Der Schrecken des Gewöhnlichen und die Gewöhnlichkeit des Schreckens

Über Don DeLillos neuen Roman "Falling Man"

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Shock and Awe (Codewort des US-Generalstabs für den Angriff auf den Irak 2003)

War, children, its just a shot away
Its just a shot away

(Rolling Stones, Gimme shelter, 1969)

"Es war keine Straße mehr, sondern eine Welt, eine Zeit und ein Raum fallender Asche und nahezu Nacht." So hebt Don DeLillos neuer Roman an, und er führt gleich mitten hinein in das Geschehen des 9.11., das aus der Sicht eines (noch namenlosen) Mannes beschrieben wird, der mit knapper Mühe aus dem Treppenhaus des Südtturms entkommt und im Durcheinander fallenden Schutts, laufender und schreiender Menschen, der Rauchwolken, im chaotischen Getöse und dem allgegenwärtigen Staub benommen durch die Straßen irrt, während 45 Minuten später der zweite Turm einstürzt. Die gewöhnlichen Koordinaten von Zeit und Raum sind aufgehoben. "Dies war jetzt die Welt, Gestalten in Fenstern, hunderte von Metern hoch, die in den freien Raum sprangen, und der Gestank brennenden Feuers, und das anhaltende Geheul der Sirenen in der Luft."

Der Mann, ein offenbar auf finanzielle Transaktionen spezialisierter Anwalt namens Keith Neudecker, schlägt sich blutend und verschmiert zu seiner in der Nähe lebenden Frau Lianne durch, von der er seit Jahren getrennt lebt. Sie bringt ihn ins Hospital, anschließend kehrt er einstweilen zu ihr und ihrem kleinen Sohn zurück. DeLillo schildert, wie die beiden und ihre kleine Familie, zu der noch Liannes Mutter und deren Freund zählen - andere Personen spielen nur Nebenrollen -, den Einbruch des Schocks erleben und verarbeiten.

Keith ist kaum ansprechbar. Lianne dagegen liest in den nächsten Tagen fast manisch alles, was in der Presse an Geschichten und Analysen über die Terrorattacke veröffentlicht wird, bis sie sich selber zwingen muss, damit aufzuhören. Beiläufig bemerkt DeLillo an diesem Punkt: "Aber die Dinge waren gewöhnlich wie immer. Die Dinge waren in jeder Hinsicht so, wie sie immer waren." Im Original klingt das noch lakonischer: "But things were ordinary as well. Things were ordinary in all the ways they were always ordinary."

Dieser nahezu aphoristische Zirkelschluss bilanziert eine Erkenntnis, die Philosophen wie Adorno oder Benjamin mit großem stilistischen Aufwand auf den theoretischen Begriff gebracht hätten: die Katastrophe liegt eben genau darin, dass alles genauso weiterzugehen scheint wie bisher. Die sensorischen Erschütterungen aber aufzuspüren und nachzuzeichnen, die der Terrorschlag ausgelöst hat, während die Normalität sich sofort daran macht, das Ungeheuerliche wieder in die Bahnen des Gewöhnlichen einzupassen, es wegzudrängen, weil das Leben irgendwie weitergehen muss, darunter jedoch die subkutanen Verletzungen wahrzunehmen, darum geht es Don DeLillo hier.

Das Leben von Keith und Lianne ist auf eine grundlegende Weise erschüttert, wenn auch ihr Alltag bald wieder weitergeht. In den Tagen nach der Katastrophe schlafen sie auch wieder miteinander, sind aber beide eher mit sich beschäftigt als mit dem Partner. Keith sucht nach ein paar Tagen eine Frau auf, die ebenfalls aus dem zusammenbrechenden Turm entkommen konnte und deren Aktentasche er zufällig retten konnte. Mit ihr geht er eine kurze Beziehung ein, weil sie beide, als Opfer, endlich jemanden haben, mit dem sie über das Erlebte reden können.

Lianne spürt die sich wieder vertiefende Entfremdung von ihrem Mann. Die Fremdheit des Paares, das schon getrennt lebte, ist durch die Annäherung in der Notsituation nur verdeckt worden. Keiths Unfähigkeit, die Erschütterung des Erlittenen mitzuteilen, verschärft die Sprachlosigkeit, in der sie einander gegenüberstehen, obwohl sie der Form nach wieder eine Familie bilden.

In immer neuen Anläufen versucht Lianne für sich, dem auf die Spuren zu kommen, was sich durch den Einbruch des Schocks für sie alle verändert hat: "Was gewöhnlich war, war nicht gewöhnlicher als üblich, oder weniger." Aber was heißt das? Sie spürt, dass der ohnehin verschlossene Keith sich niemals mehr vorbehaltlos auf sie einlassen wird. "Aber", heißt es dann weiter, "dann könnte sie auch irren darin, was sie für gewöhnlich ansah. Vielleicht war nichts gewöhnlich. Vielleicht war es ein tiefer Schnitt in der Maserung der Dinge, die Art, in der die Dinge in unser Bewusstsein gelangen, die Weise, in der die Zeit in unserem Geist schwebt, der der einzige Ort ist, in dem sie Bedeutung erlangt." (Auch hier klingt das Original knapper und schwingender: "But then she might be wrong about what was ordinary. Maybe nothing was. Maybe there was a deep fold in the grain of things, the way things pass through the mind, the way time swings in the mind, which is the only place it meaningfully exists.)"

Dieser tiefe Riss in der Oberfläche unserer Wahrnehmung, durch den der Schock des Realen dringt und unsere gewöhnlichen Vermittlungs- und Schutzmechanismen des Symbolischen und des Imaginären durchschlägt, modifiziert unser Erkennen und unser Zeitgefühl in einem solchen Maße, dass wir die Zeit plötzlich als mit ungeheurer Bedeutung aufgeladen empfinden, deren Einordnung uns jedoch nicht gelingt, so dass das Nichtverstandene als Block bedrohlich stehen bleibt. Lianne versucht, sich dieser Erfahrung auszusetzen und sich ihr zu nähern, während Keith, das eigentliche Opfer, sich immer weiter entfernt und sich gar nicht bemüht, eine Sprache für seinen Schock zu finden. Früher schon gelegentlicher Pokerspieler - zwei seiner Mitspieler sind am 9.11. umgekommen, die Gruppe existiert nicht mehr -, fährt er jetzt wochenlang nach Las Vegas zum Glückspielen.

2. Kammerspiel mit Gott?

Der Roman ist mit großer Spannung erwartet worden, gilt DeLillo doch als einer der Autoren, die sich vor der Darstellung "großer" Politik wie den Kennedy-Morden und terroristischen Verschwörungen nicht scheuen und deren visionäre Kraft darüberhinaus geradezu prognostische Wirkung hat, wenn man etwa daran denkt, wie die beklemmende Schilderung eines geheimnisvollen chemischen Unfalls in "Weißes Rauschen" (1984) die Katastrophe von Tschernobyl gleichsam vorwegnahm. Und es berührt schon eigenartig, dass in dem noch früher verfassten Roman "Spieler" (1977) einige Szenen in dem kurz zuvor errichteten World Trade Center spielen und es beiläufig heißt: "Für Pammy hatten die Türme nichts Dauerhaftes. Sie blieben bloße Konzepte, trotz ihrer Masse nicht weniger flüchtig als irgendeine herkömmliche Lichtverzerrung."

DeLillo war schon immer ein Autor mit einem ausgeprägten Sensorium für Gewalt, Terror und Katastrophen ihren grellen Niederschlägen in unserem Bewusstsein. In seinem bisherigen magnus opum "Underworld" (1997) hat er in epischer Breite einen Bogen um die gesamte amerikanische Nachkriegsgeschichte, die Geschichte des Kalten Krieges bis zum Zusammenbruch des Ostblocks, geschlagen. Nun ist die Reaktion allerdings sehr zwiespältig, weil er nach zwei ebenfalls sehr zurückhaltend aufgenommenen Kurzromanen abermals ein sehr schmales Werk vorlegt, das sich wie in einem Kammerspiel auf einen kleinen Kreis von drei bis fünf Personen konzentriert. Wenngleich zugegeben wird, dass die über das ganze Werk verteilte, Stück um Stück ergänzte Schilderung von Keiths Flucht aus dem Inferno das mit Abstand Eindringlichste ist, was es dazu an literarischer Verarbeitung gibt. Aber dass gerade dieser Keith, das unmittelbare Opfer der Anschläge, ein reservierter, gefühlskalt wirkender Mann ist, ein Pokertyp eben, der immer stärker seiner Spielleidenschaft verfällt und so gar nicht zur Identifikation einlädt, hat dem Buch eine eher geteilte Rezeption eingebracht. Keith wirkt ein bisschen wie ein Vetter des kaltschnäuzigen, superreichen Börsenjobbers, der sich in DeLillos letztem Kurzroman "Cosmopolis" (2003) in einer Stretchlimousine durch New York kutschieren lässt und dabei seine Geschäfte macht.

