Aus dem Geschlecht der Ruhestörer und Provokateure

Im September wäre Jurek Becker 70 Jahre alt geworden

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Als Jurek Becker, Sohn eines aus Litauen stammenden Angestellten und einer Polin, 1937 in Lodz geboren wurde, hätte es gewiss niemand für möglich gehalten, dass er einmal ein deutscher Schriftsteller sein würde. Krieg, Verfolgung und die Wirren der Nachkriegszeit haben auch das Leben Beckers schon früh aus der Bahn geworfen. Nicht einmal sein Geburtsdatum steht fest. Als der Krieg vorüber war, wurde dafür der 30. September 1937 eingesetzt, da die amtlichen Dokumente verloren gegangen waren, wahrscheinlich bei der Umsiedlung der jüdischen Familie ins Ghetto "Litzmannstadt" nach dem deutschen Überfall auf Polen. Ab 1943 ist Jurek dann in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen ,aufgewachsen'. Seine Mutter kam in einem der Lager ums Leben.

Auch wenn Becker später behauptete, sich an nichts mehr zu erinnern, und daher für seine literarischen Arbeiten nicht auf eigene Erfahrungen habe zurückgreifen können, so wurde diese Zeit doch zu einem seiner wichtigsten Lebensthemen, über das er in der Sprache jenes Landes schrieb, in dessen tödliche Fänge er durch Besatzung und Deportation geraten war.

Dank einer jüdischen Hilfsorganisation hatte er nach dem Krieg seinen Vater, von dem er getrennt worden war, wieder gefunden. 1945 zogen beide, erinnert sich Becker, in "eine stillgelegte Drogerie in Ost-Berlin." Der Vater hatte sich für den russischen Sektor Berlins entschieden, weil er sich in einem sozialistischen deutschen Staat vor einer Wiederkehr des Vergangenen halbwegs sicher glaubte. Jurek Beckers Erinnerungen setzen mit dem Umzug nach Berlin und dem erzwungenen Erlernen der deutschen Sprache ein. Als er acht Jahre alt war, hörte der Vater von einem Tag auf den anderen auf, mit ihm polnisch zu sprechen, so dass dem Sohn nichts anderes übrig blieb, als sich die deutsche Sprache anzueignen. Allerdings ging das Vergessen der polnischen Sprache schneller vonstatten als das Erlernen der deutschen, so dass Jurek für einige Zeit buchstäblich sprachlos blieb.

Und wie wurde er Schriftsteller? Auch hier hat der Vater, der ein fantasievoller Geschichtenerzähler war, eine entscheidende Rolle gespielt. Schon früh regte er seinen Sohn an, ihm auf diesem Wege nachzueifern, - freilich um den Preis des Schweigens über das eine Thema, das ihm die Sprache verschlagen hatte. So kam es, dass der Vater mit dem Sohn nie über die Vergangenheit geredet hat, weder über die polnische noch über die jüdische. Von der Mutter existierte nicht einmal ein Foto. Jurek selbst benutzte das von dem Vater erlernte Fabulieren, um die Leerstelle mit dem zu füllen, was er in Erfahrung bringen konnte und mit dem, was er sich zusätzlich ausmalte.

Jurek Becker wuchs also in Ostberlin auf und ging dort zur Schule. 1955 bestand er das Abitur und studierte von 1957 bis 1960 Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin. Kurz vor dem Examen wurde er wegen ständiger Konflikte mit den Behörden exmatrikuliert. Daraufhin begann er ein Studium an der Filmhochschule Babelsberg. Er wohnte mit seinem Freund, dem Schauspieler Manfred Krug, zusammen, schrieb Texte für das Kabarett "Die Distel" und Drehbücher für satirisch-polemische Kurzspielfilme der "Stacheltier"-Produktion der DEFA. Wie sein Vater begriff Jurek Becker den Staat der DDR zunächst als zukunftsfähigen Aufbruch und war zwanzig Jahre lang Mitglied der SED. Als er jedoch in den 1970er-Jahren öffentlich gegen den Ausschluss Rainer Kunzes aus dem Schriftstellerverband der DDR protestierte und Mitinitiator des Protestbriefes gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann war, wurde er 1976 aus der SED ausgeschlossen. Er selbst trat 1977 aus Protest gegen die Haltung der Partei aus dem Schriftstellerverband der DDR aus. Als kurz darauf sein Buch "Schlaflose Nächte" nicht erscheinen durfte, verließ er das Land Richtung Westen.

Nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in den USA, wo er verschiedene Gastprofessuren innehatte, arbeitete Becker zunächst als Gastprofessor an der Gesamthochschule Essen, anschließend siedelte er nach West-Berlin über.

Zwischendurch war er mit Unterbrechungen "writer in residence" am Oberlin College, Ohio, wurde 1981 Gastprofessor an der Universität Augsburg, 1982 Stadtschreiber von Bergen-Enkheim, hielt 1989 Poetikvorlesungen an der Universität Frankfurt am Main und wurde Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung aus Darmstadt.

Zuletzt lebte Jurek Becker, aus dessen erster Ehe die 1962 und 1965 geborenen Söhne Nikolaus und Leonard entstammen, mit seiner zweiten Frau Christine in Berlin-Kreuzberg. Ihr gemeinsamer, von ihm abgöttisch geliebter Sohn Jonathan, genannt Johnny, wurde 1990 geboren. Ihm widmete er den Band "Jurek Beckers Postkarten an seinen Sohn Jonathan" mit witzigen Kartenmotiven und sprachlich verspielten Texten. Jurek Becker starb am 14. März 1997 im schleswig-holsteinischen Sieseby in seinem Haus an der Schlei an Krebs.

Geschrieben hat Jurek Becker vor allem über zwei Themen, über zwei deutsche Geschichtswirklichkeiten: über die Shoah und ihre Folgen sowie über Leben und Leiden in der DDR. Seinen schriftstellerischen Ruhm begründete er mit dem Roman"Jakob der Lügner".

Nachdem Becker eine Reihe leichter, komischer Filmskripts geschrieben hatte, legte er 1965 der DEFA sein erstes Drehbuch mit dem Titel "Jakob der Lügner" vor. Es handelt von den Begebenheiten in einem polnischen Getto unter der Naziherrschaft. Der Held dieses Drehbuchs, der Schuster Jakob, behauptet, im Ghetto ein Radio versteckt zu haben. Er wird dann mit seinen erfundenen Radio-Nachrichten über einen angeblichen Vormarsch russischer Truppen auf das Lager zum Hoffnungsvermittler für seine Leidensgefährten. Das Drehbuch wird, wohl unter dem Vorzeichen der kulturpolitischen Krise des Jahres 1965, von der DEFA abgelehnt. Zudem war bis dahin in der DDR noch kein Buch und kein Film über Juden im Holocaust publiziert worden. Daraufhin schrieb Becker das Skript zu einem Roman um. "Meine Enttäuschung über die Ablehnung des Drehbuchs war so groß, dass ich mich quasi im Affekt hingesetzt und vor Wut meinen ersten Roman geschrieben habe", bekannte Becker später. Der Roman wurde 1969 veröffentlicht und erhielt mehrere Literaturpreise in Ost und West. 1974 konnte "Jakob der Lügner" dann doch noch unter der Regie von Frank Beyer als Co-Produktion der DEFA mit dem Fernsehen der DDR verfilmt werden. Beyer selbst schrieb über die Geschichte von "Jakob dem Lügner", sie sei "voller Poesie; Komisches steht neben Tragischem, Absurdes, Reales und Märchenhaftes durchdringen einander. Eine Geschichte mit hintergründigem Witz und tiefer Traurigkeit, die ganze Spannweite menschlicher Existenz ausmessend". Der Film wurde zu einem internationalen Erfolg. Er erhielt einen Nationalpreis der DDR, lief als erster DEFA-Film bei der Berlinale und wurde sogar für einen Oscar nominiert.

