Flucht ins Gelobte Land

Nino Ricci erzählt von Heiligen und Neukanadiern

Von Martin KuesterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Kuester

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Der Biss der Schlange" (1993) oder, wie der Roman im englischen Original heißt, "Lives of the Saints" (1990), ist der erste Roman des kanadischen Romanciers Nino Ricci und wurde zum Grundstein einer Trilogie, die er mit den Werken "In a Glass House" (1993, dt. "Das Glashaus", 1994) und "Where She Has Gone" (1997) fortsetzt. Der Roman wurde zum kanadischen Bestseller des Jahres 1991 und gewann die bedeutendsten kanadischen Buchpreise wie z. B. mit dem Giller Prize den finanziell einträglichsten und mit dem Governor General's Award den ranghöchsten. Schon die Verlagsreklame auf dem Einband der Erstausgabe scheute nicht vor Vergleichen mit international erfolgreichen Autoren wie Bruce Chatwin, Michael Ondaatje und Flannery O'Connor zurück, und der Erfolg des Buches gab diesem Lob Recht.

"Der Biss der Schlange" ist eine Ich-Erzählung aus der natürlich begrenzten Perspektive des siebenjährigen Vittorio Innocente, dessen Namen man sich vielleicht etwas weniger offensichtlich gewünscht hätte. Die Geschichte spielt Anfang der 60-er Jahre in einem entlegenen und zurückgebliebenen, von altem Aberglauben und überkommenen Traditionen beherrschten italienischen Dorf in den Apenninen und endet mit dem Exodus von Vittorio und seiner Mutter Cristina in das sagenumwobene Amerika (genauer: Kanada), in das sein Vater, Mario, schon einige Jahre vorher ausgewandert ist. Eine Narbe im Gesicht von Vittorios Mutter deutet allerdings schon an, dass nicht allein ökonomische Zwänge an der Trennung der Ehepartner Schuld sind.

Die Notwendigkeit der Emigration Vittorios und seiner Mutter aus dem konservativen, von Cristinas Vater seit Mussolinis Zeiten patriarchalisch beherrschten Dorf wird durch eine neuerlich, offensichtlich auf außerehelichem Wege zu Stande gekommene Schwangerschaft Cristinas noch klarer. Ihre Affäre mit einem mysteriösen Fremden ist nur eins von vielen Zeichen ihrer Auflehnung gegen traditionelle Werte und Vorurteile, die zum großen Teil schon älter sind als Christentum und Katholizismus.

Der Argwohn der Dorfbewohner wird noch besonders angestachelt, da die Zeugung ihrer unehelichen Tochter mit dem (nur in der deutschen Übersetzung auch im Titel vorkommenden) Biss einer Schlange koinzidiert. Wegen Cristinas Verstoß gegen die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze der dörflichen Gemeinschaft wird ihre Familie von den anderen geschnitten: ihr Vater muss von seiner Position als Bürgermeister zurücktreten, und sie beschließt, nach Kanada auszuwandern. Wahrscheinlich plant sie allerdings weniger, dort wirklich ihren Gatten zu treffen.

Ihr Streben nach Emanzipation und Unabhängigkeit, das sie in der Enge des Apenninnendorfes nicht verwirklichen konnte, hätte sie vielleicht eher in der Neuen Welt ausleben können, aber sie stirbt auf der Überfahrt, nachdem, während eines Sturms, ihre Tochter geboren wird. Nur Vittorio und seine Schwester erreichen das "gelobte Land", in dem sie mit Vittorios Vater ein neues Leben beginnen.

Da die Perspektive, aus der der Roman erzählt wird, meist die des unerfahrenen siebenjährigen Jungen ist, muss der Leser die für das Verständnis der Handlung notwendigen Schlüsse selbst ziehen: Eindrücke werden geschildert, aber nicht oder nicht richtig interpretiert. Während der englische Titel des Romans, "Lives of the Saints" auf einen wichtigen strukturellen Aspekt des Romans hinweist, fällt dieser im allzu offensichtlichen deutschen Titel weg: In der Erziehung Vittorios, insbesondere in seiner engen Beziehung zu seiner Dorfschullehrerin, spielen Heiligenlegenden eine wichtige Rolle, nämlich Giambattista del Fiores Version der mittelalterlichen "Legenda Aurea". Die maestra liest ihm regelmäßig aus den Legenden vor, und diese Heiligengeschichten werden zu einem intertextuellen Strukturprinzip von mythologischen Anspielungen, die den Roman durchziehen. Da die Schwangerschaft seiner Mutter in Vittorios Sicht mit dem Auftauchen einer Schlange zusammenfällt, interessiert er sich natürlich besonders für Legenden, in denen Reptilien eine wichtige Rolle spielen. Zum einen hat sein Dorf sich vom traditionellen Patron St. Michael, dem Drachtentöter, ab- und der Madonna zugewandt. Zum anderen wurde Santa Cristina, die Namenspatronin seiner Mutter, "in eine Grube mit hundert giftigen Schlangen geworfen", und als sie im Meer ertränkt werden sollte, fuhr sie stattdessen gleich in den Himmel.

Der Roman, Riccis Erstling, der, wie schon oben erwähnt, im Laufe der 90-er Jahre durch zwei weitere Bände über das Leben Vittorio Innocentes in Kanada und Afrika ergänzt wurde, ist im englischen Original flüssig und sehr lesbar geschrieben. Das gleiche kann man von Dirk van Gunsterens Übersetzung sagen, wenn der reißerische deutsche Titel auch der Komplexität des Werks nicht ganz gerecht wird: Ein wichtiger Beitrag zur kanadischen Literatur, dem man auch in der deutschen Übersetzung noch viele weitere Leser wünscht.

Titelbild

Nino Ricci: Der Biss der Schlange. Aus d. Engl. v. Gunsteren, Dirk van.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1993.
256 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3608958193

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch