Ein Märchen für Erwachsene

Jane Urquhart erzählt von ungewöhnlichen Frauen

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einem hartgesottenen Realisten, der bekanntlich mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Tatsachen steht, dürfte es schwer fallen, sich auf den raunenden Märchenton und die fantastischen Geschichten dieses Buches einzulassen. Zumindest, dies sei gleich vorweggeschickt, braucht der Leser Zeit, Geduld und Einfühlungsvermögen, um den fantasiebegabten, geheimnisumwitterten Frauen mit dem siebten Sinn, der Ahnfrau Mary und ihren weiblichen Nachkommen in ihrer Erd- und mehr noch in ihrer Wasserverbundenheit nahe zu kommen und ihren Erlebnissen Geschmack abzugewinnen.

Die Frauen dieser Familie, heißt es zu Beginn des Romans, "neigten zu Extremen". Sie wohnten in nördlichen Breiten und an eisigen Gewässern und wurden von Wiedergängern heimgesucht. Esther O'Malley Robertson, "die letzte und gezähmteste dieser extremen Frauen", bekam mit zwölf Jahren von ihrer Großmutter Eileen eine merkwürdige Geschichte erzählt. Jetzt ist sie alt geworden, wohnt in einem alten Haus am Loughbreeze Beach an der südlichsten Grenze der kanadischen Provinz Ontario und möchte diese Geschichte sich selbst und dem Großen See erzählen, weil sonst niemand zum Zuhören da ist. Alles begann 1842 auf der Insel Rathlin vor der nördlichsten Küste Irlands. Esthers Urgroßmutter Mary hatte als junges Mädchen einen erschöpften jungen Mann am Strand gefunden, der kaum, als sie ihn mit beiden Händen am Hemd packte, zwei meergrüne Augen aufschlug und den Namen "Moira" aussprach, ehe er starb. Mary beschloss sofort, ihren Namen in Moira zu ändern.

Von nun an lebte sie als Fremde in ihrem Elternhaus und in ihrem Dorf. Alles um sie herum war auf einmal unbedeutend geworden. Sie sprach nur noch in Versen und Gesängen, die sie sich während ihrer Nachtwache bei dem Leichnam ausgedacht hatte. Im Dorf redete man davon, dass sie von einem Dämonen heimgesucht worden sei. Sie sei "fort" gegangen, sagt der Volksmund, denn so nennen die Iren all jene, die geistig von ihnen entrückt sind. Immerhin ist Irland ein Land voller Legenden, in denen es von Doppelgängern, Kobolden, Totenfrauen, Liebesflüsterern, großen Hunden und schwarzen Nonnen nur so wimmelt. Selbst Pater Quinn war dem Aberglauben, den alten Märchen und Sagen verfallen. Alle fürchteten, dass Mary irgendwann einmal vollends von den "Anderen" entführt werden könnte. Dennoch konnte sie überredet werden, den Lehrer Brian O'Malley vom irischen Festland zu heiraten. Auf seinen Heiratsantrag antwortete sie in Rätseln. "Ich bin hier, aber ich bin nicht hier", sagte sie. "Ich werde deine Frau sein, aber ich werde nicht deine Frau sein." Als Mary schwanger wurde und einem Sohn namens Liam das Leben schenkte, klang ihre Sehnsucht nach Stränden ab und ihr Denken wandte sich landeinwärts.

Nach der Hungerkatastrophe im Jahr 1845 wandert die junge Familie nach Kanada aus. Hier wird die Tochter Eileen geboren. Plötzlich jedoch kehren die Trance-Zustände von Mary zurück. Wieder steht sie häufig am Ufers eines nahegelegenen Sees. Er trägt den bedeutungsvollen Namen Moira Lake. Eines Tages ist Mary dann für immer verschwunden, obwohl das Neugeborene noch "nicht einmal entwöhnt" ist. Einige Jahre darauf, Eileen ist inzwischen sieben Jahre alt, findet man Mary, erfroren im Wald, wo sie bis dahin "wie eine Wilde" gelebt hat. Dem Indianer Exodus Crow hatte sie zuvor ihr Geheimnis anvertraut: "Ich werde vom Geist dieses Sees geliebt, mit dem ich meinen Namen teile: Moira. Zum ersten Mal hat mich dieser Geist aufgesucht, als er im Wasser des Moyle lebte. Später, als ich auf der großen Insel lebte, kam er zu mir aus einem dunklen See in der Nähe meines Hauses. In diesem Land hier glaubte ich schon, er habe mich vergessen, bis ich von dem See namens Moira hörte. Da wusste ich, wo er war. Nun werde ich bis an mein Lebensende hier bei ihm bleiben. Ich werde von ihm geliebt, und er wird von mir geliebt."

Die Kinder schließen sich nach dem Tod der Mutter enger an den Vater an. Abends erzählt er ihnen Geschichten aus Irland, vom Freiheitskampf der Iren, von der Geschichte der Verfolgung des irischen Volkes, aber auch Märchen und Sagen von verzauberten Kindern des Meeresgottes Lir, die ihr Dasein als Schwäne auf dem Wasser des Moyle fristen mussten. Bald wird offenkundig, dass Eileen die Gabe der Ahnungen geerbt hat. Sie spricht mit den Vögeln und verbringt oft ganze Nächte auf einem Baum. Schweigsam, zurückhaltend und von großer Schönheit lebt sie nach dem Tod des Vaters in der Einsamkeit, bis ein Mann in ihr Leben einbricht: Aidan Lanigham, ein Anhänger des irisch-kanadischen Politikers D'Arcy McGee. Er hat die gleichen schwarzen Haare und grünen Augen wie der tote junge Seemann, ist ein wundervoller Tänzer und tief in die irische Politik in Kanada verstrickt. Eileen folgt ihm nach Montreal und Ottawa. Doch ihre leidenschaftliche Liebe zerbricht nach einem politischen Mord. Viele Jahrzehnte danach wird Esther, Marys Urenkelin, Zeugin der erbarmungslosen Industrialisierung ihres Landes und der Zerstörung ihres Hauses.

Die kanadische Autorin erzählt die auf historischen Quellen basierende Geschichte von irischen Auswanderern und die Legende von den ungewöhnlich starken und schönen Frauen in einer bilderreichen Prosa und einem gehobenen poetischen Ton, mit viel Gespür für die irische und kanadische Landschaft und die irische Seele, wobei sie Stimmungen und Atmosphäre nuancenreich vermittelt. Doch wie gesagt, Geduld und Zeit braucht man schon für diesen etwas versponnenen und märchenhaften Roman.

Titelbild

Jane Urquhart: Fort. Aus dem Englischen von Werner Richter.
Berlin Verlag, Berlin 1995.
430 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3827000807

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch