Die Raben und die Kuckuckseier

Avirama Golan erzählt in "Die Raben" von zwei jüdischen Frauen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Raben sind gefährlich. Nur aus sicherer Entfernung kann man beobachten, wie sie ihre Jungen aufziehen. Kommt man dem Nest zu nahe, wird man angegriffen, verfolgt, verjagt. Na'ama ist zwölf Jahre alt, als sie diese Erfahrung macht, als ihr Großvater, Biologielehrer und Ornithologe in einem Kibbuz, ihr diese schlauen Vögel zeigt, ihr erklärt, wie sie sich verhalten muss, um diese hingebungsvollen Eltern nicht aufzuscheuchen. Aber die Kleine sieht auch, dass die Raben eine Gefahr gar nicht bemerken: die Kuckuckseier, die kleinen Küken, die ihnen fremde Vögel ins eigene Nest gelegt haben: "Wie kommt es, dass ausgerechnet die Raben, von denen Großvater sagt, dass sie zwischen einem Besenstiel und einem Gewehr unterscheiden können, nicht merken, dass die zusätzlichen Eier zwar hellblau sind mit hell- und dunkelbraunen Sprenkeln, aber kleiner und runder als ihre eigenen? Und wie kommt es, dass die Raben, die es sogar schaffen, große Vögel zu verscheuchen, nicht in der Lage sind, sich gegen den Schnabel eines Kuckucks zu verteidigen, der die Rabenküken zu Tode quält und sie manchmal noch in der Schale ermordet? Vielleicht deshalb, weil es auf der ganzen Welt kein Geschöpf gibt, das unverwundbar ist."

Diese fast überdeutliche Metapher durchzieht das Buch von Avirama Golan, der israelischen Journalistin und Autorin, Fernsehmoderatorin und Mitherausgeberin der Tageszeitung "Ha'aretz". In zwei Frauen beschreibt sie zwei unterschiedliche, ja gegensätzliche Muttertypen: Genia, eine "jiddische Mamme", immer besorgt, immer alles unter Kontrolle haben wollend, immer die große Übermutter, die alle beschützt und dabei erstickt und erdrückt, und Didi, die im Kibbuz aufwuchs und unter zu wenig Nähe und Wärme leidet. Beide sind Überlebende, nicht des Holocaust, sondern Überlebende zweier gegensätzlicher Familienideologien.

Genia ist achtzig Jahre alt, hat eine Putzneurose und einen Verschwörungswahn. Um einem Pogrom in ihrer Heimat, der Ukraine, zu entgehen, ist sie mit ihrem Mann in den 1930er-Jahren nach Palästina gezogen, hat zwei Kinder bekommen, Rami und Rivka, und sich allmählich ihrem Mann entfremdet. Denn sie ist aus gutem Haus und leidet unter den etwas ärmlichen Verhältnissen in Israel. Dafür tyrannisiert sie ihre Familie, weiß alles besser und hat damit allmählich ihre Kinder vertrieben: Rami wird Offizier in einer Eliteeinheit der Armee und kommt bei einem Unternehmen ums Leben, Rivka wird magersüchtig und hat ständig wechselnden Männerverkehr.

Einmal lernt sie Didi kennen, die für das Fernsehen eine Dokumentarfilmserie über Mütter dreht, die ein Kind verloren haben. Didi, die Genia nicht mag und sich ihr dann doch annähert, ist jünger, Mitte vierzig, im Kibbuz aufgewachsen mit der Ideologie der Gemeinsamkeit, des Kollektivs. Diesem Gedanken opfern die Kibbuzfrauen auch ihre Kinder, die im Kinderhaus aufwachsen, und die Nähe zu ihnen.

Avirama Golan erzählt mittels dieser beiden Frauen die gesamte Geschichte Israels. Ihre Sprache ist nicht linear, nicht typisch für Familien- und Frauenromane. Sie unterbricht ständig den Erzählfluss, deutet Geschichte und Geschichten manchmal nur kurz an, erklärt aber nicht genau, entwickelt den Roman nicht chronologisch. Die Lebenswege der Frauen werden nebeneinander gestellt, überlappen sich, werden abgebrochen und später wieder aufgenommen. Immer wieder werden sie durchbrochen von inneren Monologen anderer Figuren.

So ist Golan ein Roman gelungen, der in einer aufregenden Sprache ein großes moralisches Anliegen vorträgt. Glücklicherweise schwingt der Anspruch immer nur mit, steht nie im Vordergrund, entwickelt sich fast immer mit den Figuren und ganz natürlich. Sie erzählt in ihrem Mosaik auch von der gegenwärtigen israelischen Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne, unsicher und geschwächt, zwischen Gewalt und Aufbruch zum Frieden.


Titelbild

Avirama Golan: Die Raben. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
220 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418819

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