jahrzehnte währende koloniale Phase 1918 nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg jäh beendet. Nachdem Forderungen, die Kolonialmacht wiederherzustellen, sich als unrealistisch herausstellten und nostalgische Erinnerungen ans weiße Herrenmenschentum allmählich verblassten, wurde zwar auch die Tradition linker Kolonialismuskritik fortgeführt, so etwa in Uwe Timms noch heute lesenswertem Roman "Morenga" (1978). Doch schien der Kolonialismus ein problematisches Erbe der Anderen, nicht aber der Deutschen. Das ändert sich seit einem guten Jahrzehnt, und nach freilich wertvollen früheren Grundlegungen entsteht in jüngster Zeit eine kontinuierliche, kritische Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte.

Die Fragen im Zeitalter der failing states sind jetzt die nach dem "kleinen Krieg", nach der Guerilla und ihrer Unterdrückung, die meist die Zivilbevölkerung mehr trifft als diejenigen, die tatsächlich kämpfen. Ferner die nach der Beherrschung großer Territorien, wobei das Erscheinungsbild von Geschichtsatlanten, viele Tausende von Quadratkilometern einfach in der Farbe der Kolonialmacht zu drucken, sich als irreführend herausstellt. Zunehmend wird ungewiss, ob, wie und in welchem Zeitraum die koloniale Herrschaft einer kleinen Minderheit überhaupt als solche erfahren wurde. Zudem treten Probleme kultureller Differenzen und damit solche einer Konstruktion von Kultur in den Vordergrund. Dies berührt auch die kulturwissenschaftliche Fragestellung nach einer Erinnerung an die Vergangenheit, die ein Kollektiv konstituiert.

Eindrückliches Beispiel für ein erneutes Interesse am deutschen Kolonialismus ist die Reihe "Schlaglichter der Kolonialgeschichte" im Christoph Links Verlag. Der Band "Kolonialkrieg in China" ist einem Sonderfall gewidmet: China war anders als die afrikanischen Gesellschaften politisch in einer Form organisiert, die leicht mit europäischer Staatlichkeit verglichen werden konnte, und zudem relativ mächtig. So wurde das Land, von einigen Handelsvorposten wie dem britischen Hongkong und dann 1897 dem deutschen Qingdao abgesehen, auch nicht annektiert, sondern von den 1840er-Jahren an durch eine Reihe kriegerisch erzwungener und immer schlechterer Verträge zur Öffnung gegenüber dem Westen bewegt. Dies markierte, neben einer Reihe von Naturkatastrophen und Bürgerkriegen sowie verwaltungstechnischen Problemen, den Niedergang der seit 1644 regierenden Qing-Dynastie.

Im Widerstand der sogenannten Boxer-Bewegung gegen soziale Krisen und die christliche Mission mischten sich kurz vor 1900 kulturelle, ökonomische und religiöse Momente. Ort der Auseinandersetzungen war der chinesische Nordosten, zunächst insbesondere die seit 1897 deutsch dominierte Shandong-Provinz. Anlass war die dort ohne Rücksicht auf die bäuerliche Bevölkerung durchgeführte verkehrstechnische Erschließung. Zudem brachen Missionare - auf die Macht europäischer Kanonen gestützt - weniger spirituell als durch die Vorteile, die sie ihren Schützlingen versprachen, in die traditionellen Gemeinschaften ein.

Mechthild Leutner und Klaus Mühlhahn setzen als Herausgeber in ihrem Sammelband, zu dem deutsche, chinesische und amerikanische Wissenschaftler beigetragen haben, deutliche Akzente. Einige Aspekte der Auseinandersetzung sind deshalb sehr gründlich aufgearbeitet, andere fehlen jedoch. Genau und eindrücklich ist die chinesische Seite dargestellt: die innere Schwäche des Reiches seit dem frühen 19. Jahrhundert wie die Destabilisierung großer Teile der chinesischen Gesellschaft durch die ausländische Präsenz. Ebenso aber wird deutlich, wie wenig eine einheitliche nationale Interessenlage vorlag. In den kolonialen Handelsvorposten entstand in Ansätzen eine moderne, urbane Schicht, für die die Veränderungen durchaus auch eine Chance auf ein verbessertes Leben bedeutete. Demgegenüber erscheint die ländlich geprägte, auf Traditionen von Geheimbündelei und überkommener Kampfkunst basierende Boxerbewegung als konservativer Widerstand von unten, der die herrschenden Eliten vor nicht geringe Probleme stellte: Sollte der Kaiserhof dem Volk folgen und die bis 1900 nur mäßig erfolgreiche Politik einer langsamen Reform durch eine der offenen Konfrontation mit den Kolonialmächten ersetzen? Erst relativ spät und nach massiven westlichen Aggressionen setzte sich die Kriegspartei am Hof durch, was immer noch nicht bedeutete, dass nun der chinesische Staat mit seiner ganzen Macht den Kampf unterstützte. Heike Frick arbeitet in einem überzeugenden Beitrag heraus, wie einige der modernsten Truppen nie eingesetzt wurden, möglicherweise weil ihre Kommandeure, überzeugte Reformer, sie nicht in einem hoffnungslosen Krieg opfern wollten.