Dagegen wirkt Lianne wie eine Variante der Performancekünstlerin Lauren aus dem vorhergehenden Kurzroman "Körperzeit" (2001), die den Schock des plötzlichen Todes ihres Mannes verarbeiten muss. Beide Frauen, deren Namen vielleicht nicht zufällig ähnlich klingen, verkörpern so etwas wie den hartnäckigen Versuch, nicht aufzugeben, sich der Katastrophe zu stellen, weiterzumachen und zu -suchen.

Das hat zum einen ganz praktische Konsequenzen. Lianne ist diejenige, die sich um das Kind kümmert. Sie engagiert sich darüber hinaus ehrenamtlich als Kursleiterin in einer Selbsthilfegruppe von Alzheimerpatienten, die im Kampf gegen den Verlust ihres Gedächtnisses kurze Selbstvergewisserungstexte schreiben und darüber sprechen. Die Diskussionen dieser Kranken, zumeist ganz einfachen Menschen, die nach dem 9.11. aufgeregt über den Sinn des Anschlags diskutieren, wo jeder gerade war, als es passierte, was für Menschen uns so hassen und wie Gott dies zulassen konnte, sind eindrucksvoll geschildert. Sie bringen die Intellektuelle Lianne, die beruflich als Verlagslektorin tätig ist, ebenfalls dazu, die Frage nach einer letzten Ursache oder eben Gott zu stellen. Sie spricht mit niemandem darüber, setzt sich in Kirchen, um die Atmosphäre auf sich wirken zu lassen und mit sich und dieser offensichtlichen Leerstelle zu hadern. In der letzten Szene des Buches, in der wir sie ruhig und gefasst, offen auf die Dinge zugehend erleben, wird sie noch einmal grübelnd gezeigt. "Sie dachte, dass die schwebende mögliche Gegenwart Gottes dasjenige sei, das Einsamkeit und Zweifel in der Seele säte, und sie dachte auch, dass Gott dasjenige sei, jene Wesenheit, die außerhalb von Zeit und Raum existiert und die diesen Zweifel auflöst in die tönerne Macht eines Wortes, einer Stimme. Gott ist die Stimme die sagt, 'Ich bin nicht hier'."

3. Stille und Stürze

Don DeLillo hat sich in all seinen bisherigen Werken damit beschäftigt, welch ungeheure Macht die Bilder auf unser Bewusstsein haben, und in den filigranen Netzen seiner Prosa, die oft zwischen hyperpräzisen Beschreibungen und philosophisch angehauchten Erklärungsansätzen ins Flirren kommt, die Wirkungen medial bestimmter Imagination aufzugreifen versucht. In diesem neuen Roman sind es zwei zentrale Bilder, zwischen denen sich die Funken der symbolischen Aufladungen seines Werkes entzünden.

Da sind zum einen die Bilder Giorgio Morandis, eines Malers quasi am Rande der klassischen Moderne, der, von 1890 bis 1964 zurückgezogen mit seinen Schwestern in seinem Elternhaus in Bologna lebend, vor allem für seine Stillleben ganz schlichter Alltagsgegenstände, Vasen, Schachteln, Flaschen berühmt ist. Bilder, die in ihrer fast Vermeer`schen Ruhe eine Art Kontrapunkt setzen zu der quirligen Moderne eines Kandinsky oder Picasso. Ein Maler also, der praktisch sein ganzes Leben damit verbrachte, Dinge mit einfachen Formen in erdigen, gedämpften Farben zu zeichnen und zu malen; Stillleben, fast totes Leben, das dennoch eine Aura ausstrahlt, obwohl nicht einmal Menschen in ihnen vorkommen. Von diesem Morandi nun hängen zwei Bilder in der Wohnung von Liannes Mutter, Geschenke des mit ihr befreundeten deutschen Kunsthändlers Martin.