Als der Roman erschienen war, hatten einige Rezensenten festgestellt, dass der Autor sich in der Tradition jüdischer Erzähler wie Scholem Alejchem bewege. Tatsächlich aber hatte sich Becker die notwendigen Kenntnisse über diese jüdische Schreibtradition erst während seiner Vorarbeiten für den Roman angeeignet und vorher kein Buch von oder über Alejchem Scholem oder Isaac Bashevis Singer gelesen. Rückblickend erklärte er: "Die Geschichte war, so meine ich, gut genug für einen ersten Roman [...], weil einer über so schreckliche Dinge wie Ghetto und Judenverfolgung nicht mit der gewohnten tränenerstickten Stimme erzählte, sondern gar komisch zu sein versuchte."

Tatsächlich hat keiner den Deutschen in so geistreichen und amüsanten, so gebrochenen und traurigen Fiktionen von den Schrecken der Judenvernichtung erzählt wie Jurek Becker. Es war eine jüdische Stimme, die so bisher noch nicht zu Wort gekommen war - nicht nur in der DDR. Das uralte Diktum vom Dichter, der lügt, beschreibt auch einen existentiellen und produktiven Konflikt der DDR-Gegenwart. Noch in den Stasi-Akten erscheint der bespitzelte Becker unter dem Tarnnamen "Der Lügner".

Die Geschichte des Romans endet indes mit der Lagerräumung. Auch Jakob wird deportiert. Becker bietet dem Leser zwei Schlussfolgerungen an. In der ersten Version wird von einem Freund, der die Shoa überlebt hat, über Jakobs Tod berichtet. In der zweiten Fassung überlebt Jakob. Beide Versionen verweisen auf die Möglichkeit, als Überlebender der Welt nach der Shoah von Alb- und Wunschträume zu erzählen und zu schreiben.

In "Jakob, der Lügner" - das Buch zählt mittlerweile zum Kanon der Weltliteratur - wird nichts ausgemalt. Ohne Gefühlsüberschwang, nüchtern, fast lakonisch wird erzählt, mit hintergründigem Humor. Um so nachdrücklicher teilt sich die Brutalität des Nazi-Regimes und die Unmenschlichkeit seiner Anhänger und Diener mit. Ein leiser Sarkasmus durchzieht das Buch, der an Heinrich Heine erinnert. Da gerät beispielsweise der fromme Herschel in eine brenzlige Situation, selbst seine innigen Gebete können ihn nicht vor dem Erschießungstod durch die Nazis bewahren: "Gott hustet ihm eins", merkt der Erzähler trocken an.

Galgenhumor bekundet auch die folgende Passage: An dem Tage, an dem Sturmbannführer Hardtloff gestorben ist, bekommen die Arbeiter im Ghetto kein Mittagessen. Kowalski versucht es mit einem schlichten Scherz: "Stellt euch vor, jedesmal wenn einer von uns draufgeht, kriegen die Deutschen nichts zu fressen. Das möchte ein schönes Hungern sein."

Nicht nur in "Jakob, der Lügner", auch in anderen Büchern wie "Der Boxer" (1976), "Bronsteins Kinder" (1986) und in der Erzählung "Die Mauer" (1980) verarbeitete Becker die Auswirkungen des Holocaust auf Opfer und Täter. "Der Boxer" schildert das mühselige, aber letztlich vergebliche Ringen eines ehemaligen KZ-Häftlings um eine neue Existenz. Sein Sohn Mark, dem Aron Blank (er selbst nennt sich Arno, um nicht sofort als Jude erkannt zu werden) Vorbild sein wollte, geht in den Westen, später nach Israel und gerät dort 1967 in den Sieben-Tage-Krieg. "Der Boxer", wesentlich komplexer als "Jakob der Lügner", zeigt, dass Überleben genau so höllisch sein kann wie das Leben in den Lagern. Auch hier gelingt es dem Autor, Erschütterung zu vermitteln, ohne in Sentimentalität abzugleiten.

Mit "Bronsteins Kinder" kehrte Becker in den 1980er-Jahren erstmals seit seiner Übersiedlung nach West-Berlin wieder zu einem jüdischen Thema zurück. Im Mittelpunkt der Geschichte steht abermals ein Überlebender und sein Sohn. Die Mutter ist tot. Die Schwester war während des Krieges versteckt worden und hat ein Trauma davongetragen. Eines Tages entdeckt der Sohn, dass der Vater mit zwei Freunden einen ehemaligen Wächter des Lagers Neuengamme entführt und gefangen hat, jenes Lagers, das sie selbst mit knapper Not überlebt hatten. Damit schneidet Jurek Becker das Thema Selbstjustiz im Hinblick auf NS-Verbrechen an.

Die Verfilmung dieses Romans (1991), für die der Autor mit dem polnischen Regisseur Jerzy Kawalerowicz das Drehbuch verfasst hat, fand indes bei Kinopublikum und Kritik wenig Anklang. Gelobt werden zwar die darstellerischen Leistungen von Rolf Hoppe und Armin Mueller-Stahl, die sich als faschistischer Täter und jüdisches Opfer gegenüberstehen, doch die Geschichte von der Rache des Opfers, die schon in der Romanfassung von Konstruktionsmängeln nicht frei ist, missrät vollends bei der Verfilmung.

Alle diese Bücher sind jedoch keine Berichte über die Shoah, sondern vom Überleben. Sie erzählen, was die Shoah bei den Menschen angerichtet hat und wie sich deren Verletzungen auf die Nachkommen auswirken - selbst dann, wenn eisiges Schweigen zwischen den Generationen herrscht.

Zur Erfahrung des Faschismus war für den jungen Kommunisten und späteren Dissidenten Becker diejenige des antifaschistischen Staates hinzugekommen, dieses teils realen, teils surrealen Sozialismus. Sie wurde zu seinem zweiten Lebensthema. Zu dieser Kategorie der Becker'schen Bücher gehört als erstes "Irreführung der Behörden" (1973), in dem sich Beckers Erfahrungen mit der DEFA und dem DDR-Fernsehen niedergeschlagen haben - ein witzig-verspieltes Buch, für das der Autor 1974 mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Doch "Irreführung der Behörden" hat es bis heute schwer gehabt, gegen seinen Vorläufer "Jakob der Lügner" anzukommen.

"Schlaflose Tage" (1978) ist Jurek Beckers vehementestes, bitterstes und zugleich schwächstes und unkünstlerischstes Buch, in dem er auf jegliche literarische Technik verzichtet hat. Es spielt in der DDR und handelt von einem Lehrer namens Simrock in der DDR, der auf die Gefahr der Anpassung im Beruf und der Gewöhnung und Frustration in der Ehe mit einem radikalen Schnitt reagiert. Er quittiert den Dienst und verlässt seine Frau.

Der größte Teil der Erzählungen in "Nach der ersten Zukunft" (1980) thematisiert ebenfalls das Leben und die Lebensbedingungen in einer Gesellschaft des real existierenden Sozialismus'. Allerdings fanden sie bei der Kritik ein skeptisches, zum Teil deutlich negatives Echo, nicht zuletzt deshalb, weil die erzählerische Kraft der frühen Bücher fehlte. Dem 1982 veröffentlichten Roman "Aller Welt Freund", in dem Becker die Folgen eines missglückten Selbstmords schildert, ist indes nicht mehr genau anzumerken, in welchem der beiden deutschen Staaten er spielt.

Der Roman "Amanda herzlos" (1992) beschäftigt sich dagegen erneut mit dem Alltag in der DDR während der späten 1980er-Jahre und ist, wie Literaturwissenschaftler konstatiert haben, "ein fast launiger Abgesang auf die DDR." Die Titelfigur Amanda ist eine ehrgeizige Frau, aber ohne besonderes Talent. Sie ist klug und unangepasst und ebenso Mittelmaß wie die Männer, mit denen sie zusammen lebte und lebt. Gerade darum vermag Becker, die ganze Mittelmäßigkeit der DDR zu zeigen, mitsamt der Tristesse des dortigen Alltags.