Tatsächlich bedeutete die rasche Niederlage der chinesischen Seite den Sieg der Reformer, die ein gutes Jahrzehnt später die Monarchie beseitigen und eine umfassende Modernisierung einleiten sollten. Die Niederlage der Boxer führte damit zur chinesischen Republik und bereitete gleichzeitig deren Schwäche vor: Die Forderungen der Siegermächte zielten nicht nur auf eine nationale Demütigung, sondern schlossen auch Reparationen ein, deren Höhe jede durchgreifende und landesweite Erneuerung auf Jahrzehnte blockieren sollte. Entsprechend umstritten war und ist die Wertung der Boxer in der chinesischen Geschichtsschreibung. Waren sie aus Sicht der Modernisten der 1920er-Jahre einfach obskure Abergläubische, so konnten sie in der national-bauernfixierten maoistischen Variante des Kommunismus zu Vorbildern werden. Erst im Zuge der neueren chinesischen Öffnung für den weltweiten Handel werden die Boxer wieder kritischer gesehen.

Wie für China, so ist auch die Bedeutung des Krieges für Deutschland gut aufgearbeitet. Die rücksichtslose deutsche Kolonialisierung seit 1897 sorgte für Unmut in einem künftigen Zentralgebiet des Konflikts - insbesondere, wie Yang Laiqing zeigt, der Bau einer Eisenbahn ohne Rücksicht auf die bäuerliche Bevölkerung, der mit militärischen "Strafaktionen" und Massenmorden durchgesetzt wurde. Weitere Beiträge sind dem Tod des deutschen Gesandten von Ketteler in Beijing (Dominik Nowak), der so genannten "Hunnenrede" Wilhelms II. bei der Abreise deutscher Interventionstruppen nach China (Bernd Sösemann), dem Oberbefehl des Grafen von Waldersee über die Kolonialtruppen (James L. Hevia), deutschen "Strafexpeditionen" im Boxerkrieg (Susanne Kuß) und Feldpostbriefen deutscher Soldaten aus China (Dietlind Wünsche) gewidmet. Auch der Abschnitt "Die Heimatfront" ist mit allen fünf Aufsätzen auf Deutschland fixiert, ob es um Reichstagsdebatten (Ute Wielandt), Propaganda (Thoralf Klein), Kriegspostkarten (Joachim Krüger), nationale Stereotypen (Mechthild Leutner) oder Popularliteratur (Lu Yixu) geht.

Das ist im einzelnen instruktiv und zeigt ein frühes Beispiel völkerrechtlich begründeter Intervention, die tatsächlich jedes Völkerrecht missachtete. Rassistische Stereotypen ersetzten in der deutschen Debatte politische Kategorien, was auch eine damals noch friedliebende Sozialdemokratie mit ihrem Redner August Bebel nicht verhindern konnte; die Passagen dazu sind allenfalls insofern amüsant, als deutlich wird, dass Bebel heute wohl eher bei den Autonomen Steine werfen als im bedingungslos konformistischen SPD-Vorstand den eilfertigen Befürworter geben würde. Die tatsächliche deutsche Kriegsführung in China war dann weniger ein Krieg als ein Hinmorden von Zivilisten und gewissenloses Plündern, wie es Wilhelm II. den Truppen in seiner damals schon umstrittenen Ansprache auf den Weg gegeben hatte.

So wirkt denn, was in Feldpostbriefen überliefert ist, auch nicht anders als die übelsten Ergüsse von der Ostfront gut vierzig Jahre später. Doch war das Morden, wie in der Kriegsgeschichte schon vielfach zuvor, hemmungslos, aber noch nicht auf systematische Ausrottung angelegt. Die Frage nach einer spezifisch deutschen Prägung wird in dem Band nirgends gestellt und schon gar nicht beantwortet. Dabei wäre gerade der Boxerkrieg als Unternehmen von acht Interventionsmächten eine gute Gelegenheit für die Frage nach nationalen Besonderheiten. Vergeblich sucht man in dem Buch eine vergleichende Studie über das Auftreten englischer, amerikanischer oder französischer Soldaten, wie es Thoralf Klein 2006 skizzenhaft in einem Beitrag zum Boxerkrieg in einem Sammelband zu Kolonialkriegen geleistet hat. Überzeugend ist mehrfach die rassistische Dimension der deutschen Kriegspropaganda herausgearbeitet - doch war die Interventionsmacht, nach damaligen Begriffen, rassisch gemischt, insofern die künftige ostasiatische Kolonialmacht Japan am Krieg gegen China teilnahm. Auch dieses Konfliktfeld fehlt hier, wie auch die angesichts von Kriegen im früheren Jugoslawien, im Irak und in Afghanistan aktuelle Frage, auf welche Weise divergierende Interessen intervenierender Mächte in einer gemeinsamen - damals an der Spitze deutschen - Kommandostruktur ausgefochten werden.

