Zufallsbekannschaften und Wegbegleiter

Michael Ondaatje spinnt ein Geflecht kurioser Begegnungen

Von Gesa HinrichsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gesa Hinrichsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind die Geheimnisse, die uns an einem Menschen faszinieren. Die Begegnungen, die er im Laufe seines Lebens macht, die Wege, die sich immer wieder kreuzen, die Erfahrungen, die ihn verändern. Michael Ondaatje lässt uns zwei Romane lang am Schicksal zweier eng miteinander verknüpfter Charaktere teilhaben: gemeint sind Patrick Lewis und seine Stieftochter Hana. Um die Protagonisten ranken sich skurrile, liebenswerte und vom Schmerz zerfressene Figuren, solche, die sich auf den ersten Blick leicht zu erschließen scheinen und solche, deren Abgründe von vornherein klar gezeichnet sind. Eine von ihnen, Caravaggio, Dieb und Charmeur, bildet die Klammer der beiden Bücher. Im Roman "In der Haut eines Löwen" verhilft er Patrick zur Flucht aus dem Gefängnis, wodurch eine tiefe Freundschaft zwischen Ihnen entsteht. In "Der Englische Patient" sucht Caravaggio Hana wieder auf, zufällig hatte er von einer Krankenschwester gehört, die aus Kanada dorthin gekommen ist und deren Beschreibung auf eben jenes Mädchen passt, das er Jahre zuvor einmal gekannt hat. Neugier und die Sehnsucht nach längst vergangen Tagen treiben ihn nun wieder in die Arme einer Geschichte, die für ihn schon längst ein Ende gefunden hatte.

Ondaatje gibt jedem Charakter die Möglichkeit, sich dem Leser zu präsentieren und die ganz eigene Geschichte zu erzählen. Dabei ergreift er nicht Partei, sondern lässt die Figuren ganz einfach aus ihrem Blickwinkel erzählen. Die Schnittstelle, die sie verbinden, werden durch die Orte, an denen sie sich aufgehalten haben, definiert und dadurch geradezu greifbar. Zufälligkeiten scheinen ursächlich zu sein, dass die Personen in Kontakt treten und wieder voneinander scheiden. Die Schwierigkeit, jeder Figur ihren Platz innerhalb dieser Geschichte zuzuweisen, ohne den Faden zu verlieren, bewältigt Ondaatje meisterhaft.

Die Geschichte um Hana und Patrick nimmt in den zwanziger Jahren in Kanada ihren Lauf. Aus den tiefen Wäldern einer Gegend, die erst seit 1910 auf den Landkarten verzeichnet ist, kommt Patrick Lewis nach Toronto, in eine Stadt, die vor Vitalität aus allen Nähten platzt und bevölkert ist von Brückenbauern, Tunnelgräbern und Emigranten aus Süd- und Osteuropa. Zunächst ein Fremder im eigenen Land, wird Patrick allmählich zu einem Teil dieser neuen Welt. Menschen kreuzen seinen Weg, begleiten ihn ein Stück weit, verschwinden und kommen wieder: Ambrose Small, der vermisste Millionär; dessen Geliebte Clara, in die sich auch Patrick verliebt; Caravaggio; Temelcoff, der mazedonische Brückenbauer; die Anarchistin Alice Gull, die niemand anderes ist als jene Nonne, die einst von der Brücke stürzte und in die Arme von Temelcoff fiel. "All diese Fragmente einer menschlichen Ordnung, die nicht von der Familie beherrscht wurde, in die er geboren worden war, nicht von den Schlagzeilen des Tages [...] - der Schutt und das Chaos dieser Zeit waren damit umrissen."

