Auf dem deutschen Sonderweg?

Wir sollten wieder geopolitisch denken, erklärt Niels Werber - und erläutert, welche Literatur uns das längst vormacht

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Raum als geopolitische Kategorie ist wieder da. Das diagnostizierten Niels Werber und Rudolf Maresch 2002 in dem von ihnen herausgegebenen Sammelband "Raum - Wissen - Macht". Es gebe einen "neuen Willen zum Raum". Die Autoren betonen den topographical turn in den Kulturwissenschaften, und in ihren Essays schließen sie seitdem Begriffe wie Land, Territorium, Grenze, Ort mit fortgeschrittener Medien-, Technik-, System- und Cyber-Theorie kurz.

In seinem neuen Buch "Die Geopolitik der Literatur" schlägt Niels Werber nun vor, den Zusammenhang von Raum, Medien und Macht als "geopolitisches Prisma" zu bezeichnen, das die Bedingungen unserer Welt- und Gesellschaftsauffassungen abgibt - nicht nur in politischen, sondern auch literarischen Entwürfen.

Theorien ohne Raum

Der Autor entwickelt drei Thesen. Die erste ist auf einer sozialwissenschaftlichen Meta-Ebene anzusiedeln: Prominente (System-)Theorien von einer "atopischen" (Helmut Willke) Welt-, Netzwerk- oder Informationsgesellschaft haben die Kategorie des Raumes vernachlässigt. Diese "Entterritorialisierung" in der abstrakten Theoriearchitektur bei Autoren wie Niklas Luhmann, Helmut Willke, Norbert Bolz, Manuel Castells und anderen bringt einen Nachteil mit sich: Sie nimmt systemische Prozesse aus ihren regionalen Kontexten, übersieht Ungleichzeitigen und Ausgrenzungen und kann das Bestreben politischer Kräfte, Räume und Techniken (machtpolitisch) zu besetzen, nicht fassen.

Nach Werber verkennt diese Theorie die Realitäten und bewegt sich im Extremfall auf die utopische Vorstellung hin, die Ausbreitung der "raumüberwindenden" Kommunikationstechniken bringe einen kulturellen Universalismus, mehr Frieden und Demokratie in der Welt mit sich. Dem stehen Theorien entgegen, die einen "Kampf der Kulturen" (Samuel P. Huntington) konstruieren oder angesichts viel diskutierter hegemonialer Bestrebungen der USA nach dem 11. September 2001 das Bild des "Imperiums" (Herfried Münkler) wieder in den Vordergrund rücken.

Carl Schmitt und Co.

Die zweite These des Buches erklärt, warum geopolitisches Denken in diesen Entwürfen von der Weltgesellschaft verschwunden ist: Geopolitik steht in der Nähe imperialistischer, faschistischer und rassistischer Ideologien und Großraumtheorien; als Pseudowissenschaft avancierte sie zur Staatswissenschaft des Nationalsozialismus und stellt Werber zufolge insofern ein "ungewolltes Erbe" dar. Auf Theorieebene erschien spätestens nach 1945 Immanuel Kants "Ewiger Friede" als Denkmuster weitaus weniger verdächtig als etwa Carl Schmitts "Freund-Feind"-Schema.

Auf den ersten Blick mag diese These von einer schuldbewussten Vermeidung geopolitischen Denkens einleuchtend klingen, sie hinterlässt aber irgendwie ein ungutes Gefühl. Denn will Werber nun der Geopolitik wieder einen Platz einräumen, dann muss er seine Referenzen beim Namen nennen. Werber zitiert aus dem Dunstkreis unsäglicher "Blut und Boden"-Semantik, setzt an beim politischen Geografen Friedrich Ratzel, folgt Carl Schmitt und Ernst Jünger, landet bei Hans Grimm ("Volk ohne Raum", 1926), um nur einige seiner Bezüge zu nennen. Deren Ergüsse sind nicht nur unsympathisch und an einigen Stellen des Buches kaum zu ertragen. Ihre ständige und vielfach unvermittelte Hervorkehrung lässt darüber hinaus die Vermutung aufkommen, der Autor wolle aktuelle Theoriestrategien mit altbackenen (und gefährlichen) Konzepten des deutschen Sonderweges gegeneinander ausspielen.