China war ein Staat und blieb es, auch nach der Niederlage im Boxerkrieg. Das gilt nicht für die Konstellation, mit der es Deutschland gleichzeitig in Ostafrika zu tun hatte. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs blieb dort die koloniale Struktur jenseits weniger Küstenstädte derart schwach, dass von einem Staat im Sinne der europäischen Neuzeit keine Rede sein kann. Michael Pesek geht in seinem Buch über "Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika" der Frage nach, wie die wenigen Kolonisierenden dennoch den weiten Raum erschließen und schließlich auch kontrollieren konnten.

Der Untertitel "Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880" führt dabei ein wenig in die Irre, da die Darstellung im Wesentlichen mit dem Jahr 1903 endet und auf die spätere Zeit nur einzelne Schlaglichter geworfen sind. So ist auch der Maji-Maji-Krieg mit allen seinen völkermörderischen Konsequenzen seitens der deutschen Besatzer kaum erwähnt. Auf der anderen Seite aber greift Pesek weit und gründlich in die Jahrzehnte vor Beginn der deutschen Angriffe zurück. Er zeichnet nach, wie von Sansibar aus arabische Händler das Land erschlossen und die vorkoloniale Ordnung bereits empfindlich störten. Karawanenstraßen machten das Land zugänglich, durch Elfenbein- und Waffenhandel entstanden neue, kriegerisch ausgerichtete Sozialstrukturen.

Dies nun berichtet Pesek nicht, um die Deutschen moralisch zu entlasten, sondern um ihr Vorgehen und ihren Erfolg zu erklären. Die ersten Kolonisatoren bedienten sich der vorhandenen Handelswege und Karawanenordnungen und wurden von den Afrikanern wohl eher als besonders ungeschickte Gruppe von Arabern missverstanden. Pesek, der von der Theaterwissenschaft herkommend sich der Geschichtswissenschaft zugewendet hat, erschließt besonders in den Abschnitten, die von den ersten kolonialen Expeditionen handeln, das Potential neuerer Theorien von Performativität. Manchmal führt das zwar zu einer arg gespreizten Ausdrucksweise. Man muss nicht schreiben: "Die Politik der Expedition war auf die Körper der Kolonialisierten gerichtet", wenn man von einer simplen Geiselnahme berichtet. Doch in der Schilderung der hybriden Zeremonien und Bekleidungsstrategien, die aus der Sicht eines frühen Protagonisten der Kolonialherrschaft wie Carl Peters die Landnahme durch den deutschen Kaiser beglaubigen sollten, bewährt sich der Ansatz ebenso wie in der des allerdings nur mittelbar erschließbaren Umgangs der etablierten Herren mit den Eindringlingen.

Eine Stärke des Buchs liegt darin, wie Pesek die afrikanische Perspektive auf die Landnahme überzeugend rekonstruiert. Eine in ihren Folgerungen erkennbare Konfrontation gab es zunächst nur mit dem unter britischem Einfluss agierenden Sultan von Sansibar und in von ihm beherrschten Küstenstädten, die dann früh und gewaltsam unter direkte deutsche Herrschaft gezwungen wurden. Im Landesinneren war das, was Peters in seinem zunächst halbprivaten Unternehmen als Eroberung nach Berlin meldete, nichts als ein befremdlicher Auftritt, dem nur das Verlesen eines deutschsprachigen, also unverständlichen "Schutzbriefs" des deutschen Kaisers und dann monate- oder gar jahrelang nichts folgte. Als in der Folgezeit immer öfter deutsche Truppen auftraten, wussten einheimische Herrscher sie in Auseinandersetzungen mit ihren Gegnern, angeblichen Rebellen, zu instrumentalisieren.

Gar nicht einfach ist für diese Frühzeit zu entscheiden, ob die Deutschen regionale Auseinandersetzungen für sich nutzten oder nicht umgekehrt sie benutzt wurden, um lästige Konkurrenten zu erledigen. Meist ohne Sprachkenntnisse und auf Dolmetscher angewiesen, im weithin unbekannten Gebiet einheimischen Führern vertrauend und weit entfernt von einer statistischen, verwaltungstechnischen Erfassung der fraglichen Gebiete blieb ihnen als Mittel, neben der Zeremonie, nur der Terror. So bestimmte die rassistische Meinung, Terror sei eben die Sprache, die der primitive Neger verstehe, als Folge tatsächlicher Schwäche exzessive Gewalt als Mittel schon früher Kolonialpolitik.

