Ein Aussteiger als Aufsteiger

Sandro Veronesis wundervoller Familienroman ist auch eine subtile Parabel über Manager

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Bestseller in Italien war schon der vorige Roman des 1959 geborenen Sandro Veronesi: 'Sein anderes Leben'. Neben dem Publikumserfolg wurde das Buch auch von der Kritik mit einer ganzen Reihe von Literaturpreisen ausgezeichnet. Es handelte von der Zerbrechlichkeit familiärer Lebenssicherheiten. Der Ich-Erzähler erlebt diese existenziellen Verunsicherungen, als ein Unbekannter ihm nach dem Tod seines vermeintlich erzkatholischen und christdemokratischen Vaters eröffnet, dass der in Wirklichkeit ein russischer Topspion war, der über 40 Jahre unter falscher Identität zum italienischen General aufgestiegen war. Schon in diesem Roman fanden sich ergreifende Passagen zur Fragilität von Familienbindungen nebst sensiblen Formulierungen väterlicher Kindesliebe. Der am Beginn der über vierjährigen Arbeit an seinem neuen Roman 'Stilles Chaos' durch Trennung zum alleinerziehenden Vater von drei Söhnen gewordene Erfolgsautor greift diese nur vordergründig nach kitschigem Rührstück klingende Thematik in seinem neuen Roman wieder auf. Aus einem Drama von Schicksalsschlag und folgendem Aussteigertum entfaltet sich ein abgründiges, doch humorgetränktes Gesellschaftspanorama.

Gleich der Beginn des neuen Romans 'Stilles Chaos' zeigt Veronesi als einen literarischen Könner: Auf gut zehn Seiten schildert er, wie der Ich-Erzähler und sein Bruder am italienischen Strand zwei ertrinkende Frauen retten. Diese Eröffnung beeindruckt durch realistische Großaufnahmen der körperlichen wie psychischen Abläufe und durch ihre hinreißende dramaturgische Ökonomie. Doch wird diese äußerst spannende Aktion ihres reißerisch heldenhaften Ambientes umgehend entwunden. Denn es folgt die lakonische Beobachtung, dass die große Strandgesellschaft, die untätig die Rettungsaktion beobachtete, die eigentlichen Retter keines Dankes und keiner Aufmerksamkeit für wert hält, sondern sich am sicheren Ufer aufgeregt um die erschöpften Damen und mehr noch um sich selber kümmert. Auch im vorigen Roman (der übrigens mit dem gleichen, Beckett entlehnten Motto überschrieben ist: " Ich kann nicht weitermachen. Ich werde weitermachen") stand am Anfang der Handlung eine generöse Handlung des Protagonisten, der das Preisgeld einer literarischen Auszeichnung spontan an die Mutter eines ihm unbekannten Jungen, der im Koma liegt, weiterreicht - und ebenfalls kaum Dank dafür erhält. Die literarische Gerechtigkeit (oder: der trostspendende Autor) lässt die Geretteten respektive Beschenkten freilich im Laufe der Erzählung jeweils nochmals zurückkehren - freilich mit höchst unterschiedlichen Folgen für den Erzähler.

Im neuen Buch folgt dieser initialen Szene schlecht gedankten Heldenmuts freilich noch eine weitere, traurige Pointe. Während der Erzähler Pietro die fremde Frau rettet, stirbt zu Hause vor den Augen der zehnjährigen Tochter die eigene Lebensgefährtin, die er wenige Tage später endlich heiraten wollte. Mittels raffinierter Andeutungen, besonders von der als lebensuntüchtig und esoterisch diskreditierten Schwägerin, aber auch zwischen den Zeilen der Selbstkommentare des Ich-Erzählers, bleibt es bis zuletzt in der Schwebe, ob der Protagonist ein nahezu perfekter Lebenspartner und Familienvater war, oder doch eher ein egozentrischer, unaufmerksamer Selbstverwirklicher. Denn der Erzähler des Ganzen ist in Veronesis Konstruktion als Ich-Erzähler natürlich Partei. Daraus resultiert, wie bei allen modernen, unzuverlässigen Erzählstimmen, die feinsinnige Ironie in den Berichten, die der Protagonist nun von dem knappen halben Jahr gibt, das auf den Tod der Gefährtin folgt.

Ohne dass er einen großen Plan hätte, und ohne dass seine Tochter ihn darum gebeten hätte, verweilt Pietro aus dem Bedürfnis der Nähe zur verwaisten Tochter am ersten Schultag nach den Sommerferien einfach vor ihrer Schule. Und diesen Posten, beobachtend und wartend vor der Schule, neben seinem schicken Auto, bezieht der Manager einer Fernsehgesellschaft, die gerade mit einem internationalen Telekommunikationsunternehmen fusioniert werden soll, nun täglich. Denn er bemerkt, dass er sich dort wohlfühlt und dass ihm die Karriereprobleme in seiner Firma zunehmend gleichgültig werden. Aus dieser Fremdheit, aus seinem Nicht-Mehr-Mitspielen in den betrieblichen Machtspielen resultiert nun ironischerweise eine Unbefangenheit, die ihn als Manager sehr begehrenswert macht.

Damit wären wir beim zweiten thematischen Strang (neben den Familienbeziehungen) dieses fulminanten Erzählkunstwerks: der Ökonomie in Zeiten der globalen Firmenfusionen. Sein großzügiger Chef erlaubt dem Trauernden, sich, so lange er mag, von den Alltagsgeschäften in den Büros fernzuhalten und seine notwendigen Telefonate, Faxe oder Unterschriften von der Straße vor der Schule aus zu leisten. Dieser extraterritoriale Posten wird im Laufe der Handlung zu einer Art Pilgerort und Klagemauer. Hierhin kommen die Kollegen und sogar die Vorgesetzten, um sich von dem Halb-Aussteiger beraten zu lassen und vor allem: um bei ihm ihre Sorgen abzuladen. Denn der Vater, der sich aus Sorge um seine Tochter vom beruflichen Hamsterrad verabschiedet, wird von den Kollegen und letztlich von halb Mailand zunehmend als eine Art Heiliger betrachtet.

Dem Trauernden, der freilich, wie er durchgehend insistiert, gar nicht wirklich niedergeschlagen oder gar unglücklich ist mit seinem neuen Leben, tragen die Beladenen der Familien- und Berufswelt nur allzu gerne ihre eigenen Leidensgeschichten zu. Am Ende suchen ihn gar die nahezu allmächtigen, milliardenschweren Konzernlenker auf, um ihm Beförderungen anzubieten und um ihn im Machtpoker der Firmenfusion als Ratgeber oder Seelentröster zu benutzen. Sehr schön und plastisch sind die Gedankenströme von Luxus- und Reichtumsszenarien (mit Privatjet nebst 25 und schließlich 50 Meter langer Privatjacht), die Pietros Bewusstsein angesichts dieser verlockenden und doch furchtbaren Aufstiegsangebote durchströmen.

Aus dieser dem Erzähler zuwachsenden Rolle als eine Art Beichtvater resultiert, dass Veronesis Roman zu einem Füllhorn von wunderbaren, absurden, traurigen und komischen Geschichten und Charakterstudien wird. Neben einer intimeren Kenntnis der Sorgen und Nöte seiner Kollegen macht der Erzähler so die Bekanntschaft einer rätselhaften schönen Frau, die ihren Hund täglich hier ausführt. Ein alter trauernder Witwer, der seinen Umzug in die Geburtsstadt Rom vorbereitet, lädt ihn zum Spaghetti-Essen ein. Ein Junge mit Down-Syndrom, den seine Mutter heldenmütig täglich zur Therapie bringt, freundet sich mit dem Auto des Erzählers an. Die schöne, aber selbstdestruktiv chaotische Schwägerin des Ich-Erzählers irritiert nicht nur durch ihre Zweifel am verflossenen Beziehungsglück des Erzählers; sie war auch einst kurz seine Geliebte und ist nun eine vom Leben verstörte, alleinerziehende Fernsehmoderatorin mit drei Kindern von verschiedenen Vätern. Der Bruder Carlo ist ein höchst erfolgreicher Modeunternehmer, der sich freilich mittels Reisen und Drogen permanent auf der Flucht zu befinden scheint: auf der Flucht vor den Erinnerungen an den Vater, mit dem er brach, und an eine drogensüchtige Jugendliebe, deren Suizid er nicht verhindern konnte. Gleichwohl ist dieser Onkel mit seiner Kult-Jeansmarke und seinen Starbekanntschaften ein Idol von Pietros Tochter - obwohl oder gerade weil er die Zehnjährige nur selten und nachlässig besucht. Diese (so unverdiente) Zuneigung der eigenen Tochter verunsichert den Erzählervater.

