Ein Labyrinth, ein Buch, ein Leben

Pablo de Santis erzählt von einem Architekten in New York

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist das ein Krimi? Seltsamerweise wird er oft als solcher besprochen. Aber wo ist der Fall, wo ist der Tote, wo ist der Ermittler? In Pablo de Santis' Roman "Die sechste Laterne" gibt es das alles nicht. Sicher, es gibt Tote und spurlos Verschwundene, wie Balestris Frau oder seinen Chef, aber Tote gibt es in vielen Romanen und in jeder Biografie. Und es gibt Fälle: Am spektakulärsten ist der Fall des Chefarchitekten von seinem Hochhaus. Es gibt sogar Ermittler: Aber das sind, wie in jedem guten Roman, die Leser.

Der argentinische Romancier de Santis erzählt von Silvio Balestri, einem italienischen Architekten, der 1914 nach New York auswandert. Er sucht eine Stelle, er will seine Theorien verbreiten, und er will Häuser bauen. Er arbeitet zunächst im untersten Stockwerk des berühmten Architektenbüros "Moran, Morley & Mactran" als Kopist, steigt dann später auf in die höheren Etagen und wird einmal sogar mit einem Geheimauftrag betraut: Er soll herausfinden, wer von den drei Stararchitekten des Büros, die Balestri nicht kennt und die kaum jemand jemals sieht, die Pläne und Ideen immer an die Konkurrenz verrät.

Außerdem aber ist Balestri davon besessen, einen neuen, imposanten, gigantischen Turm zu bauen, das Sinnbild der neuen Welt, einen neuen Turm zu Babel, einem mit mesopotamischen Namen genannten "Zikkurat". Mit immer neuen Skizzen und Ideen befrachtet er diesen Turm, belädt ihn mit seiner Philosophie von der Stadt und den Hochhäusern.

Es gibt noch mehr seltsame Erzählstränge in diesem etwas labyrinthischen Roman: Als seine Frau spurlos verschwindet, geht Balestri eher aus Konvention denn aus Sorge zur Vermisstenstelle, freundet sich mit einem Polizisten ein wenig an und sagt am Schluss, nachdem er immer wieder zu unbekannten Frauenleichen gerufen wird, "Ja" zu einer, die ihn vage an seine erinnert. Er will wohl lieber seine Ruhe haben. Nach Jahren taucht sie wieder auf, verschwindet wieder und wird noch später tot aufgefunden. Dann gibt es im Roman Herrn Caylus, der in seinem Privatmuseum Modelle nicht gebauter Gebäude ausstellt: "Die Gebäude dieser Sammlung haben eins gemeinsam: Es sind einzigartige Originale. Hier ist nur Platz für all jenes, was scheiterte, was vergessen wurde." Balestri heiratet Caylus' Tochter, die so sehr Angst vor der Außenwelt hat, dass sie ihre Wohnung nie verlässt und sich mit Eifer auf Balestris Zikkurat-Projekt stürzt: Eine Welt des Inneren, die sie nie verlassen muss. Und außerdem wird Balestri von einem Geheimbund kontaktiert, dem "Club der sechs Laternen", der darauf achtet, dass die Hochhäuser "als gewichtige Symbole der Moderne auch die richtigen Botschaften aussenden". Welche Botschaften? Keine.

De Santis' Roman schwingt zwischen der intellektuellen Komik eines Vladimir Nabokov, dem labyrinthischen Humor eines Franz Kafka und den unendlichen Verzweigungen eines Jorge Luis Borges hin und her. Ganz lakonisch lockt er seine Leser in eine lebendige, fantastische, absurde Welt. Atmosphärisch beschreibt er das New York seiner Zeit, die Sucht nach Hochhäusern, den Zwang nach Höchstleistungen. Seine Personen verhalten sich aberwitzig und paradox und sind dennoch glaubhaft, denn de Santis erzählt leicht und gradlinig, auch wenn sich die Geschichte immer mehr verwickelt.

Es geht eigentlich vor allem um Bedeutungen, um Namen: Der Name ist eben nicht gleichbedeutend mit dem Gegenstand, den er bezeichnet. Ein richtiger Sinn ist nicht mehr erkennbar, weil er nicht benennbar ist. Oder er verschwindet, sobald er benannt wird, so wie Balestris Katze verschwindet, als sie nach vielen Jahren einen Namen bekommt. Es gibt in diesem biografischen Roman keinen "Sinn" im herkömmlichen Sinn. Es gibt nur Geschichten, die erzählt werden. Geschichten von Häusern und Menschen und Wegen, die sich verzweigen (wie Borges das einmal genannt hat). Denn das größte Labyrinth ist das Leben selbst. Und davon erzählt de Santis virtuos, mit einem Augenzwinkern und sehr ernsthaft. Wie man will. Und dann ist sein Buch vielleicht doch ein Kriminalroman, der davon erzählt, dass man letztendlich seine Ermittlungen doch nie abschließen kann, nie sicher sein kann, nie den "Sinn" erkennen kann.


Titelbild

Pablo De Santis: Die sechste Laterne.
Übersetzt aus dem Spanischen von Claudia Wuttke.
Unionsverlag, Zürich 2007.
256 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783293003729

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