Gewalt war, wie Pesek am Beispiel des halb privaten Kriegs des deutschen Offiziers Tom von Prince gegen den Chief Mkwawa zeigt, auch durch Rache motiviert, in diesem Fall durch Rache für die deutlichste Niederlage der deutschen Kolonialtruppe, die ihr Mkwawa im Gefecht bei Rugaru beigebracht hatte. Diese Rache war maßlos - etwa 200 Deutsche und Hilfssoldaten waren gefallen, etwa 100.000 Afrikaner kamen in der Folge ums Leben. Pesek analysiert dies als Folge einer historischen Ungleichzeitigkeit: Einerseits führte eine moderne technisierte Armee Krieg gegen einen vormodernen Gegner, andererseits waren die wichtigsten deutschen Akteure charismatische Führergestalten, deren Verhalten in der bürokratisierten Heimat als abweichend gegolten hätten, die aber, kolonial legitimiert, atavistisch-grausame Impulse ausleben konnten. Das scheint ein Widerspruch, ist aber vielleicht keiner: Im Verlauf der Modernisierungen des 20. und frühen 21. Jahrhunderts sind Irrationalismen nicht verschwunden, sondern stets noch für rational nachvollziehbare Interessen eingesetzt worden. Grausamkeit gegenüber Afrikanern, hybrid als Nachvollzug dort eben üblicher Sitten begründet und real zumindest vor Entstehung der Massenmedien im Interesse der je fortgeschrittensten Staaten, wäre überzeugender als Kennzeichen der Moderne statt als ihr Anderes lesbar.

Pesek, der die sozialen Hintergründe der Kolonisatoren sehr genau nachzeichnet und vielleicht den Berliner Debatten zur Kolonialpolitik und ihren Auswirkungen auf die Praxis vor Ort mehr Aufmerksamkeit hätte schenken können, verfehlt nur an diesem Punkt die Ambivalenz der Moderne. Vieles hingegen stützt seine anderen Thesen, so zwei Bücher, in denen es um die spätere Geschichte der ostafrikanischen Kolonien und ihre Nachwirkungen geht.

Der 1870 geborene Paul von Lettow-Vorbeck zeichnete sich gegenüber vielen Offizieren im wilhelminischen Deutschland dadurch aus, dass er immer wieder Kolonialkriegserfahrungen suchte. So nahm er sowohl am Boxerkrieg in China als auch 1904 bis 1906 am genozidalen Feldzug gegen die Herero und später die Nama in Südwestafrika teil. Dabei sammelte er jene Kenntnisse über den Guerillakrieg, die er 1914 als Kommandeur der deutschen Truppen in Ostafrika anwandte. Tatsächlich war er im Ersten Weltkrieg unter militärischen Gesichtspunkten erfolgreich: Konnte zwar nicht die ganze Kolonie gehalten werden, so führte er doch die einzigen deutschen Kolonialkräfte, die bis zum Waffenstillstand 1918 nicht kapitulieren mussten. Dies begründete seinen Ruhm, zumal andere deutsche Erfolge in diesem Krieg selten waren. Auch waren die Illusionen von Abenteuer und Mannesmut, die über den Kampf im fernen Kontinent herrschen mochten, zur Legendenbildung besser geeignet als die Massaker in den Schützengräben an der Somme oder bei Verdun.

Uwe Schulte-Varendorff unternimmt es in seinem Buch über Lettow-Vorbeck, solche Legenden zu zerstören. Nachdem er Sozialisation und frühe militärische Erfahrungen des Offiziers skizziert hat, untersucht er die Auseinandersetzungen in Deutsch-Ostafrika hinsichtlich ihrer Bedeutung für den gesamten Krieg und der Opfer, die sie forderten. Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht desillusionierend. Kursierten früher Angaben von bis zu 400.000 Soldaten, die Lettow-Vorbeck in Afrika gebunden habe, so weist Schulte-Varendorff nach, dass nie mehr als knapp 50.000 alliierte Soldaten zeitgleich im Einsatz waren. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass alle späteren Behauptungen über die Fürsorge, die Lettow-Vorbeck deutschen Soldaten, afrikanischen Hilfstruppen und den für jede Bewegung notwendigen Trägern habe zukommen lassen, Propagandalügen sind. Untergebene waren für Lettow-Vorbeck nichts als Material, dies freilich in rassistischer Abstufung. Der Anteil der Deserteure unter den Afrikanern war sehr hoch, was sich leicht mit der Todesrate unter ihnen erklären lässt - und die war direkte Folge von Lettow-Vorbecks Befehlen, wem in der "Schutztruppe" die knappen Ressourcen an Verpflegung und medizinischer Versorgung zugute kommen sollten.

Da kaum ein Afrikaner freiwillig für die Deutschen kämpfen und wohl niemand ihnen ihre Lasten tragen oder die Ernte abliefern mochte, waren Zwangsrekrutierungen und brutaler Raub die Konsequenz. Was an Lebensmitteln nicht gestohlen werden konnte, wurde vernichtet, damit es nicht dem Feind in die Hände fallen konnte. Die Gesamtzahl der afrikanischen Opfer schätzt Schulte-Varendorff überzeugend auf etwa 700.000: ausgezehrt gestorbene Träger, Tote bei "Strafexpeditionen" in widerständische Gebiete und vor allem Verhungerte in den Gebieten, in denen Lettow-Vorbeck seine Strategie der verbrannten Erde umsetzte.

