Umfassend und dennoch verkürzt

Zu Walter Berneckers "Spanien-Handbuch. Geschichte und Gegenwart"

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spanien ist seit vielen Jahren eines der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen, die spanische Sprache wird immer beliebter in Deutschland, und die spanische Geschichte und Gegenwart erfährt in der deutschen Öffentlichkeit eine immer größere Beachtung. Motiviert von dieser Interessenslage legt der deutsche Hispanist Walther Bernecker einen Band vor, der sich zum Ziel setzt, der "deutlich gestiegenen Nachfrage nach Information zu Spanien" in Form eines Spanien-Handbuchs gerecht zu werden.

Als ausgewiesener Kenner des Landes, holt Bernecker weit aus und versucht dem Untertitel - "Geschichte und Gegenwart" - gerecht zu werden. Die rekonstruktiv ausgerichtete Arbeit - wir können die Gegenwart nicht verstehen, ohne ihrer historische Entwicklung zu berücksichtigen - kommt sympathisch und sehr informativ daher. Die thematischen Schwerpunkte Politik, Wirtschaft und Bevölkerung/Gesellschaft werden klar und deutlich aus einer historischen Perspektive beleuchtet und die Entwicklung bis in die jüngste Gegenwart nachgezeichnet - in zahlreichen und knapp gehaltenen Unterkapiteln, die unterschiedlichsten Aspekten der politischen Geschichte, der wirtschaftlichen Strukturen und der gesellschaftlichen Entwicklung Spaniens gewidmet sind.

Bernecker will das Verständnis der gegenwärtigen sozialen Konflikte und Herausforderungen Spaniens mit einem sozialhistorisch geschärften Blick in die politische Vergangenheit des Landes erleichtern. Der Mythos der "zwei Spanien", das heißt die politisch-ideologische Zweiteilung in die unversöhnliche Polarität zwischen dem "nationalistisch-konservativen, ländlich-katholischen, autoritär-monarchischen" und dem "progressiv-weltbürgerlichen, urban-antiklerikalen, liberal-republikanischen" Spanien, wird in der Ausleuchtung der Geschichte fruchtbar gemacht. Die zentralen politischen und ökonomischen Konfliktlinien, die sich in der bewegten Geschichte des spanischen 20. Jahrhunderts (der Bürgerkrieg von 1936 bis 1939, der "Franquismus", der relativ friedliche Übergang vom autoritären System in die "Demokratie" 1975 ff.) entfaltet haben, werden knapp aber dennoch präzise dargestellt.

Die Darstellung der politischen Geschichte wird hierbei geschickt eingewoben in die Rekonstruktion der ökonomischen Entwicklung. Die widersprüchliche Entfaltung des Kapitalismus in Spanien wird so, in gekonnt sozialhistorischer Manier, gekoppelt an politische und gesellschaftliche Entwicklungen analysiert: die Entwicklung der unterschiedlichen Produktionsweisen impliziert immer auch spezifische Wirkungen auf die Sozialstruktur, wie Bernecker an der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Spaniens zu verdeutlichen vermag.

Indem Bernecker die ökonomische Entwicklung in Beziehung setzt zum Aufkommen politischer Emanzipationsbewegungen, vermag er die politischen Konsequenzen aufzuzeigen, die aus ökonomischen Widersprüchen hervorgehen können. Er geht hier von der Herausbildung des Klassenbewusstseins der spanischen Arbeiterschaft in den1830er-Jahren, über die Gründung der ersten spanischen Gewerkschaft 1842 bis hin zum Aufleben des katalanischen und baskischen Regionalismus. Die Art und Weise, wie Bernecker die komplexen historischen Stoffe knapp zusammenfasst und die Widersprüche verständlich macht, verdeutlicht, warum Bernecker als Experte auf dem Gebiet der Geschichte der Arbeiter- und sozialen Bewegungen Spaniens gilt.

Doch das Spanien-Handbuch bietet nicht nur eine Darstellung historischer Zusammenhänge, sondern selbst über die jüngste, politische Geschichte Spaniens wird der Leser unterrichtet, zum Beispiel indem die zentralen Projekte und Konflikte der einzelnen Regierungen seit 1982 skizziert werden. Ebenso wird das gegenwärtig virulente Problem des ,peripheren Nationalismus' in Katalonien, Galicien und dem Baskenland thematisiert, zum einen auf der verfassungsrechtlichen Ebene (zum Beispiel mit der Interpretation des Verfassungstextes im Hinblick auf die Nationalitätenfrage und den "plurinationalen Charakter Spaniens"), auf der Ebene der Diskussion der Rechte der einzelnen Autonomen Gemeinschaften (samt den mit eigenen Kompetenzen ausgestatteten regionalen Untergliederungen) wie auch in einer exemplarischen Fallstudie des "baskischen Nationalismus".

Ein negativer Punkt ist jedoch in dem Wegfallen kultureller Aspekte zu sehen. Durch das Setzen der thematischen Schwerpunkte auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft fallen leider wichtige und spannende Themen der spanischen Gegenwartsgesellschaft unter den Tisch. Eine Beschäftigung mit der jüngst aufgelebten Diskussion um die Erinnerungskultur und Vergangenheitspolitik wäre ebenso wünschenswert gewesen wie eine Auseinandersetzung mit den "Identitätskonflikten" (Region vs. Nation vs. Europa) oder dem Sprachenkonflikt in den mehrsprachigen Regionen. Trotz dieser Einwände behält der Verfasser wahrscheinlich recht, wenn er schreibt, dass durch eine Erweiterung des Buches um den Themenbereich "Kultur" nicht nur der Umfang eines "Handbuchs" gesprengt worden wäre, sondern diese auch eine "nicht zu bewältigende inhaltliche und methodische Ausweitung" bedeutet hätte.

Lobenswert an dem Handbuch ist, dass trotz der "kulturellen Engführungen" ein sehr guter Einblick in die Gegenwart der spanischen Gesellschaft gegeben wird. Der für das Genre der "landeskundlichen Handbücher" sonst typische Hang zur Vereinfachung und allzu glatten Darstellung wird geschickt vermieden. Grundlegende Konflikte werden benannt und Bernecker scheut sich auch nicht, diese realistisch darzustellen. Dies wird klar, wenn er zum Beispiel problematische Entwicklungstendenzen in der spanischen Wirtschaft unverblümt anspricht oder die Zukunftsprobleme, vor denen die Gewerkschaften angesichts der Globalisierung und strukturellen Stärke der Arbeitsgeber gestellt sind. Am letzten Beispiel wird darüber hinaus noch deutlich, dass es Bernecker gelingt, sonst unerwähnte und gar unpopuläre Themengebiete wie zum Beispiel die Geschichte und gegenwärtige Lage der Arbeiterbewegung in seine Darstellung mit aufzunehmen.

Alles in Allem löst der Autor sein Vorhaben, in die Geschichte und Gegenwart Spaniens einzuführen, sehr gut ein. Trotz der kulturwissenschaftlichen Engführung gehört der Band zu einem Muss für alle, die einen ernsthaften Einstieg in das Studium des manchmal so rätselhaften Landes auf der iberischen Halbinsel erwägen. Die angesprochene Verkürzung wiegt ohnehin nicht allzu schwer, da durch die umfangreichen Literaturangaben das Erschließen nicht problematisierter Themen stark erleichtert wird.

Höchst umfassend und dennoch verkürzt: das notwendige Paradox eines Projektes, in die "Geschichte und Gegenwart Spaniens" lehrbuchmäßig einzuführen. Das Spanien-Handbuch des Doyens der deutschen Gegenwartshispanistik überzeugt: Ein erschlagender Umfang, der trotz der nur einführenden Ausführungen und dank der thematisch gegliederten Literaturhinweise einen guten Einstieg in das vertiefte Studium einzelner Themenpunkte liefert.


Titelbild

Walther L. Bernecker: Spanien-Handbuch. Geschichte und Gegenwart.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2006.
461 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3825228274

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