Und genau in diesem Knäuel von Personen entspinnt sich eine Geschichte, die ebenso Platz für die Liebe, wie für politische Kämpfe lässt. Ondaatje entwickelt ein Geflecht, das einem Spinnennetz gleicht: Knotenpunkte und Phasen absoluter Berührungslosigkeit. Doch so weit sich die Menschen auch voneinander entfernen, so zufällig die Begegnungen auch begonnen haben mögen und so wenig die einzelnen Charaktere gemein haben - Ondaatje gelingt es auf wundersame Weise, jedem von ihnen zu folgen. Er gibt seinen Figuren Zeit, ihre eigene Geschichte zu entwickeln und weiterzuführen und lässt sie für eine gewisse Zeit aus dem Blickfeld des Lesers verschwinden, um sie dann um so plötzlicher wieder auftauchen zu lassen.

So sitzt also nun Patrick mit seiner Stieftochter Hana im Auto und erzählt ihr die Geschichte seines Lebens. Und mit seiner Geschichte erzählt er von all den anderen Figuren, die in sein Leben getreten und einen Platz darin gefunden haben.

Hana wiederum lässt uns vier Jahre später an ihrer Biografie teilhaben. 1945, sie ist inzwischen zwanzig Jahre alt, finden sich in den letzten Tagen des Krieges vier Personen in einer zerbombten toskanischen Villa ein. Neben Hana der "englische Patient", von dem niemand weiß, wer er wirklich ist, Caravaggio, Alliiertenspion und Freund ihres Vaters, sowie Kip, Spezialist im Entschärfen von Bomben und Hanas Liebhaber. Durch Hana erfahren wir von Patricks Tod, der sie schwer getroffen hat, auch erinnert Ondaatje immer wieder an Clara, Alice und natürlich an die Geschichte Caravaggios.

In diesem "Folgeroman" lässt er die Figuren selbst zu Wort kommen, wie schon "In der Haut eines Löwen". Der englische Patient, der eigentlich Ungar ist, erinnert sich nach und nach an die tragischen Umstände seines Flugzeugabsturzes und an eine unglückliche Liebe. Caravaggio berichtet von grausamen Foltermethoden, bei denen er beide Daumen eingebüßt hat; gern erinnert er sich an die Zeit in Kanada. Kip schließlich lässt außer dem Leser nur teilweise Hana an seinen Erfahrungen und persönlichen Verlusten im Krieg teilhaben. Alle vier haben die Grausamkeiten des Krieges am eigenen Leib erfahren. Ohne unnötige emotionale Färbung lässt Michael Ondaatje seine Charaktere ihre Geschichten erzählen.

Wiederum gelingt es ihm, ein Geflecht zu entwickeln, das zu entwirren Aufgabe des Lesers ist. Doch gibt es hier nur einen relevanten Knotenpunkt - die toskanische Villa. Caravaggio kennt zwar sowohl den englischen Patienten als auch Hana aus der Vergangenheit, doch das Kreuzen verschiedener Wege, das im Roman "In der Haut eines Löwen" die Erzählweise dominiert, ist hier nur sporadisch zu finden. Die Faszination der Bücher Michael Ondaatjes geht von der brillanten Sprache aus: "Worte [...] haben Macht. [...] Wer redet, verführt, Wörter bringen uns in die Klemme. Vor allem wollen wir wachsen und uns verändern." Ondaatje weiß um diese Macht. Feinfühlig, doch nicht emotional überfrachtet zeichnet er die Wege und die Schicksalsschläge nach. Er stellt Episoden nebeneinander, Handlungsstränge überlagern und entfernen sich wieder. Der Leser benötigt Aufmerksamkeit, um den geschickt angelegten Pfaden folgen zu können. "Der erste Satz jedes Romans sollte lauten: 'Glaub mir, das hier wird Zeit in Anspruch nehmen, doch es gibt hierin auch Ordnung, sehr schwach, sehr menschlich.' Irre umher, wenn du in die Stadt willst". Das Umherirren lohnt sich.

Titelbild

Michael Ondaatje: In der Haut eines Löwen.
Carl Hanser Verlag, München 1990.
248 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3446153306

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Michael Ondaatje: Der englische Patient. Übersetzt aus dem Englischen von Adelheid Dormagen.
dtv Verlag, München 1997.
328 Seiten, 7,60 EUR.
ISBN-10: 3423084049

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