Lettow-Vorbeck forderte von seinen Untergebenen bedingungslosen Gehorsam, den aber er keineswegs zu leisten bereit war; den ihm eigentlich vorgesetzten Gouverneur missachtete er ohne jede Rücksicht. 1919 kehrte der Kriegsverbrecher im Triumph in die Heimat zurück und bekam nach einer Reihe von Ehrungen vom Reichswehrminister Noske den Auftrag, demokratische Kräfte in Hamburg zu unterdrücken, was er mit erprobter Rücksichtslosigkeit auch tat. Zwar zeigt sich in Noske, wie sehr sich die SPD seit den Tagen Bebels verändert hatte, doch reichte dies Lettow-Vorbeck nicht. 1920 beteiligte er sich am Kapp-Lüttwitz-Putsch mit dem Ziel, die Weimarer Regierung durch eine rechte Diktatur zu ersetzen. Erneut gab es tote Zivilisten. Der Putsch scheiterte, was Lettow-Vorbecks militärische Laufbahn beendete; sein Kriegsruhm ersparte ihm die eigentlich fällige Anklage als Hochverräter. Doch nutzte er seine Reputation als Kolonialheld, um politisch tätig zu werden, zuerst als Abgeordneter der rechtsnationalistischen DNVP, später in der Konservativen Volkspartei und durchgehend im "Stahlhelm", mit dem er später in die SA überführt wurde.

Dabei wirkte er stets, auch nach 1933, propagandistisch. In Büchern, Aufsätzen und zahlreichen Reden forderte er, dass Deutschland die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Kolonien zurückerhalten solle. Der Kampf gegen die Linke und für die "Rassenhygiene" waren häufig wiederkehrende Themen. Selbst nach 1945 blieb Lettow-Vorbeck aktiv, wenn auch mit abnehmendem Publikum. Er verbreitete weiterhin die Unwahrheit über das angeblich harmonische Verhältnis zwischen Deutschen und Afrikanern in den Kolonien und zeigte noch 1957 in seiner Autobiografie Sympathien für Hitler. Hochgeehrt starb er 1964, von der Bundeswehr und dem damaligen Verteidigungsminister von Hassel gefeiert.

Schulte-Varendorff zeigt nicht nur das Leben Lettow-Vorbecks, sondern auch seinen bezeichnenden Nachruhm. Immer noch tragen Kasernen der Bundeswehr seinen Namen und sind etliche Straßen nach ihm benannt. Das ist in mehreren Fällen nicht einfach Geschichtsvergessenheit, sondern wurde trotz sorgsamer Information und Diskussion bewusst nicht geändert; Schulte-Varendorff nennt Beispiele, wie Vertreter von CDU, CSU, Freien Wählern, FDP und Republikanern auch heute zu Lettow-Vorbeck stehen und Kritik als kommunistisch geprägt zurückweisen.

Hier freilich zeigt sich eine Schwäche des sonst durchgehend überzeugenden Buches. Schulte-Varendorff weist anhand der Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg nach, wie Lettow-Vorbeck im Westen weiterhin verklärt wurde - was er als Ergebnisse der DDR-Geschichtswissenschaft referiert, ist jedoch von seinen eigenen Thesen kaum zu unterscheiden. Umso seltsamer erscheint, dass er die DDR-Forschung als ideologisch geprägt kritisiert. Zwar ist die Geschichtswissenschaft ein Fach, in dem der Westen nach 1989 seinen Alleinvertretungsanspruch besonders erfolgreich durchgesetzt hat und damit ein gefährliches Gebiet; doch sollte es sechzehn Jahre nach der deutschen Vereinigung allmählich möglich werden, Verdienste der Wissenschaft in der DDR wieder anzuerkennen.

Lebt Lettow-Vorbeck als wie auch immer umstrittener Namenspatron und Held eines romantisch-exotischen Kriegs als Safari fort - "Heia Safari" ist der Titel seines erfolgreichsten Buchs -, so dürfte gar nicht bekannt sein, dass die heutigen Staaten Ruanda und Burundi einmal als Bestandteil von Deutsch-Ostafrika deutsche Kolonien waren.

Faktisch kamen die beiden Regionen, denen schon vorher afrikanische Königreiche in etwa entsprachen, erst in der letzten Phase der ohnehin kurzen deutschen Kolonialherrschaft unter eine rudimentäre deutsche Verwaltung. Zwar wurden sie schon 1890 von England als deutsches Einflussgebiet anerkannt, doch erst sechs Jahre später begann die militärische Besetzung, und zu einer genauen Grenzziehung zwischen den deutschen, englischen und belgischen Kolonien kam es nicht vor 1910.

Helmut Strizek zeigt in seinem Buch über Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft nicht allein, wie die koloniale Machtausübung etabliert wurde und funktionierte. Er stellt auch die wichtigsten Personen vor, die die Kolonisierung trugen und durchführten - neben Militärs und Forschungsreisenden vor allem Missionare, denen er ein eigenes Kapitel widmet. War zwar das Kaiserreich protestantisch dominiert, so traten in Ruanda und Burundi, mit staatlicher Rückendeckung, vor allem katholische Missionare auf. Protestanten kamen spät und erzielten kaum Bekehrungserfolge; ein Beispiel für die religionspolitische Flexibilität der wohl persönlich kaum mehr christlichen Kolonialverwalter, die im sehr viel größeren Rest der Kolonie, wie Michael Pesek nachweist, den Islam als Disziplinierungsinstrument bevorzugten.

Heute sind Burundi und vor allem Ruanda als Land der Hutu und Tutsi berüchtigt und wird nach dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda von 1994 die Frage diskutiert, ob die ethnische Einteilung nicht erst ein Produkt kolonialer Herrschaftsstrategien sei. Strizek beantwortet diese Frage differenziert. Er legt dar, wie bereits vor der Kolonialisierung eine Tutsi-Minderheit auf keineswegs freundliche Weise ihre Macht über die Mehrheit der Hutu ausübte, wie dann aber die Kolonialherren die Differenzen für sich nutzten. Dies geschah auf unterschiedliche Weise: Im stärker hierarchisch aufgebauten Königreich Ruanda konnte ein nach internen Machtkämpfen bedrohter König die Deutschen nutzen, um sich innerhalb der Tutsi-Elite durchzusetzen, sein Reich zu arrondieren und Positionen der Hutu weiter zurückzudrängen. Im eher oligarchischen Burundi unterstützten die Deutschen mal diese, mal jene Adelsfraktion und sicherten sich so mit wenigen Soldaten, doch überlegener militärtechnischer Ausrüstung ihre Position.

In beiden Fällen wird deutlich, dass es eine einfache Dichotomie von weißen Tätern und schwarzen Opfern nicht gibt. In wechselseitigen Instrumentalisierungen gewannen auch manche der Afrikaner. Das setzte sich in der Geschichte Ruandas und Burundis nach dem Ersten Weltkrieg fort, zunächst unter belgischer Treuhandschaft. Etwas kursorisch skizziert Strizek die Rolle der katholischen Kirche, deren führende Vertreter zunächst mit zum Teil rassischen Argumenten die Höherwertigkeit der Tutsi begründet hatten, die sich jedoch allmählich der Erkenntnis öffnen musste, so zwar an der Macht teilzuhaben, doch die Mehrheit der Bevölkerung nicht zu erreichen. In den 1950er-Jahren rückte die Kirche an die Seite der Hutu, und mit der Unabhängigkeit der beiden Länder 1962 kam es zu Reformen im Sinne der bislang Benachteiligten, freilich auch zu Opfern unter den Tutsi.

Die folgenden Jahrzehnte sahen Radikalisierungen auf beiden Seiten, Massaker, aber auch von den 1970er-Jahren an in beiden Ländern Modernisierungsdiktaturen, die darauf zielten, die mittlerweile ethnisierten Klassengegensätze abzuschwächen. Strizek versucht, auch diese Zeit zu erklären, doch bleibt er auf knappem Raum notgedrungen oberflächlich. Das gilt besonders für die knappe Seite, auf der er Vorgeschichte und Ergebnis des Völkermords von 1994 zusammenfasst, der so als wenn auch verurteilenswerte, doch schwer vermeidbare Reaktion auf Aktionen einer Gruppe von Tutsi-Exilanten erscheint und zur Restauration einer überkommenen Machtordnung geführt habe.

Hier zeigt sich eine grundlegende Schwäche des Buches. Das an sich sinnvolle Unterfangen, entgegen dem seit einem Jahrzehnt üblichen Bild die Hutu nicht als die Bösen darzustellen, führt mehrfach zu gewagten Wertungen. Strizeks Belege zu den vorkolonialen Machtordnungen beruhen vielfach auf den unsicheren Eindrücken europäischer Reisender oder sind im Nachhinein angefertigt - Quellenkritik findet sich kaum je, übrigens auch nicht zur verharmlosenden Darstellung der Verwüstungen im Ersten Weltkrieg, zu dem die Erinnerungen des deutschen Gouverneurs als historisches Dokument statt als Beispiel kolonialer Propaganda zitiert ist.

Braucht aber Politik Gewalt, so braucht Gewalt Propaganda. Das wird deutlich in einem anderen Beitrag, der dem Genozid in Ruanda gewidmet ist. Bei Leonhard Harding steht der ruandische Völkermord weniger in einer Geschichte, die bis in die vorkoloniale Zeit zurückreicht, sondern gehört ganz in die Moderne, nämlich die ökonomische und politische Krisensituation der ostafrikanischen Gesellschaften Anfang der 1990er-Jahre. Erst in dieser Lage erschien es Angehörigen der Hutu-Mehrheit notwendig, Ideologien und Geschichtsbilder zu reaktivieren, die durch die auf Tutsi fixierte Kolonialordnung geschaffen worden waren. Damals war der ursprünglich soziale Gegensatz zu einem rassischen uminterpretiert worden, wobei es den Tutsi zum Vorteil gereichen sollte, Nachfahren angeblich hochwertiger Einwanderer zu sein. Aus den Einwanderern wurden in der Hutu-Propaganda nun Fremde, und aus Fremden Ungeziefer, das es zu vernichten galt.

