Kein Platz für Maikäfer

Matti Münch untersucht "Mythos und Alltag" der Schlacht von Verdun

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der kollektiven Erinnerung an den Ersten Weltkrieg entwickelte sich schnell ein Trend zur Fixierung auf die Schlachtfelder der französischen Westfront. Wenn vom "Großen Krieg" die Rede ist, dann denken die meisten noch heute an die schlammigen Schützengräben und den festgefahrenen, mörderischen Stellungskampf, an Trommelfeuer und stinkende Unterstände. Selbst in der Geschichtswissenschaft hat sich dieser bezeichnende Automatismus noch bis vor wenigen Jahren auf diskursbestimmende Weise bemerkbar machen können.

Neuere Beiträge, wie sie etwa der Fotohistoriker Anton Holzer publiziert hat, weisen jedoch seit geraumer Zeit darauf hin, dass über diese unablässige Beschwörung der Westfront viele Massaker, die vor allem an den (süd-)östlichen Schauplätzen des Ersten Weltkriegs verübt wurden, schlicht vergessen worden sind. Dabei waren es gerade diese Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, die im 20. Jahrhundert Schule machen sollten: Ethnische Vertreibungen, Massenvergewaltigungen und willkürliche Gemetzel unter der Zivilbevölkerung, wie sie etwa in Serbien von k.u.k-Truppen durchgeführt wurden, prägten den Vernichtungskrieg der nationalsozialistischen Wehrmacht vor. Solche Exzesse wurden zum Teil sogar bereits während des Ersten Weltkriegs untersucht, mit unzähligen Fotos dokumentiert - und später dennoch von den maßgeblichen Vermittlungsinstanzen gesellschaftlichen Erinnerns tabuisiert beziehungsweise aus dem kollektiven Gedächntis verbannt.

Matti Münchs Dissertation "Verdun. Mythos und Alltag einer Schlacht" scheint sich also zunächst einmal einem Thema zu widmen, das ganz und gar in der Perspektive des historiografischen Mainstreams verharrt. Die Studie vermittelt schon beim Blick in ihre Gliederung den Eindruck einer reichlich einsilbig und ideenlos wirkenden Ansammlung alltagsdokumentarischer Evozierungen des Soldatenlebens vor Verdun: "Das Schlachtfeld", "Witterung", "Tag und Nacht", "Gerüche und Geräusche des Schlachtfeldes" - so oder ähnlich lauten viele der Kapitelüberschriften der zum Großteil auf kriegsliterarischen Quellen à la Ernst Jünger oder auch der Auswertung von Feldpostbriefsammlungen basierenden Darstellung.

Der laut Verlagsangabe als "Lehrer am Gymnasium Haigerloch im Zollernalbkreis" arbeitende Autor verfolgt mit seiner Studie, mit der er sich an der Universität Konstanz promoviert hat, jedoch alles andere als eine Zementierung fragwürdiger geschichtspolitischer Mythen. Unter der Berücksichtigung der Theoreme des Soziologen Maurice Halbwachs', wie sie Jan und Aleida Assmann in ihrer Untersuchung kollektiver Gedächtnisdiskurse weiterentwickelt haben, sieht sich Münch am Ende seiner Arbeit nämlich veranlasst, den "Mythos" einer Einmaligkeit der mörderischen Materialschlacht von Verdun zu dekonstruieren. Es gebe keine historiografisch belegbaren Anhaltspunkte, die es erlaubten, die Behauptung einer Singularität oder auch nur besonderen Grausamkeit der Kämpfe um Verdun zu stützen, folgert der Autor - unter anderem aus seinen einleitenden Betrachtungen des Frontalltags der Soldaten, der an Schauplätzen wie der Somme ganz ähnlich ausgesehen habe.

Gleichwohl ist "Verdun" zu einer Art Zauberwort geworden, wie Münch unter anderem in seinem Kapitel zur bundesdeutschen Gedächtnisgeschichte, "Vom Superlativ zur Alltagsmetapher", zeigt. Der bloße Stadtname Verduns solle in Politik, Funk und Fernsehen zunehmend ein Grauen symbolisieren, das kaum noch jemand bekannt ist und mit dem man gerade deshalb andere Orte deutscher Kriegsgeschichte, die wesentlich unangenehmer klingen, bestens relativieren kann: "Es war die grausamste und längste Schlacht des Ersten Weltkrieges - ein Blutzoll, der umsonst gezahlt wurde", raunt etwa der von Münch zitierte ZDF-Historiker Guido Knopp, als wolle er die alten Klagen der "Dolchstoßlegende" wieder aufwärmen. Zumindest provoziert Knopp mit seiner Behauptung die Gegenfrage, ob es etwa derartige militaristische "Blutzölle" gebe, die sich auszahlten?

