Lessings Neffe

Zur Verleihung des Nobelpreises an Doris Lessing

Von Luise F. PuschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luise F. Pusch

Seit gut 200 Jahren kennen wir "Rameaus Neffe" von Diderot in Goethes Übersetzung. Aber war das klassische Werk des großen Aufklärers am Ende nur das Prequel zu "Lessings Neffe"?

Der Reihe nach: Vor einer Woche hatte ich einen Workshop zur feministischen Sprachkritik in Graz. Getreu dem Titel der Veranstaltung schickte ich die TeilnehmerInnen an die Arbeit und ließ sie unter anderem den lehrreichen Zeitungsartikel "Der Kaiser sagt Ja" analysieren. Sie identifizierten im Handumdrehen sämtliche Sexismen und brachten mir sogar noch etwas bei. Unsere Kultur kenne nicht nur die Vorschrift "Mann vor Frau", sondern auch "Celebrity vor Nobody", erklärten die GrazerInnen. Neben "Kaiser Franz heiratet seine Heidi" sei deshalb auch "Madonna heiratet ihren Guy" durchaus gängig.

Einer der Kommentatoren zu meinem Blog hatte mich auch schon darauf hingewiesen: "Kinderkriegen können auch Kühe, aber gut Fußballspielen können nur Götter!" Falsch - möchten wir diesem rüden Herrn zurufen. Die Frauen unserer Nationalelf können beides!

Aber die Regeln "Mann vor Frau" und "Celebrity vor Nobody" erklären noch nicht alles. Es gibt auch noch die Meta-Regel "wir vor den anderen" (Mann vor Frau ist nur die patriarchale Ausprägung dieser Regel). Die beiden deutschen Nobelpreisträger für Chemie und Physik, Ertl und Grünberg, wurden in Deutschland endlos gefeiert; in den USA blieben sie Nobodys. Es war nur zu lesen, dass der Physikpreis an Leute gegangen war, ohne die es den Ipod nicht gäbe (das klang doch wenigstens nach amerikanischer Mitwirkung). Auch von dem Literatur-Nobelpreis an die Schriftstellerin Doris Lessing war wegen der Turbulenz um den Friedens-Nobelpreis an Al Gore noch nicht viel durchgedrungen, als ich eine Woche später in Boston ankam.

Die befreundete Autorin Cristina Fischer, die regelmäßig die Ostsee-Zeitung liest, berichtet mir hin und wieder von merkwürdigen Lesefrüchten. Zum Nobelpreis an Doris Lessing titelte die Ostsee-Zeitung (OZ) allen Ernstes: "Nobelpreis für Gysis Tante".

Ob die OZ ihre LeserInnen nicht doch ein wenig unterschätzt? Glauben sie wirklich, dass MeckPomm so provinziell ist, dass man(n) Doris Lessing nicht kennt, sondern nur ihren angeheirateten Neffen Gregor Gysi? Wir sollten die Anregung der OZ sofort aufnehmen und hinfort statt "Gregor Gysi" nur noch "Lessings Neffe" sagen. Es wird ihn sicher freuen.

Die Kommentare zu Lessings Nobelpreis waren überhaupt sehr aufschlussreich. Unser Literaturpapst fand die Wahl bedauerlich, und auch Denis Scheck hätte lieber Philip Roth oder John Updike gesehen. Ich muss zugeben, dass ich mit Lessing auch ein wenig enttäuscht war. Ich warte nämlich jedes Jahr darauf, dass Swetlana Alexijewitsch den Preis bekommt, nachdem Galina Starowojtowa und Anna Politkowskaja ermordet wurden, bevor sie mit dem Friedens-Nobelpreis geehrt werden konnten.

Übrigens fand keiner unserer Literaturversteher, die jemand anders für den Preis vorgesehen hatten, dass der Preis an eine andere Frau hätte gehen sollen. Sie fürchten wohl, dass der Preis dann an Prestige verliert. Aber zum Glück werden die Auszeichnungen in Skandinavien vergeben, wo in letzter Zeit das Prinzip "Mann vor Frau" sogar für die Thronfolge abgeschafft wurde.

Umberto Eco fand die Wahl in Ordnung, wunderte sich nur, dass der Preis schon wieder nach England geht. Italien wäre ihm da wohl lieber gewesen. Elfriede Jelinek fand den Preis an Lessing überfällig, genau wie die Preisträgerin selber. Sehr sympathisch auch die Reaktion von Julia Franck, die ein paar Tage zuvor den deutschen Buchpreis bekommen hatte: Natürlich stünde der Preis Lessing schon lange zu, er komme viel zu spät. "Hoffentlich hat sie noch genug Zeit, das Geld auch auszugeben", meinte sie nachdenklich. Sie spricht die wirklich wichtigen Dinge des Lebens unverblümt an, ganz wie Doris Lessing. Möge sie selbst den Preis zeitig genug bekommen - aber erst nach Swetlana Alexijewitsch!

Anmerkung der Redaktion: Dieser Text erschien bereits auf der frauenbiografischen Webseite "FemBio". Wir danken der Autorin für die Publikationserlaubnis.