Harding beansprucht allerdings nicht, damit eine hinreichende Erklärung für einen in der neueren Geschichte wohl beispiellosen Exzess an massenhafter Gewaltausübung gefunden zu haben. Immerhin verdeutlicht er die Wirkungsmacht einer Geschichtspolitik, die an eine kollektive Erinnerung anknüpft, auf aktuelle Nöte eingeht und eine Handlungsmöglichkeit zeigt. Sein Aufsatz in dem von Steffi Hobuß und Ulrich Lölke herausgegebenen Band "Erinnern verhandeln", der, so der Untertitel, "Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas" zum Thema hat, ist damit einem Fall gewidmet, der Verhandlungen gerade nicht kennt. Das aber, liest man die anderen Beiträge, scheint der Normalfall. Die Erinnerung scheint eher mit Konflikten verbunden, und zwar mit Konflikten zwischen Gruppen mit unterschiedlichen Zielen, die deshalb auch kein Interesse an Kompromissen haben können. Das zeigt die Mehrzahl der Aufsätze auf verschiedenen Ebenen.

Wie wenig sich die meisten Deutschen bisher mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinandergesetzt haben, welche Strategien dagegen sinnvoll sind, aber welche Widerstände es noch gibt, verdeutlichen Beiträge von Astrid Kusser und Susann Lewerenz zu einer Ausstellung von Bildern mit Kolonialmotiven, von Heiko Möhle über das Hamburger "Askari-Relief", das auch nach Schließung der dortigen Lettow-Vorbeck-Kaserne noch immer genutzt wird, um die koloniale Kriegsführung zu verklären, und von Steffi Hobuß unter anderem zu einem "African Village", das noch 2005 ausgerechnet in einem (dem Augsburger) Zoo etwas zum Begaffen bieten sollte, was nach Meinung der Veranstalter wohl authentisches "Negerleben" darstellte. Maguèye Kassé wendet sich vielleicht allzu höflich der frühen bundesrepublikanischen Außenkulturpolitik zu, die den deutschen Kolonialismus verklärte. Dem Leser stellt sich die Frage, ob es heute besser geworden ist oder raffinierter.

Der von deutschen Kolonialrevisionisten geprägte Topos von der vorbildlich menschenfreundlichen Afrikapolitik Deutschlands ist Thema mehrerer Beiträge. Man muss nicht so weit gehen wie Henning Melber, der die deutsche Kriegsführung gegen die Herero und die Nama im heutigen Namibia in eine Entwicklungslinie und sogar auf eine Stufe mit der Shoah stellt, denn die Unterschiede sind augenfällig: In Afrika ging es darum, als rassisch minderwertig klassifizierte Völker ohne Rücksicht auf Verluste unter der Zivilbevölkerung zu besiegen und in die Kolonialordnung einzupassen, weshalb die wenigen Gefangenen auch nicht gezielt ermordet wurden; im "Dritten Reich" sollten Juden ohne kriegerischen Anlass, ohne Ausnahme, als solche getötet werden. Auch war die Anzahl der auf deutscher Seite Beteiligten viel zu gering, um für Wehrmacht und SS stilprägend zu wirken.

Ist das Geschehene auch keine Shoah, so ist es doch Verbrechen genug. In welchem Maße es einerseits verleugnet wird, andererseits Moment von Erinnerungspolitik ist, weist für das ehemalige Deutsch-Südwestafrika neben Melber auch Reinhart Kößler nach, der sich mit dem zwischenstaatlichen Sonderstatus von "Deutschen" in Namibia beschäftigt. Stefanie Michels protokolliert Erinnerungen an die deutsche Herrschaft im ehemaligen Kamerun und verdeutlicht so die Spuren von Gewalt selbst da, wo oberflächlich betrachtet Positivität herrscht. Sie weist auch nach, dass sich unter jüngeren Wissenschaftler aus Kamerun ein skeptischerer Blick auf die deutsche Herrschaft durchsetzt und ein älteres, wenn auch noch wirksames Paradigma von Modernisierung ablöst. Wie und warum, das heißt: nach welchen Interessen auch manche Afrikaner den deutschen Kolonialismus verklären, legt Peter Sebald in einem instruktiven Beitrag dar. Deutlich wird einerseits, wie die Deutschen in der "Musterkolonie" Togo eine Militärdiktatur einrichteten und so Ansätze zu einer durchaus eigenständigen Entwicklung vernichteten. Andererseits entstand erst durch die Deutschen "Togo" als politischer Raum. Die neuen Eliten, die mit ihnen kollaborierten, mussten nach dem Ersten Weltkrieg für eine nachkoloniale Zeit gegen Briten und Franzosen eben auf dieses deutsche "Togo" als Staat hofften.

Beweist sich in Sebalds Arbeit die Geschichtswissenschaft als instruktiv, so gilt das auch für die Literaturwissenschaft. Ulrich Lölke liest Romane von John M. Coetzee und André Brink als Seismografen für koloniale Gewalt, und Leo Kreutzer unterzieht sich dem zweifelhaften Vergnügen, die weit mehr als tausend Seiten von Hans Grimms "Volk ohne Raum" zu lesen. In seinem Erfolgsroman aus den 1920er-Jahren lieferte Grimm ein wirksames Schlagwort für Expansionspolitik und dann auch den Zweiten Weltkrieg; dabei plagte ihn der Verlust der Kolonien. Kreutzer weist auf den Irrsinn hin, der Grimm leitete: Lange Zeit wanderten jährlich um die 100.000 Deutsche in die USA aus, 1904 lebten knapp 5.500 Deutsche in den Kolonien, die also zur Behebung einer angeblichen Raumnot alles andere als attraktiv waren. Doch wurde Grimm nicht ausgelacht, sondern gepriesen; was mehr über seine Zeit als über ihn selbst verrät.