Besonders haarsträubend aber zeigt ein von Münch angeführtes, schon älteres Zitat des Lyrikers Gert Heidenreich aus seinem Gedichtband mit dem soldatisch anmutenden Titel "Eisenväter" (1987), wie verharmlosend und geschichtsklitternd haltlose Superlativierungen Verduns wirken können. "Verdun" nennt der Dichter an erster Stelle vor einem der Hauptvernichtungslager der Shoah - und wirft die Schlacht noch dazu mit einem atomaren Super-GAU in einen Topf, der wohl am allerwenigsten mit dem Verbrechen eines intendierten Völkermords durch die Deutschen vergleichbar ist: "Verdun, Auschwitz, / Hiroshima, Tschernobyl sind die / Städte des Eisengeschlechts, die / Vornamen meines Jahrhunderts".

Allerdings fällt Münchs "Fazit" (ein in stilistischer Hinsicht 'verbotenes' Wort, das der Autor jedoch am Ende fast jedes Kapitels benutzt) zu diesen beängstigenden geschichtspolitischen Phänomenen ziemlich knapp aus - zumindest im Vergleich zu seinen dokumentarischen Kapiteln, die weite Teile des Buchs beanspruchen und dabei bloß Altbekanntes rekapitulieren. Merkwürdig sind in der Studie zudem übertrieben ausführliche Beschreibungen wie die zerschossener Wälder und fehlender grüner Wiesen auf den braunen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs. So habe der Soldat Cordt von Brandis 1916 die Maikäfer Verduns deshalb bedauert, weil es dort "kein grünes Blättchen" im "Grau des zerwühlten Bodens" mehr gegeben habe.

Solche Details müssen den baden-württembergischen Geschichtslehrer neben den Dokumenten zum kollektiven Massenmorden besonders erschüttert haben: "Obwohl sich in den Quellen keine Hinweise darauf finden, dass sich die Zeitgenossen bereits Gedanken über die langfristigen ökologischen Folgen und Einwirkungen beispielsweise des Trommelfeuers auf die Landschaft an der Maas Gedanken gemacht hätten", kann sich der Schwabe zu bemerken nicht verkneifen, "registrierten viele Verdun-Kämpfer doch sehr wohl die Zerstörung". Nun ja: "Mythos Verdun" hin oder her - das dürften Probleme gewesen sein, die für die Soldaten an der französischen Front vielleicht doch eher zweitrangig erschienen.

An solchen Stellen entsteht der Eindruck, dass der Autor während seiner Recherchen auch einer gewissen hobbyhistorikerhaften Sammelwut erlegen sein könnte, die einer zielgerichteteren Strukturierung seiner voluminösen Untersuchung im Wege stand. Hinzu kommt ein analytisches Defizit. Schriftliche Quellen stehen bei Münch klar im Vordergrund, wobei ihre innere und äußere Kritik eher dürftig bleibt - falls sie überhaupt stattfindet. Filmische und fotografische Propaganda, wie sie im Ersten Weltkrieg beziehungsweise in seiner späteren Tradierung seit den 1920er-Jahren eine epochale mediale Umwälzung der kollektiven Erinnerungsdiskurse - und der Kriegsrepräsentation überhaupt - einleitete, lässt der Autor weitgehend außen vor. Damit bewegt sich seine Dissertation im Rahmen einer konventionellen Geschichtswissenschaft, die es nicht für nötig hält, den "Iconic Turn" nachzuvollziehen und intermediale Perspektiven zu berücksichtigen.

Überhaupt ist Münchs bienenfleißig erstellte Materialsammlung durch einen weitgehend nacherzählenden Duktus geprägt. Mit den paar Seiten am Ende, auf denen der Pädagoge die Terminologie der Assmans erwähnt, hat es sich in theoretischer Hinsicht auch schon. Und die schematischen Schaubilder, die der Autor diesen Erläuterungen an die Seite stellt, versuchen die vergleichsweise simplen Zusammenhänge auch noch in einer didaktisch anmutenden Form zu verdeutlichen, die vielleicht im Gymnasium als Powerpoint-Präsentation bei Schülern für Aufsehen sorgen würde, in einer Dissertation aber eher albern wirkt.

Und noch etwas. Abzuraten ist bei solchen Publikationen auch von "Nachworten", in denen peinliche Bekenntnisse und Danksagungen in einer Weise ausgewalzt werden, die den Rezensenten, der dort womöglich zuerst nachschlägt, dazu veranlassen könnten, gar nicht mehr weiter zu lesen. Er werde in seinem "Traumberuf" nicht ruhen, bis "alle Haigerlocher Schulabgänger ausnahmslos davon überzeugt sind, dass die Geschichte die Mutter aller Wissenschaften ist", dröhnt Matti am Schluss, erwähnt zu allem Überfluss auch noch seine Hobbies ("Jazz, Funk und Rock") und freut sich, dank des vielen Joggens während der Niederschrift seiner Arbeit nicht dem "Verdun-Trauma" anheim gefallen zu sein. Bruhaha: Wer sich in seiner Dissertation so offensiv als geistiger Schrebergärtner outet, unterschätzt die verhängnisvolle Wirkungsmacht derartiger Paratexte sträflich. Nachsitzen!


Titelbild

Matti Münch: Verdun. Mythos und Alltag einer Schlacht.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006.
565 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-10: 3899755782
ISBN-13: 9783899755787

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch