Escape to Life - und doch allein

Über Michael Lentz' neuen Roman "Pazifik Exil"

Von Kai SinaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sina

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass die Geschichte nicht auf ein vorherbestimmtes Ziel zuläuft, keinen geraden und sinnvollen Verlauf kennt und damit nicht als Einheit, sondern als Entwurf gedacht werden muss - so einleuchtend diese Einsicht für das postmoderne Subjekt ist, so folgenschwer ist sie für den Geschichtsschreiber: Ist es nicht seine Aufgabe, den kollektiven Geschichtsentwurf ins konkrete Einzelne, in die historische, unendlich facettenreiche Lebenswirklichkeit zurückzuführen?

Mit "Pazifik Exil" führt Michael Lentz vor, wie eine solche Rückführung aussehen kann. Er öffnet in weitgehend lose zusammenhängenden und fragmentartigen Introspektionen den Blick auf die Innenwelten der Personen hinter dem literaturgeschichtlich kanonisierten Label der Exilliteratur. Ohne jede auktoriale Bevormundung schildern Thomas und Heinrich Mann, Bertolt Brecht, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel aber auch Arnold Schönberg (zumeist nebst Anhang) ihre individuellen Sichtweisen auf das Exil, ihre Lebenswirklichkeit in der Fremde, ihren Blick auf das Schreiben in Zeiten der Heimatlosigkeit und die kulturelle Zerrissenheit zwischen Abendland und Neuer Welt. Dass Lentz sein Buch dabei ausdrücklich einen Roman nennt, scheint einleuchtend: Geschichte, wie sie wirklich war, gibt es nicht - nicht im Leben, nicht in der Wissenschaft, nicht in der Literatur: "Alles Fiktion", lässt Lentz seinen Heinrich Mann an einer Stelle sagen. "Die größte Fiktion ist die Annahme, dass es Geschichte überhaupt gibt." Die Fiktion wird damit selbst zur letzten Wahrheit und die Literatur zu ihrem Medium. Lentz stutzt die Bezüge auf die außerliterarische Wirklichkeit entsprechend auf einzelne Daten und Details. "Pazifik Exil" ist damit in der Tat "das Gegenteil eines realistischen Romans".

Doch wie füllt der Autor die fiktionalen Räume, die ihm diese von der historischen Wirklichkeit fast vollends emanzipierte Literatur eröffnet? Streckenweise schildert der Roman eine tiefe Schwermut, eine innere Zerrissenheit, der man sich schwerlich entziehen kann. So denkt der mittellose Heinrich Mann am absoluten Tiefpunkt seines Lebens, bei der Beerdigung seiner versoffenen Ehefrau Nelly: "Was sich hier abspielt [...], sind die jämmerlichsten Augenblicke meines Lebens. Und die lächerlichsten." Man glaubt ihm.

Ähnlich erschütternd gelingt Lentz die Schilderung der Identitätskrise Franz Werfels: "Wo befindet sich Franz Werfel? Franz Werfel befindet sich vor allem in sich selbst. Dieses Ichselbst ist aber ein anderes als es vorher war." Das von Rimbaud ins Wort gesetzte Diktum der Moderne "Ich ist ein anderer" - Lentz gelingt es auf eindrucksvolle Weise, diese Selbsterfahrung literarisch zu inszenieren. Unterstützt wird dies durch eine rasante, streckenweise atemlose Sprache, die immer wieder ihre eigene Sogwirkung entfaltet. Der Roman verfehlt seine beabsichtigte Wirkung in diesen Passagen nicht.

Diese Momente sind indes rar gesät. Wenn Lentz dem Exilanten Thomas Mann den Satz unterschiebt, "Heinrich ginge es besser, wenn die Schlampe Nelly nicht wäre", so illustriert dies nur ungenügend ein tief zerrüttetes Brüderverhältnis. Vielmehr rücken diese über den Text verstreuten Flapsigkeiten den Roman in eine Ecke, in die Kritiker bereits Heinrich Breloers Film über die Familie Mann verbannen wollten: "Literatur-Dallas".

Schwerer aber noch wiegt die mangelnde Inspiration, mit der Lentz seine Figuren zeichnet. Lentz zaudert, einen neuen, einen anderen Blick auf seine Exilanten zu werfen. Die fiktionale Freiheit, die sich Lentz selbst eröffnet, bleibt auf diese Weise ungenutzt. Brecht und die Frauen, die skandalumwitterte Alma Mahler-Werfel, der "Faustus"-Zwist zwischen Arnold Schönberg und Thomas Mann - all dies ist bereits bekannt, aufgearbeitet und mehrfach interpretiert worden. Lentz hat dem nichts hinzuzufügen.

"Pazifik Exil" nutzt sein Thema als Vehikel, um über Anderes zu sprechen: über die Unmöglichkeit der Geschichte, über die Literatur, über Erinnerung, über Heimat und Fremde. Hätte Lentz den Umweg über die Psychologisierungen seiner Figuren genutzt - es hätte ein großes literarisches Abenteuer, vielleicht gar ein "Schlüsselroman des Abschieds" werden können.


Titelbild

Michael Lentz: Pazifik Exil. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
460 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783100439253

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