Die Subtilität der psychologischen Einblicke in die gespannten oder angeknacksten Familienbeziehungen ist von fesselnder Eindringlichkeit. Sie werden mittels prägnanter Szenen und Erzählungen vorgetragen, denen manchmal 'theoretische' Explikationen des Ich-Erzählers folgen. Ein Blickwechsel zwischen Vater und Tochter in der Sporthalle, wo die Zehnjährige schon sehr anspruchsvolle Turntrainings absolviert, wird vom Erzähler herangezoomt und (für den Leser, als Bewusstseinsstrom) seziert: "Da, du hast mich angeschaut: ein perfekter Blick, laß dir das sagen: ganz aus den Augen, ohne die kleinste Kopfbewegung, blitzschnell, intensiv und eben romantisch, ein Blick, den niemand sonst auffangen kann; ein zutiefst reiner Kind-Eltern-Blick, noch unbelastet von Schuld und Verständnislosigkeit, die eines Tage auftauchen und den Blick trüben werden, wenn ich dich zum ersten Mal wegen einer dummen Sache verletzt haben werde oder umgekehrt."

Als meisterlicher Dichter großer Gefühle zeigt sich Veronesi auch in der Erzählung einer wilden, überraschenden und in ihren psychologischen Abgründen verstörenden Sexszene (die in einem Artikel der vatikanischen Zeitung "Osservatore Romano" schwer gerügt worden ist). Die von ihm aus dem Meer gerettete Frau macht nämlich schließlich den Erzähler ausfindig, besucht ihn auf seinem Posten vor der Schule und lädt ihn, nachdem sie ihren Mann verlassen hat, der bei ihrer Rettung so schmählich versagte, zu einem aufwühlenden Treffen. Das Ende der Erzählung vom beruflichen Ausstieg und der Annäherung an die Tochter überrascht mit einer neuerlichen, psychologisch raffinierten Volte, die hier nicht verraten sei. Hervorgehoben zu werden verdient jedoch Veronesis Kunst der überzeugend gebauten Dialoge. Dabei verfügt er souverän über die Darstellung des kommunikativen Schweigens. Die Synkopen des nicht Antwortens indizieren oft so viel mehr als die ausgesprochenen Worte. Veronesis dialogisches Schweigen wird grafisch folgendermaßen dargestellt: "..." Und es wird gelegentlich mit einem, ebenfalls genau verzeichneten Schweigen des anderen beantwortet. Im italienischen Original, das von Ulrich Hartmann vorzüglich ins Deutsche übertragen wurde, liest sich dies übrigens so:

"-..."

"-...".

Sandro Veronesi ist ein großer Künstler im Entwerfen von Charakteren und im Erfinden präziser Dialoge mit einem verführerisch realistischen Sound. Diese Virtuosität ist für einen Romancier schon weit mehr als die halbe Miete und man fragt sich, wie gut der Mann als Theaterautor sein könnte. Ausgehend von der Kontingenz, der schieren Zufälligkeit von Begebenheiten in Berufs- wie Familienleben öffnet Veronesi eine Wundertüte von Geschichten voller Zärtlichkeit und Humor. Der Ausgangspunkt seiner Erzählkunst - das Chaos, der Zufall und die Ironie - ist ganz auf der Höhe moderner Lebensverhältnisse. Doch erhält der Leser durch den banalen alltäglichen Heldenmut der Protagonisten (und sei es nur in Form des standhaften Weitermachens) einen willkommenen Trost.

Das stille Chaos als Existential unübersichtlicher Verhältnisse in Stadt, Wirtschaft und Familie erhält von diesem italienischen Romancier und seinem liebenswürdigen und doch doppelbödigen Ich-Erzähler seinen hintergründig humorvollen Ausdruck. Dieses stille Chaos mit all den Abschattungen und Ambivalenzen seiner emotionalen und kognitiven Valeurs wird von Veronesis feiner Palette aus Aufmerksamkeit und Ausdruckskunst bewundernswert erfasst. Das stille Chaos inmitten unserer saturierten Spätmoderne findet in Veronesis Erzählkonstruktion und Erzählton einen anmutigen, charismatischen Stil. Es wird aufgehoben (in allen drei Hegel'schen Bedeutungen) in einem erzählerischen Kosmos, dessen raffinierte Ordnung größtes Lesevergnügen bereitet.


Titelbild

Sandro Veronesi: Stilles Chaos.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann.
Knaus Verlag, München 2007.
480 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783813502862

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