Indem die Beiträger und Beiträgerinnen auch politisch ebenso fundiert wie streitbar Stellung beziehen, ist der Band ein erfreuliches Beispiel engagierter Wissenschaft; indem aber mit Gedächtnis und Erinnerung ein beliebtes, wenn nicht gar modisches Thema der gegenwärtigen Kulturwissenschaft aufgegriffen wird, findet sich doch immer wieder eine Begriffsdiskussion, die fern der verhandelten Gegenstände wirkt. Überlegungen nebst Abgrenzungen, welche Kategorien von Maurice Halbwachs oder Jan und Aleida Assmann für koloniale Fragen produktiv gemacht werden können oder eben nicht, tragen kaum zur Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse bei. Auch dort, wo wie in Johannes Fabians Aufsatz zu Erinnerung und Gegen-Erinnerung eine überzeugende Kritik harmonisierender Ansätze bei den Assmanns geleistet ist und Volker Paulmann und Steffi Hobuß Interessantes zur Gedächtnis-Diskussion beizutragen wissen, fragt es sich, ob nicht der Aufwand übertrieben ist. Wahrscheinlich sind gerade diejenigen Bücher, die heute im wissenschaftlichen Diskurs en vogue sind, Objekte eines name-dropping geworden, bei dem die Implikationen der einzelnen Ansätze kaum mehr eine Rolle spielen.

Zum anderen entsteht gerade da, wo gedächtnistheoretische Zuspitzungen zu erkenntnistheoretischen Konsequenzen führen könnten, ein Problem. Wenn Geschichte nur als Erinnerung besteht, dann fragt es sich für eine engagierte Wissenschaft, wie man denn die Gleichgültigkeit gegenüber unterschiedlichen Erzählungen überwinden kann. Wahrscheinlich sind es, ganz traditionell, doch die im Archiv überlieferten Schriften, anhand derer sich die eine Erzählung als wahr und die andere als falsch erweist und der Historiker, der die Akten liest, dem Theoretiker der Erinnerung überlegen ist.

Das ist ein Modell von Wissenschaft, das auf Schriftkulturen fixiert ist. Es widerspricht darin den philosophischen Überlegungen von Jacob Emmanuel Mabe, der in seinem Aufsatz zunächst eine sehr vereinfachende Gegenüberstellung von europäischen Tätern und afrikanischen Opfern aufbietet, um dann im Gegenzug ein "universales Prinzip der kolonialen Wahrnehmung" zu fordern, demzufolge das schriftliche Archiv der Kolonisierenden mit dem lange Zeit mündlich Überlieferten der Kolonisierten zu kombinieren sei. Erlaubte es eine solche "Konvergenzhistorik" zwar, bislang ausgeschlossene Stimmen hörbar zu machen, so stellt sich doch die Frage, wie eine notwendige Quellenkritik durchzuführen ist. Die nicht immer zuverlässigen Ergebnisse einer oral history, wie sie von europäischen Geschichtswerkstätten gesammelt wurden, sind hier gerade wegen der Unsicherheit von Erinnerungen über Jahrzehnte hinweg wohl eher eine Warnung.

Das Problem ist eines der Macht, vergangener wie gegenwärtiger: Die Kolonisierten wurden über Jahrzehnte daran gehindert, sich zu äußern und wirkungsmächtige Institutionen auszubilden. Doch kann dieser Mangel nicht dadurch behoben werden, kurzerhand heutige - stets interessengeleitete - Erzählungen als authentisch zu stilisieren; und den Mangel, statt ihn hinwegzuschwindeln, ganz richtig zu konstatieren, bestätigt die herrschende Hierarchie. Angesichts dieser Aporie ist es das wohl Klügste, sich theoretisch dumm zu stellen: Denn aufmerksam zu lesen, was die Kolonialherren hinterlassen haben, beantwortet schon die meisten Fragen über ihre Taten oder Untaten.


Titelbild

Michael Pesek: Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika. Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
354 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 359337868X

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Steffi Hobuß / Ulrich Lölke: Erinnern verhandeln. Kolonialismus im kollektiven Gedächtnis Afrikas und Europas.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2006.
271 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3896916432
ISBN-13: 9783896916433

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Helmut Strizek: Geschenkte Kolonien. Ruanda und Burundi unter deutscher Herrschaft.
Ch. Links Verlag, Berlin 2006.
224 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3861533901

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Uwe Schulte-Varendorff: Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck - Mythos und Wirklichkeit.
Ch. Links Verlag, Berlin 2006.
217 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3861534126

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Mechthild Leutner (Hg.) / Klaus Mühlhahn: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901.
Ch. Links Verlag, Berlin 2007.
270 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783861534327

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