"Ich habe mir das nicht ausgedacht"

John Mendelssohns Roman über die Popkultur, deren Opfer und über Kate Bush

Von Stefan HöltgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höltgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jede Zeit hat die Popkultur, die sie verdient. Die Abwandlung dieses Aby-Warburg-Zitates mag in Anbetracht dessen, was wir seit ein paar Jahren an musikalischen Stilblüten erleben, bitter klingen, aber mehr als zu früheren Zeiten sind wir angeblich selbst Schuld an dem, was da aus dem Fernsehen und dem Radio quillt. Denn wir haben die Stars und Sternchen ja "gevoted", damit sie zu "Superstars", "Megastars" oder "Großen Brüdern" (beziehungsweise "Schwestern") werden. Gemeint sind natürlich all die Voting- und Casting-Shows, von denen fast jeder Privatsender eine eigene zu bieten hat und die in jedem Land der mediatisierten Zivilisation zu finden sind. Die Prognose Andy Warhols, dass in Zukunft jeder in seinem Leben einmal 15 Minuten lang berühmt sein werde, scheint heute eingetroffen. Davon und von Kate Bush berichtet der Londoner Schriftsteller und Musikkritiker John Mendelssohn in seinem jüngsten Roman "Warten auf Kate".

Es ist der Bericht des lebensuntüchtigen Mittfünfzigers und Kate-Bush-Fans Leslie Herskovits, der sich in einer Londoner Pension, in der ebenfalls ausschließlich Kate-Bush-Fans leben, seinem Selbstmitleid hingibt. Er leidet nicht nur unter seiner familiären Situation - seine Tochter will nichts mehr von ihm wissen und reagiert nicht auf all seine Kontaktversuche -, sondern auch und vor allem unter seiner völlig verzerrten Körperwahrnehmung: Leslie hält sich für "grotesk fett". Dies bringt ihn dazu, sich einer Gruppe anonymer Esssüchtiger anzuschließen, die ihn - misstrauisch ob seines eigentlich recht geringen Gewichts von 90 Kilogramm - in ihrer Mitte aufnehmen. Dort verliebt er sich in die extrem übergewichtige Nicola, zu der er jedoch keine normale Beziehung aufzubauen in der Lage ist. Denn Leslie ist zu allem Unglück ein ans Masochistische grenzender Feigling, der es oft sogar genießt, gedemütigt und benachteiligt zu werden und solche Situationen nicht selten selbst herbeiführt. Anstelle sich also mit Nicola einzulassen, verbringt er Zeit mit ihrem Vater, der ebenfalls masochistische Züge pflegt - zumindest in der Beziehung mit seiner ebenfalls übergewichtigen Frau - außerhalb des Hauses jedoch ein bezahlter Schläger ist. Wenn Leslie nicht mit ihm zu irgendwelchen "Aufträgen" fährt, sitzt er in seinem Zimmer und schaut Casting-Shows - bis seine Pensionswirtin beginnt, ein Auge auf ihn zu werfen, er sich jedoch mehr für das Schicksal ihrer magersüchtigen Tochter, die auch gerade in einer solchen Show Karriere macht, zu interessieren beginnt.

"Warten auf Kate" beschreibt ein beinahe dystopisches England, in dem das Fernsehen Prominente am Fließband produziert, die sodann von der Klatschpresse verfolgt und gedemütigt werden. Dass beinahe jeder der Protagonisten des Romans entweder zu der Gruppe der Prominenten (oder Ex-Prominenten) oder zur Journaille gehört, ist die Überspitzung dessen, was wirklich in der Mediengesellschaft stattfindet. Mendelssohn beschreibt dies in einem für England ungeheuer ironischen Ton - es ließe sich jedoch auch auf jedes andere Land übertragen. Eine Trennung in "gut" oder "böse" gibt es dabei nicht. Jeder handelt aus opportunistischen Motiven, ist zur Ausbeutung anderer oder seiner selbst bereit - koste es auch das eigene Leben. Auf den Vorwurf, die magersüchtige Tochter der Pensionsbesitzerin weiter auf Diät zu setzen, weil das zu mehr Mitleid und folglich zu größeren Einschaltquoten führe, entgegnet die Managerin des Mädchens, dass es ihr eigentlich egal sein kann, ob sie stirbt, denn "wenn ihr Debütalbum posthum herauskommt, verkauft es sich dreimal besser, als wenn sie noch am Leben wäre. Wir präsentieren sie als eine magersüchtige Eva Cassidy."

Mendelssohn verwebt in seinem Roman geschickt die Sphären von Medienproduktion, -rezeption und -kritik mit dem (a-)moralischen System, auf dem diese basieren. Auf der anderen Seite projiziert er die persönlichen Schicksale seiner Protagonisten auf eine metaphorische Ebene, auf der sie zu Symptomträgern einer kranken Gesellschaft werden. Gesund im physischen wie psychischen Sinne ist in "Warten auf Kate" nämlich niemand - außer der einen Figur, um die sich letztlich alles dreht: Kate Bush. So sehr, wie jeder irgendwie mit dem Mediensystem in Verbindung zu stehen scheint, hat auch jeder eine wie auch immer geartete Beziehung zu der britischen Songwriterin, die zum Zeitpunkt des Erscheinens des Romans seit zwölf Jahren kein neues Album mehr veröffentlicht hat. Darunter leiden sämtliche Figuren, besonders aber Leslie Herskovits, der alles über Bush weiß, ihr wöchentlich Geschenke schickt, E-Mails und Briefe schreibt und alle Situationen seines Lebens in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung zu bringen in der Lage ist. Kate Bush ist im Roman so etwas wie das Falkensymbol der Novelle: Ihr Geist und Werk schwebt über allem, verbindet alles miteinander, wird zur Projektionsfläche der Wünsche und Hoffnungen der Figuren und damit zum Leitmotiv des gesamten Romans.

Und dieser Roman ist damit gleichzeitig als eine literarische Diskografie und Hagiografie der Überkünstlerin Kate Bush zu lesen. Mendelssohn trägt eine Unmenge an Fakten, biografischen Details, Auszügen aus Plattenkritiken und sogar Leserbriefen zusammen, um die Erlebnisse seines Helden immer wieder - wie in parenthetisch eingeschobenen Besinnungsabschnitten - an das Leben und Werk der Musikerin zu binden. Was sich in diesen absatz- und seitenlangen Ausführungen über Kate Bush an Informationen findet, macht aus "Warten auf Kate" eigentlich eine Künstlerbiografie mit narrativem Rahmen. Dabei geht Mendelssohn, dem nur ganz wenige, kleine Fehler in der Aufbereitung seiner Kate-Bush-Werkschau unterlaufen, keineswegs nur lobend mit der Sängerin um. In den Analysen zu einzelnen Songs ihrer Alben finden sich - mal zitiert, mal aus eigener Feder - ätzende Polemiken, aber auch, wo es angebracht ist, Lob für ihr Talent. Insgesamt zeichnet er jedoch ein Bild der Sängerin, das die auratische Wirkung der Künstlerin auf die Protagonisten des Romans nachvollziehbar macht.

Nun kann man sich natürlich auf die Frage einlassen, ob es Mendelssohn oder seine Figur Herskovits ist, der da über Kate Bush spricht. Wenn letzterer zu einigen besonders skurrilen Fakten anmerkt, "Ich habe mir das nicht ausgedacht", verschwimmen die Ränder zwischen Autor und Erzähler beziehungsweise Figur - zumal die angehängte Bibliografie und eine Nachrecherche ergeben, dass sich hier tatsächlich keiner der beiden etwas über Kate Bush ausgedacht hat. Viel wichtiger ist jedoch, welche Funktion sie letztlich innerhalb der Narration des Romans einnimmt. Mit Kate Bush, deren musikalischer Output mit den Jahren immer spärlicher wurde und die sich stets geweigert hat, ihr Leben und ihre Kunst in Zusammenhang mit einander zu "veröffentlichen", steht dem eingangs geschilderten "Superstar"-Hype ein wirkmächtiges Künstler-Konzept gegenüber, das eben nicht nach dem Prinzip des Votings erfolgreich ist, sondern qua Begabung. Man könnte angesichts der Vorgänge auf dem Musikmarkt meinen, dass ein solches Konzept antiquiert sei, weil es die augenscheinlich unhinterfragbare Funktion des sich selbst reflektierenden Massenmediensystems zu unterlaufen versucht und zudem den "Voter" seiner scheinbaren Wahlfreiheit beraubt. Das im selben Jahr wie "Warten auf Kate" erschienene, hervorragende und überaus erfolgreiche Doppelalbum "Aerial" von Kate Bush belegt, dass dies nicht so ist.


Titelbild

John Mendelsohn: Warten auf Kate.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz und Werner Schmitz.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
368 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783518458778

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