Diese Kritik wird allerdings an Werber abprallen. Zum einen ist es eine Tatsache, dass zwar nicht nur, aber auch jenes extreme Gedankengut à la Schmitt und Co. in den Schaltzellen von Militärs und Machthabern über die Zeit am Leben erhalten wurde - was ausgefeilte philosophische Theorien (Michel Foucault, Giorgio Agamben) reflektieren. Zum anderen zeigt sich Werber als Autor, der realpolitisches Denken in großen Linien nachzeichnet und dabei manchmal unkonventionelle Gedankensprünge wagt. Auf diese Weise produziert er Texte, die weder politisch noch wissenschaftlich in eine feste Schublade passen.

Literaturlandschaften

Werbers dritte These schließlich führt in die Beschäftigung mit Literatur: Mit großem Aufwand versucht Werber zu zeigen, wie belletristische Bestände aus dem 19. und 20. Jahrhundert ein Wissen über Geopolitik, Raum und Machtstrategien bereit halten und sich als politisch anschlussfähig erwiesen haben. Diese Frage ist leitend für seine Durchsicht von Heinrich von Kleists "Hermannsschlacht" (1839), Hermann Melvilles "Moby Dick" (1851), Gustav Freytags "Soll und Haben" (1855), John R. R. Tolkiens "Herr der Ringe" (1954/55), Stanislaus Bialkowskis "Krieg im All" (1935) und der "Star Wars"-Filme (ab 1977).

Da der Autor die Auswahl dieser aus unterschiedlichen Genres, Zeiten und Ländern stammenden Werke nicht explizit begründet, sollten diese Kapitel am besten als interessante Beispielstudien gelesen werden. Nicht klar ist, warum im Titel des Buches von "der" Literatur die Rede ist. Der Leser fragt sich: Warum geht Werber - denn das wäre historisch konsequent - nicht dem geopolitischen Sonderweg in der deutschen Literaturgeschichte nach? Oder: Warum wendet er sich nicht der Spionage- und Politthriller-Literatur zu, die doch geopolitisch gesättigt genug ist? Wie auch immer, Werber macht deutlich, dass geopolitische und kriegerische Beschreibungen des Raumes in bestimmten literarischen Konstruktionen zu entdecken sind, teilweise bevor sie staatlich vereinnahmt wurden.

Alles in allem hinterlässt das Buch einen gemischten Eindruck. Am stärksten ist Werbers Analyse dann, wenn systematische Kategorien die Folie für die Literaturbetrachtung abgeben. Im "Moby Dick"-Kapitel ist das der Fall. Hier stellt Werber zunächst die Kategorien "Land" und "Meer" bei Autoren wie Carl Schmitt, Giles Deleuze, Felix Guattari, Michael Hardt, Antonio Negri, Michel Foucault und Helmut Willke gegenüber und macht sie dann für die Betrachtung des Romans von Melville fruchtbar - das ist erhellend zu lesen.

Schwierig wird das Buch, wenn Werber zu schnell über Einzelheiten hinweggeht. Das darf getrost für das Kapitel über deutsche Amerikabilder gelten: Werber erschöpft sich in der Darstellung antiliberaler Positionen "von Herder bis Ratzel", die Amerika als raum- und deshalb geist- und geschichtslos brandmarkten. Noch stärker zu differenzieren, hätte sicher gut getan. Ein Blick auf die vier unterschiedlichen kontinentalen Amerikabilder, die Claus Offe in seinen Adorno-Vorlesungen "Selbstbetrachtungen aus der Ferne" (Suhrkamp, 2003) vorführt, hätte wohltuende Relativierungen mit sich gebracht.

Beackertes Terrain

Wem der über 300 Seiten lange Schmöker viel zu materialreich und komplex erscheint, sollte die Kapitel einzeln unter Spezialgesichtspunkten lesen oder sich bereits publizierten Texten von Werber zuwenden. Tatsächlich bewegt sich der Autor auf einem von ihm seit langem beackerten Terrain. Ein Blick auf Werbers Veröffentlichungen verrät, dass er die meisten Themen schon in früheren Aufsätzen angedacht, wenn nicht längst abgearbeitet hat. Leicht zugänglich sind Werbers zahlreiche Essays beispielsweise auf der Internet-Plattform "Telepolis". Dort wird der Leser die wichtigsten Thesen seines Buches wieder entdecken können.


Titelbild

Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
333 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446209473

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