In seinem Buch "Ende des Größenwahns" (es enthält Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1971 bis 1995) schrieb er noch im Sommer 1996: "Noch heute spielen alle Texte, die ich seitdem veröffentlicht habe, in jenem Land, das es nicht mehr gibt, in der DDR." Aber welche Erfahrungen hat Becker im Westen gemacht? Er fühle sich von "Überflüssigem" umzingelt, sagte er seinen Studenten in Frankfurt am Main. Literatur müsse hier um "Aufmerksamkeit buhlen". Hier müsse die "Bereitschaft für Literatur" mit jedem Buch neu erkämpft werden.

Natürlich schloss er die bundesrepublikanischen Verhältnisse von seiner Kritik nicht aus. Immer aber lebte er in radikaler Nähe zu den Opfern. Marcel Reich-Ranicki schrieb einmal über Jurek Becker, dass er bei aller Liebenswürdigkeit ein unbequemer, wenn nicht gar gefährlicher Mann sei. Er stamme eben aus dem Geschlecht der Ruhestörer und Provokateure.

Den größten Publikumserfolg errang der Schriftsteller in der Bundesrepublik zweifellos mit seinen Drehbüchern zur Fernsehserie "Liebling Kreuzberg" (1986-1992), in der Manfred Krug den leicht phlegmatischen Anwalt Liebling verkörperte. Dieser bemühte sich, wie die "Tageszeitung" 1988 anmerkte, im Westberliner Kiez "die Verhältnisse kapitalistischer Klassenjustiz etwas zum Tanzen zu bringen". Mit seiner Mischung aus Alltagsfällen, die mit Witz, kleinen juristischen Tricks und persönlichen Marotten gelöst wurden, erntete die Serie bei Kritik und Fernsehpublikum großes Lob.

1990 kam dann der Film "Neuner", eine Ehe-Tragikomödie nach dem Drehbuch von Becker, in die Kinos und wurde 1991 mit dem Deutschen Filmpreis "Filmband in Gold" ausgezeichnet. Eine echte Becker-Krug-Gemeinschaftstat gelang dagegen 1994 mit der neunteiligen ARD-Produktion "Wir sind auch nur ein Volk" (Regie: Werner Masten) über eine "Wende-geschädigte" DDR-Familie. Auch hier wird zwar ein höchst pädagogischer Zweck verfolgt, nämlich Ost-West-Vorurteile zu überwinden, doch ist das Ganze so kurzweilig-überdreht gespielt und inszeniert, dass die belehrenden Absichten den Fernsehzuschauer nicht verstimmen: Der schlitzohrige, arbeitslose Ost-Berliner (Krug) wird zum Studienobjekt des West-Schriftstellers Steinheim (Dietrich Mattausch), wobei der Zuschauer schneller als dieser durchschaut, was dem naiven Steinheim noch lange ein Rätsel bleiben wird. Deutlich wird: Die Aufhebung dieser Ost-West-Entfremdung erfordert längere Zeiträume als politischer Voluntarismus es möchte: "Steinheim ist ein Westmensch, und einen Westmenschen muss ich erfinden. Es ist mir bis heute nicht geglückt, einer zu sein", bekannte Becker im Jahr 1994.

Wie aber stand Jurek Becker zum Judentum? Immerhin kam er, wie er betonte, aus einer jüdischen Familie.

In seinen Romanen "Der Boxer" und "Bronsteins Kinder" setzt er sich mit der problematischen Beziehung zu seinem Vater auseinander, mit der Identität von Überlebenden der Shoah. Beide Bücher kreisen um die Fragen: "Wie wurde ich ein Deutscher?" und: "Was folgt daraus, wenn dieser Deutsche ein Jude ist?" Gleichwohl blieb Becker, trotz seiner auffälligen Wahl jüdischer Themen, skeptisch gegenüber allen Versuchen, seine jüdische Identität festzulegen. Zögernd und spät begann er, sich mit jüdischen Traditionen vertraut zu machen, widerstrebend auch mit dem lange im Fahrwasser der DDR-Ideologie beargwöhnten Staat Israel.

Indes wollte sich Becker weder auf die Rolle des Opfers noch überhaupt auf die eines jüdischen Schriftstellers festlegen lassen und fragte provozierend, warum eigentlich Kinder von Katholiken aus der Kirche, aber Kinder von Juden nicht aus dem Judentum austreten könnten.

Wenn Becker nach Herkunft und Abstammung gefragt wurde, antwortete er: "Meine Eltern waren Juden". Sich selbst als Juden zu bezeichnen, hat er vermieden. "Dabei hat der Umstand", gab er zu bedenken, "dass ich in eine jüdische Familie hineingeboren wurde, für meinen bisherigen Lebenslauf nicht eben kleine Folgen gehabt. Als ich zwei Jahre alt war, wurden die Eltern und ich Bewohner des Ghettos von Lodz, meiner Geburtsstadt, die kurz zuvor auf den Namen Litzmannstadt getauft worden war. Es folgten Aufenthalte in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen. Als der Krieg zu Ende war, hatte sich meine Familie, eine ehedem fast unübersehbare Personenschar, wie ich höre, auf drei Überlebende reduziert: auf meinen Vater, auf eine Tante, an die ich mich nicht erinnern kann, denn ihr gelang unmittelbar nach dem deutschen Einmarsch in Polen die Flucht, vielleicht nach Amerika, und auf mich. Mein Vater, der sich bei Kriegsende in einem anderen KZ als ich aufhielt, suchte und fand mich mit Hilfe einer amerikanischen Hilfsorganisation. Im Grunde existieren für mich erst seit dieser Zeit deutliche und abrufbare Erinnerungen. Immerhin war ich da schon sieben Jahre alt, fast acht."

Der Vater sei mit ihm nach Deutschland gegangen, weil er gehofft habe, dass die Diskriminierung von Juden gerade an dem Ort, an dem sie ihre schrecklichsten Formen angenommen hatte, am gründlichsten beseitigt werden würde. "Und als er starb, im Jahr 1972, war er der guten Überzeugung, sich wenigstens in diesem Punkt nicht geirrt zu haben.

Einmal hat er gesagt: ,Wenn es keinen Antisemitismus geben würde - denkst du, ich hätte mich auch nur eine Sekunde als Jude gefühlt?'... Und über die DDR hat er gemeint: ,Die Antisemiten würden dort so großartig gezwungen, sich zu verleugnen, dass es sich ganz gut mit ihnen aushalten lasse.'"

Becker selbst wusste genau, was ihm das Judentum nicht bedeutete, nämlich auf keinen Fall das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Religionsgemeinschaft. "Mir, der ich ein Atheist bin, kommt die jüdische Religion nicht einsichtiger vor als jede andere, und die Beschäftigung mit ihr - eine zugegeben nur oberflächliche - hat mich der Erleuchtung um keinen Schritt näher gebracht." Allerdings schien sie ihm, wie er weiter sagte, von einem literarischen Standpunkt aus, gelungener und überzeugender zu sein als zum Beispiel die christliche.

"Mein Judentum hat auch kein Glücksgefühl darüber zur Folge, dass ich, gewollt oder ungewollt, zu einer weit verzweigten Gruppe von Menschen gehöre, die, wie andere Gruppen vergleichbarer Größe auch, Leistungen vollbringt, bewundernswerte und miserable. Ich empfinde keinen Stolz darüber, dass Kafka Jude war, obgleich ich vermute, dass seine Literatur für mich von bestimmender Bedeutung gewesen ist. Ich ärgere mich nicht darüber, dass Max Frisch kein Jude ist, obgleich seine Bedeutung für mich eine ähnliche ist."

Nachzutragen bleibt, dass Jurek Becker für sein Werk vielfach ausgezeichnet wurde, beispielsweise in der DDR 1971 mit dem Heinrich-Mann-Preis und 1975 mit dem Nationalpreis, in der Bundesrepublik 1986 mit dem Adolf-Grimme-Preis in Gold, zusammen mit Manfred Krug und Heinz Schirk, und 1990 mit dem Hans Fallada-Preis der Stadt Neumünster für das Gesamtwerk.

Anm. der Red.:

Der Text erschien zuerst in der "Tribüne-Zeitschrift zum Verständnis des Judentums" Nr.181. Wir danken herzlichst für die Erlaubnis, ihn an dieser Stelle abdrucken zu dürfen.