Auf der Suche nach der Vergangenheit

Bernice Morgan zeichnet Familienstammbäume

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Am Ende des Meeres" vor Kanada befindet sich Cape Random, ein von den Naturgewalten gebeuteltes Stück Küste auf der Insel Neufundland. Lavinia Andrews, eine Meeresbiologin Mitte dreißig, hat hier ihre Wurzeln . Ein Forschungsprojekt verschlägt sie dorthin zurück, wo sie geboren wurde. Lavinias Projekt verläuft nicht wie geplant. Mit zunehmender beruflicher Frustration beginnt sie, vor Ort nach den Wurzeln ihrer Familie zu forschen. Das "Journal", ein Tagebuch ihrer Vorfahrin Mary Bundle, das ihr in einem Archiv in die Hände fällt, erweckt ihr Interesse: Ihr erschließt sich nach und nach die gesamte Geschichte ihrer Ahnen. Ihre Arbeit, den Familienstammbaum der Andrews zu erstellen und nachzuverfolgen, bindet sie immer näher an ihren Geburtsort. Sie stellt sich den Relikten ihrer Vergangenheit und erfährt, was ihre Mutter ihr verschwiegen hat.

Bernice Morgans "Am Ende des Meeres" aus dem Jahr 1988 wurde 1995 mit dem Atlantic Fiction Award ausgezeichnet. Der Roman der geborenen Neufundländerin, die als Redakteurin und Schriftstellerin arbeitet, liegt jetzt in der deutschen Übersetzung von Hanna Neves vor.

Die Autorin hat ihren Roman dreigeteilt, Beginn und Ende widmen sie der Geschichte von Lavinia Andrews, im mittleren Teil wird vom Schicksal der Vorfahren auf der Insel erzählt. Der "historische Teil", die Familiengeschichte der Andrews, die Lavinia in Form des alten Tagebuchs zuteil wird, wird farbig und - passend zum Ort des Geschehens - herb-poetisch erzählt. Der Erzähler, der uns durch den gesamten Roman führt, schildert uns die Erinnerungen der uralten Mary Bundle. Ihre Enkelin Rachel schreibt die Familienchronik nieder. Die Erinnerungen betreffen das Leben mit dem Meer, den Alltag von Menschen, die, abgeschnitten vom Festland, mit und von der Natur leben:

"Es dauerte keine Minute, bis sie die Mündung mit Pulver und Zähnen gestopft hatte. Dann pflanzte sie den Gewehrlauf in den Schnee [...]. 'Jetzt!' kommandierte sie. 'Schrei!' Ned brüllte: 'Mary liebt Ned!' worauf an die zwanzig Vögel mit lautem Flügelschlag aufflogen. Sie feuerte, und zwei Vögel fielen wie Steine zu Boden.[...] 'Ein guter Tausch, würd ich sagen - zwei Vögel gegen zwei Zähne', rief sie triumphierend und veranstaltete einen kleinen Siegestanz, auf ihren Schneeschuhen auf- und abhüpfend. 'Dir kommt´s vielleicht so vor, es waren ja nicht deine Zähne' sagte Ned vorwurfsvoll."

Solche anekdotisch-humorvollen Momente wünscht man sich in diesem Roman häufiger, doch sie bleiben rar. Die Vorzeichen der Geschichte wirken vertauscht: Die eigenwilligen Figuren im "historischen Teil" erscheinen uns lebendig und klar gezeichnet, obwohl sie nur aus den Erinnerungen einer Uralten stammen. Die Hierarchie der Inselbewohner untereinander wird plastisch offengelegt. Die Rahmengeschichte, die den größeren Teil des Romans ausmacht und die Gegenwart, Kindheit und Zukunft von Lavinia Andrews betrifft, lässt dies vermissen. Die Poesie der Erzählung schwindet, der Erzählstil wirkt über weite Strecken trocken und emotionslos. Die Figuren - die Mutter, der Verlobte, der Sohn - bleiben schemenhaft wie die Protagonistin selbst. Auch eine detaillierte Beschreibung ihres Äußeren, die erst im letzten Viertel des 360-Seiten-Romans ihren Platz findet, bringt die Person Lavinia dem Leser nicht näher. Zu unmotiviert geschehen ihre Handlungen, zu wenig schlüssig bleibt ihr Charakter. Es ist irritierend, hier immer wieder auf die Namen von Figuren zu stoßen, die weder für die Handlung noch für die Protagonistin wichtig scheinen. Zudem verwirren die Zeitsprünge des allwissenden Beobachters, der aus der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft berichtet und uns trotzdem so viel verschweigt.

Lavinias Geschichte ist zu wenig elaboriert, um die Gewichtung des Romans zu erklären. Was von ihr verschwiegen wird und warum dies geschieht, entzieht sich dem Leser. Der Roman, der seinen Stoff beinahe ausschließlich aus dem Zeichnen von Figuren zieht, verzeiht solche Lücken nicht. Ein kräftiger Schuß Humor und Erzählfreude, von denen uns Bernice Morgan viel zu kleine Kostproben gönnt, hätte womöglich mein Herz für die Lebensgeschichte der Frau zwischen zwei Welten geöffnet.

Titelbild

Bernice Morgan: Am Ende des Meeres, Sonderausgabe. Dtsch. v. Hanna Neves.
dtv Verlag, München 1999.
357 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 342308524X

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