Jenseits der Erdbeerfelder

Marina Lewycka geht es in ihrem neuen Roman "Caravan" um Weltwirtschaft, Weltpolitik und die große Liebe

Von Agnes KoblenzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Agnes Koblenzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Worin liegt das Geheimnis eines unterhaltsamen Romans? In überzeugenden Figuren, in der spannenden Handlung oder in einem originellen Thema?

Wie deckt man - ohne belehrend den Finger zu heben - Klischees über Ausländer und soziale Missstände in einem westlichen "Wohlstandsparadies" auf, Lesevergnügen und nachhaltige Reflexion inbegriffen?

Will man nach der Methode der erfolgreichen Autorin der "Geschichte des Traktors auf ukrainisch", Marina Lewycka, verfahren, so wähle man ein möglichst schrilles Personal aus Polen, der Ukraine, China und Afrika. Wie wäre es mit Saisonarbeitern wie Erdbeerpflücker? Voller Hoffnungen kommen sie ins England unserer Zeit, wo man vermeintlich schnell Geld verdienen und das Glück finden kann. Sie sind arbeitswillig und naiv und nehmen weit mehr auf sich als nur stumpfsinnige Arbeit.

In ihrem zweiten Roman "Caravan" lässt Lewycka die modernen Arbeitsmigranten selbst zu Wort kommen, indem diese sie über das fremde Land, die Mitmenschen, ihre Erwartungen und Gefühle berichten lässt. Nicht sie sind die große Plage auf dem internationalen Arbeitsmarkt, sondern die westlichen Ausbeuter. Ohne ausländische Arbeitskräfte würde der westliche Apparat vollständig kollabieren. Beim zweiten Hinsehen offenbart sich im Roman eine veritable Liebesgeschichte wie aus dem Leben geschnitten und mit Anklängen an Tolstoj; sie wird aber von den unwürdigen Arbeitsbedingungen der Ausländer, ihrer Schutzlosigkeit und Ausbeutung sowie durch Frauenhandel und Prostitution überschattet. Doch was sich ernst und politisch anhört, packt die Autorin in ein literarisches Roadmovie, das auch dieses Mal mit Lewyckas britisch-ukrainischem Humor glänzt.

Die Ukrainerin Irina Blashko, mit neunzehn gerade den Fittichen ihrer Mutter entkommen, träumt von einer Schriftstellerkarriere. Schön wäre es, in ihrem Traumland nebst perfekten Englischkenntnissen auch die große Liebe zu finden. Doch der feine Gentleman aus ihrem "Let's-Talk"-Englisch-Buch scheint vorerst unauffindbar. Schon am Flughafen wird Irina von dem zwielichtigen Serbokroaten Vulk eingefangen, der sie in ein anderes Gewerbe einzuweihen gedenkt.

In der achtköpfigen Truppe auf dem kleinen Erdbeerfeld, auf dem Irina landet, wohnt und arbeitet auch der Donbasser Bergmann Andrij Palenko. Seit einem schadlos überstandenen Grubenunglück, bei dem sein Vater starb, kann er nicht mehr unter Tage arbeiten. Anders als Irina kommt er aus dem rückständigen, östlichen Teil der Ukraine. An der Orangenen Revolution hat er als Gegendemonstrant teilgenommen. Obwohl von Irina angezogen, verunsichert ihn ihre intellektuelle Überlegenheit und ihre Überheblichkeit seinen politischen Ansichten gegenüber. Zudem hat auch Andrij seine eigenen Frauenvorstellungen. Zufällig entsprechen sie dem Bild der attraktiven Mrs. Brown aus seinem "Let's-Talk"-Englisch-Buch.

Die Arbeit auf dem Erdbeerfeld wird von einer Eifersuchtsszene zwischen dem Feldbesitzer und seiner Frau jäh unterbrochen. In einer fabelhaft arrangierten und in Vielem an die Streitszenen aus der "Geschichte des Traktors auf ukrainisch" erinnernden Begegnung wird der Bauer lebensgefährlich verletzt. Unfreiwillig in die Sache involviert, machen sich die Ausländer aus Angst vor der Polizei mit dem Land Rover und einem der Wohnwagen aus dem Staub. Im nächtlichen Trubel übersehen alle, dass der Zuhälter Vulk Irina entführt hat. Doch Andrij macht sich zur Aufgabe, Irina zu finden.

"Von seiner eigenen Hände Arbeit wird ein Mensch nicht reich." Diesen Satz von Karl Marx hat sich Vitali, Flüchtling aus dem moldauischen Transnistrien, besonders zu Herzen genommen. Über Nacht wird er zur neuen Unperson. Mit kahl rasiertem Kopf, Kunstlederjacke, Sonnenbrille und dem unverzichtbaren Mobiltelefon wirbt der "Agent für Personalvermittlung" neue Arbeitskräfte. Auf diese Weise landen die Polen Tomasz, Jola und Marta auf einer erbärmlichen Hühnerfarm. Zwei chinesische Erdbeerpflückerinnen erliegen dem Schein der Babysitterjobs in hochrangigen Diplomatenfamilien und werden unter diesem Vorwand in das Amsterdamer Prostitutionsgeschäft hineingezogen.

In diesen illegalen geschäftlichen Bemühungen ausländischer Queraufsteiger wie Vitali und Vulk einerseits und der schmerzhaften Naivität der Erdbeerpflücker andererseits, gerät unter Lewyckas Feder das Bild des üppigen Westens nach und nach zur Farce. Die materielle Attraktivität verpufft, die Kontakte sind unpersönlich, das Leben ist hektisch und enttäuschend.

Als das Trio mit leeren Taschen, aber glücklich, dem "goldenen Westen" den Rücken zukehrt, trägt Andrijs verzweifelte Suche nach Irina endlich Früchte. Gemeinsam mit dem Afrikaner Emanuel und einem Hund ziehen sie Richtung Andrijs Traumstadt Sheffield. Doch es wird klar, dass ihr eigentliches Ziel kann nur die Reise selbst sein kann.

Das Motiv der Reise bestimmt nicht nur inhaltlich, sondern auch formal den Roman. Mit Hilfe moderner Verkehrsmittel werden im rasanten Tempo Entfernungen zurückgelegt, von denen der Reiseromanschriftsteller Joseph Conrad seinerzeit nur träumen konnte. Aber nicht nur geografisch, auch psychologisch betrachtet wird in "Caravan" der Fortschritt des Reisezeitalters spürbar. Via Internet lassen sich zwischen fremden Leuten Kontakte herstellen, die dauerhaft über menschliche Schicksale entscheiden. Wo Conrad zur postkolonialen Kritik greift, prangert Lewycka die gesamtwestliche Ausländerarbeitspolitik an. Das Ergebnis ist ein mehrdimensionales, schockierendes Bild des Westens.

Die im Vordergrund unaufdringlich ablaufende, sinnlich und gut konstruierte Liebesgeschichte zwischen den "zwei Hälften desselben Landes", Irina und Andrij, dient als hervorragendes Kontrastmittel zu den umfassenden Politik- und Geschichtsthemen, die wie nebenbei in den einzelnen Schicksalen der Migranten auftauchen.

Nachdem Irina und Andrij Emanuel bei dessen englischem Freund und seiner Familie unterbringen, die erstaunliche Ähnlichkeiten mit Mr. Und Mrs. Brown aufweist, werden sie Zeugen des Mordes an dem inzwischen geschäftlich gut situierten Vitali. Mittlerweile mit dem Gedankengut englischer Globalisierungsgegner vertraut, geraten Irinas und Andrijs Idealvorstellungen von England beachtlich ins Wanken. Mit den neuen, gereiften Ansichten verändert sich auch ihr Blick auf das eigene arme und in mancher Hinsicht noch unverdorbene Land.

Am Ende führt Lewycka wieder alle Fäden gekonnt zusammen, womit sie auch die treuen Leser belohnt. Der alte Mayewski aus der "Geschichte des Traktors auf ukrainisch" mag in "Caravan" zwar seniler geworden sein, doch seine Lust an junger Weiblichkeit und verrückten Heiratsplänen hat er nicht verloren.

Andrijs Traum von einem besseren Leben platzt mit dem unerwarteten Auftauchen Vulks, der Irina keineswegs aufgegeben hat. Es kommt zum Showdown. Doch Irina bleiben am Ende noch viele Zweifel. "Erst wenn man seinen Bestimmungsort erreicht hat, merkt man, dass der Weg hier gar nicht zu Ende ist", lautet ihre wehmütige Festsstellung.


Titelbild

Marina Lewycka: Caravan.
Übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz.
dtv Verlag, München 2007.
380 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783423246217

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