Dieser Martin und Lianne schauen sich in den Tagen nach dem 9.11. eines dieser Bilder an, nachdem Martin sich eine heftige Diskussion mit der Mutter geliefert hat, wobei er den "europäischen", amerikakritischen Standpunkt in der Debatte vertreten hat. (In den 70er Jahren hat er, ein Deutscher, übrigens zumindest mit der RAF sympathisiert.) Es ist ein Bild mit sieben oder acht Objekten, Schachteln oder Dosen, gruppiert vor einem dunkleren Hintergrund:

"Sie schauten gemeinsam.

Zwei der höheren Gegenstände waren dunkel und schattig, mit rauchigen Flecken und Klecksen, und einer von ihnen war teilweise verborgen von einer langhalsigen Flasche. Die Flasche war eine Flasche, weiß. Die zwei dunklen Objekte, zu unklar um sie zu benennen, waren die Dinge, auf die Martin sich bezog.

'Was siehst du?' sagte er.

Sie sah was er sah. Sie sah die Türme."

Kunst bietet keinen Trost, keine Ablenkung. Das Bild der Türme, die es nicht mehr gibt, hat sich tief in die Wahrnehmung von Lianne und Martin eingefressen und kontaminiert alles, was wir mit Schönheit und Stille assoziieren.

Das zweite Bild, das sich in die Imagination eingebrannt hat und das hier eine wichtige Rolle spielt, ist ein Foto. Ein Agenturbild von einem der etwa 200 Menschen, die sich in auswegloser Lage aus den kollabierenden Türmen stürzten, um dem Tod durch Rauch oder Feuer durch den Sprung in den selbstbestimmten Tod zuvorzukommen. Kopfüber hinab, ein Bein angewinkelt, eingefroren in den Sekunden vor dem Tod, erschien dieses Foto am nächsten Tag in nur einer amerikanischen Tageszeitung als großes Titelbild und rief erregte Debatten darüber hervor, ob die Würde desjenigen, der hier gestorben war, verletzt sei. Die Identität dieses Falling Man, die bis heute nicht definitiv geklärt werden konnte, das Schicksal dieses einen unbekannten, in diesem Moment Sterbenden, an dem sich unsere Phantasie entzünden kann, bildet eine weiße Fläche, in der unsere Vorstellungen von den nVorgängen nach dem ungeheuren Aufprall, der Explosion in den oberen Stockwerken zusammenschießen können.

Mit einem anderen Foto eines vom World Trade Center in den Tod Stürzenden hat Jonathan Safran Foer vor zwei Jahren seinen Roman über den 9.11., "Extrem laut und unglaublich nah", enden lassen. Wenn man die letzten 15 Seiten dieses Buchs wie ein Daumenkino aufblättert, scheint der in den Tod Stürzende zurück, nach oben zu schweben. Es ist zweifelhaft, ob in dieser imaginären Auferstehung und dem Flug in den Himmel etwa Trost liegen mag. Liannes Alzheimerpatienten sprechen immer wieder über das Gerücht, man habe die Menschen, die in den Tod stürzten, sich an den Händen fassen sehen. Wir wünschen einfach, dass solche letzten Gesten menschlicher Solidarität angesichts von Grauen und Tod möglich sind.

In DeLillos Roman ist es dagegen ein Performancekünstler, der sich nach dem 9.11. kopfüber (über einem Trapez) an U-Bahnen oder anderen öffentlichen Orten hinabfallen lässt und so an das Schicksal dieser Opfer erinnert. Lianne erlebt einen seiner Auftritte und liest später in der Zeitung einen Nachruf, als einer seiner Stürze tödlich ausgegangen ist. Auch ihr geht sofort wieder das Bild von dem Agenturfoto durch den Kopf, und sie klickt es im Internet an:

"Es traf sie hart, als sie es das erste Mal sah, am Tag danach, in der Zeitung. Der Mann kopfüber, die Türme hinter ihm. Der Mann fallend, die Türme nahebei, dachte sie, hinter ihm. Die enormen saugenden Linien, die vertikalen Säulenlinien. Der Mann mit Blut auf seinem Hemd, dachte sie, mit Brandflecken, und der Effekt der Säulen hinter ihm, die Komposition, dachte sie, dunklere Streifen für den näheren Turm, den nördlichen, hellere für den anderen, und die Masse, die Immensität dessen, und der Mann fast präzise zwischen die Reihen der dunkleren und der helleren Streifen gesetzt. Kopfüber, im freien Fall, dachte sie, und das Bild brannte ein Loch in ihr Gedächtnis und ihr Herz, guter Gott, er war ein fallender Engel und seine Schönheit war schrecklich."

Während im ersten Bild die Wahrnehmung des Kunst-Schönen vom Einbruch des Grauens vergiftet wird, wächst im umgekehrten Fall aus Bildern des Todesgeschehens selbst eine Schönheit, die kaum zu ertragen ist. Der Einbruch des Realen versetzt uns in einen Wirbel, in dem unsere Sprache versagt und unsere Wahrnehmung ins Taumeln gerät.

4. Trauma und Transformation

DeLillo ist in der ersten Welle deutscher Besprechungen, die schon im Mai bei Erscheinen der amerikanischen Ausgabe veröffentlicht wurden, zum Teil die Flächigkeit und Eindimensionalität seiner Figuren vorgeworfen worden. DeLillo ging es aber noch nie um die Schilderung praller, psychologisch stimmiger Vollblutcharaktere, sondern um die Darstellung sozialer Wesen, die sich selbst oft fremd sind und die versuchen, eine Sprache für ihre Lage, ihre Gefühle und Gedanken zu finden. So kann man selbst etwa einen Umriss der Persönlichkeit von Lianne nachzeichnen oder ergänzen, zu dem DeLillo einige Momente liefert: ihre Beziehung zu Keith, ihr schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter, ihre fortwährende innere Auseinandersetzung mit ihrem Vater, der sich getötet hat, als sie 12 war, ihre Fremdheit gegenüber ihrem Jungen, für den sie die Verantwortung übernimmt, dem sie aber gleichwohl eigentümlich distanziert gegenübersteht. Schwieriger wird dies für Keith, dessen Person uns noch rätselhafter bleibt (und wiederum noch fremder bleibt uns ein Terrorist, dessen Werdegang in drei kurzen Kapiteln zwischen die drei Teile der Romanhandlung geschnitten wird - die Binnenperspektive, die DeLillo hier einzunehmen versucht, gehört zu den schwächeren Passagen des kurzen Romans).

Aber gerade an Keith wird, je mehr wir von seinem Erlebnis im Turm erfahren, immer deutlicher, dass er als Traumatisierter handelt. Der Einbruch des Grauens, auf den Lianne mit stockenden Suchbewegungen reagiert, auf das ihre Mutter und Martin mit heftigen politischen Diskussionen antworten, ist so lähmend, dass er kaum zur Sprache gelangen kann. In der Notaufnahme nach seinem Entkommen aus dem Turm erzählt ihm der behandelnde Arzt, es gebe so etwas wie organische Schrapnelle, wenn ein Selbstmordattentäter in einer Menschenmenge von der Bombe zerrissen wird und quasi seine Leichenteile sich ins Fleisch der Opfer schneiden. Aber bei ihm sei das ja wohl nicht der Fall, beruhigt der Arzt den verstummten Keith.

Der schockartige Schlag schierer Gewalt deformiert die Charakere. Beide, Keith und auch Lianne, lassen sich unter dem Trauma des 9.11. selbst zu körperlichen Angriffen auf andere hinreißen; Lianne, die einer Haus-Mitbewohnerin ins Gesicht schlägt, als diese sich beharrlich weigert, arabische Musik leiser zu drehen, und Keith, der im Kaufhaus einen Mann attackiert, der etwas Abschätziges über seine neue Bekannte geäußert zu haben scheint.

Die Sprachlosigkeit Keiths wird von Lianne, als sich ihre zweite, wohl endgültige Trennung deutlich abzeichnet, so gedeutet, dass sie ihm sagt, er wirke, als wolle er für das, was er erlebt habe, jemanden umbringen.

Was dies genau war, erfahren wir dann in dem furiosen Schlussabschnitt, der den erwähnten Terroristen im Flugzeug bis zum Moment des Einschlags im World Trade Center zeigt und dann umschlägt in die Schilderung der Detonation, wie Keith sie in einem der unteren Stockwerke erlebt. Es wirft ihn aus dem Stuhl, er taumelt benommen aus seinem Büro, wenige Momente später stirbt ein Freund in seinen Armen, dem er noch mit hinaushelfen wollte. Die Montage dieser Handlungsmomente - eben lasen wir noch Liannes stummen Monolog in der Kirche - vom Inneren des Cockpits in das Innere des Turms schafft eine überwältigende Vergegenwärtigung des Geschehens.

Jörg Häntzschel hat in der Süddeutschen Zeitung (22.5.07) DeLillos Werk vorgeworfen, es konzentriere sich ausschließlich auf die unmittelbare Darstellung des Grauens und seiner Erfahrung und blende damit all das aus, was aus dem 9.11. hervorgegangen sei, von Afghanistan bis Irak. Man könne diesen Tag, so der Kritiker, heute nicht mehr denken ohne das mitzubedenken, was aus ihm gefolgt sei.

Aber ist es nicht genau umgekehrt - vermögen wir uns nicht, wenigstens in Ansätzen und anhand von Einzelschicksalen, in das Grauen besser einzufühlen, etwa in die Lage eines Menschen, der sich in einer Hochzeitsgesellschaft irgendwo in Afghanistan befindet, die bei einem "Kollateralschlag" aus heiterem Himmel ausgelöscht wird, wenn wir uns das Grauen, das die New Yorker erleben mussten, derart vergegenwärtigen können?

Als Lianne drei Jahre später, als sie mit ihrem Sohn an einer großen Demonstration gegen den Irakkrieg teilgenommen hat - wenngleich voller innerer Vorbehalte - noch einmal zu einer Ausstellung von Werken Morandis geht, sieht sie in den gemalten Gegenständen die Türme nicht mehr. Die Objekte verschwimmen ihr, und ihr kommen die Gestalten ihrer Mutter, die inzwischen verstorben ist, und Martins ins Bewusstsein, die für sie beide mit der Betrachtung und Diskussion von Morandis Werken verbunden sind.

"Sie war sich nicht sicher, warum sie so aufmerksam blickte. Sie ging über das Vergnügen hinaus in eine Art der Anverwandlung. Sie versuchte, zu absorbieren was sie sah, es mit heimzunehmen, es um sich zu hüllen, in ihm zu schlafen. Es war dort so viel zu sehen. Umzuwandeln in den lebenden Schleier dessen, der du bist."

Ein letztes Mal werden so die Werke Morandis zur Interpretation herangezogen. Nicht so sehr, um herauszubekommen, was "eigentlich" in ihnen liegt. Das legen wir, indem wir uns in ihre Wahrnehmung vertiefen, in sie hinein, indem wir sie in unseren Bilder- und Assoziationsvorrat tauchen. Indem sie dadurch unsere Imaginationskraft verflüssigen und aktivieren, stärken sie den schwebenden Kern dessen, was wir uns vorzustellen und auszudenken vermögen. Und sei dieser "lebende Schleier" möglicherweise auch nur eine Ich-Illusion, zentriert er unsere Bilder- und Gedankenfluchten dennoch und hilft uns, dem Grauen ins Gesicht zu blicken, ihm standzuhalten, in welcher Form er uns auch immer überfallen mag. Mit solcher Stärkung unserer Imaginationskraft leistet DeLillos Werk, gerade indem es das Grauen und seine traumatisierende Wirkung schildert, einen Beitrag, ihm zu widerstehen.

Titelbild

Don DeLillo: Falling Man. 7 CDs.
Gelesen von Christian Brückner.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Heibert.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
34,95 EUR.
ISBN-13: 9783935125789

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Don DeLillo: Falling Man.
Kiepenheuer & Witsch, Kölm 2007.
304 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783462039207

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