Das kosmopolitische Gemüt

Zu Joseph von Eichendorffs Kulturkritik

Von Jutta OsinskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jutta Osinski

Joseph von Eichendorffs Kulturkritik gilt dem politischen, gesellschaftlichen und literarischen Leben seiner Zeit. Sie nimmt Phänomene wie die Herausbildung des Parteienwesens nach 1815 oder die Verfassungsfrage im Vormärz in den Blick, sie bezieht sich auf Einstellungen und Verhaltensweisen im städtischen Bildungsbürgertum, im Adel oder im so genannten Volk, auf das Bildungswesen, den Konfessionalismus oder die Frauenemanzipation ebenso wie auf technische und wirtschaftliche Entwicklungen oder auf Literatur und literarisches Leben seiner Gegenwart. Betrachtet man seine historischen, politischen und literaturgeschichtlichen Schriften im Zusammenhang, lassen sie, bei aller Verschiedenheit der Themen und Bereiche, auf die Eichendorff sich bezieht, ein einheitliches Denken erkennen. Dieses kann man als ein Kulturmodell beschreiben, in dessen Rahmen Wirklichkeit wahrgenommen und gedeutet wird. Das Modell prägt die Kritik und begründet nicht zuletzt Vorstellungen von einer deutschen Kulturnation, die Eichendorffs eigener nationalkultureller Vereinnahmung um 1900 Vorschub geleistet haben.

Eichendorff begreift seine Zeit grundsätzlich als eine Zeit der Krise, als Zeit eines Entscheidungskampfes zwischen einer falschen Kultur, die in allgemeine Anarchie, in den Zerfall aller sozialen Bindungen und in den Kampf aller gegen alle führt, und einer wahren Kultur, in der Mannigfaltigkeit und individuelle Verschiedenheit miteinander harmonieren und das Leben sich in allen Bereichen und auf allen Ebenen von Individuum, Gesellschaft und Staat entfalten kann. Dreh- und Angelpunkt der Krise sind für ihn die Französische Revolution von 1789 und deren Auswirkungen auf Deutschland, durch die längst morsch gewordene alte Ordnungen zertrümmert worden seien. "Aber unter Trümmern kann niemand wohnen", heißt es in "Der Adel und die Revolution", und

"es mußte notwendig auf anderen Fundamenten neu gebaut werden, und von da ab begann das verzweifelte Experimentieren der vermeintlichen Staatskünstler, das noch bis heute die Gesellschaft in beständiger fieberhafter Bewegung erhält. Es wiederholte sich abermals der uralte Bau des Babylonischen Turmes mit seiner ungeheueren Sprachenverwirrung, und die Menschheit ging fortan in die verschiedenen Stämme der Konservativen, Liberalen und Radikalen auseinander."

In den 1830er- und 1840er-Jahren bis hin zu seinem Tod 1857 versteht Eichendorff den Parteienstreit zwischen Konservativen, Liberalen und Radikalen in Deutschland als Symptom einer falschen politischen Kultur, die auf einem "verzweifelten Experimentieren" beruhe, das zu nichts führen könne. Denn im Kampf der ideologischen Richtungen gegeneinander sei allenfalls ein rein mechanisches, ausgeklügeltes, künstlich stabilisiertes Gleichgewicht herzustellen. Es könne als willkürlich gemachtes deshalb politisch nicht von Bestand sein, weil es auf wechselseitigem Misstrauen statt auf harmonischem Zusammenwirken aller Kräfte beruhe, so eine soziale Dauerkrise verursache und jederzeit revolutionsgefährdet sei. Das bloß Mechanische, in Überschätzung einer alles regulierenden Vernunft Institutionalisierte sieht Eichendorff als ein Erbe der Aufklärung an - wie er auch die Französische Revolution letztlich als Folge einer Selbstüberhebung menschlicher Vernunft im aufklärerischen Säkularisationsprozess betrachtet. In diesem Sinne ist der areligiöse Liberalismus des deutschen Vormärz für ihn eine Fortsetzung der alten Aufklärung des 18. Jahrhunderts im neuen Gewande - und ebenso des ideologischen Despotismus und der Tyrannei verdächtig wie die Konservativen und die Radikalen, die 1848/49 unterschiedliche politische Systeme etablieren und durchsetzen wollen. Eichendorff ist der Auffassung, dass ein gesunder Staat überhaupt keiner politisch ausgehandelten Verträge im Sinne eines bloß mechanisch hergestellten Gleichgewichts der Kräfte, also der Gewaltenteilung und des parlamentarischen Parteiensystems, bedürfe. Das betrifft die Verfassungsfrage. Im "Politischen Brief" heißt es:

"Am lächerlichsten ist mir [...] immer die Wut vorgekommen, Verfassungen zu machen. [...] es gibt einen Despotismus der Liberalität, der so unleidlich ist wie jede andere Tyrannei, indem er das frische Leben fanatisch mit eitel Garantien, Vor-und Rücksichten umbaut, daß man vor lauter Anstalten zur Freiheit nicht zu dieser selbst gelangen kann. Denn Willkür bleibt Willkür, sie komme, woher sie wolle [...]."

Wenn Parteienstreit und Verfassungsfrage nun Ausdruck einer falschen, das so genannte "frische Leben" und die "Freiheit" insgesamt nicht fördernden politischen Kultur sind, dann bleibt nach der wahren zu fragen. Und dafür gibt es neben der Französischen Revolution einen zweiten, jetzt aber positiv gewerteten Dreh- und Angelpunkt in Eichendorffs Kulturkritik: Es ist die Zeit der preußischen Reformen nach 1807 und des deutschen Freiheitskampfes von 1813/14. Die Reformen werden als historisch und national angemessene, behutsame Veränderungen von Gewordenem, nicht als bloß oktroyierte, mechanisch gemachte Gesetze verstanden, und die Erhebung gegen Napoleon bedeutet für Eichendorff lebenslang, dass die so unterschiedlichen, verschiedenartigen deutschen Länder sich wenigstens einmal in lebendig-harmonischer Einheit zusammengefunden haben, ohne dass sie zur Einerleiheit zusammengeschmolzen seien wie die Regionen und Landschaften in Frankreich.

"Viele verschieden gestimmte Saiten geben erst Harmonie, und wahrlich, im Jahre 1813 gab es einen schönen Klang durch das gesamte Deutschland. Vor allem aber behüte uns Gott vor einem deutschen Paris, das wie jenes benachbarte alle besonderen Meinungen, Gedanken und Interessen aus dem ganzen Reiche einsaugte, um sie auf dem allgemeinen politischen Webestuhl der Zeit zu verarbeiten und dann das Zeug [...] als offizielle Modeartikel wieder in die Provinzen zu versenden".

Für die Verfassungsfrage bedeutet das, dass sie sich in Deutschland anders stellt als in Frankreich: Dort sei nach der großen Revolution gar nichts anderes möglich gewesen, als über den Trümmern der Geschichte Neues, bloß Gemachtes, für alle Gleiches als mechanischen Kräfteausgleich zu etablieren. Dies habe den Aufstieg und Fall Napoleons, des Tyrannen, nach sich gezogen, der auch das längst in sich zersetzte Deutsche Reich und Preußen zu Fall gebracht habe. Eben deshalb aber konnte in den preußischen Reformen wieder und kann seitdem immer noch in Deutschland auf das historisch Gewordene, auf die eigene organisch gewachsene Geschichte zurückgegriffen werden, ohne dass man, wie schon einmal, einer falschen Aufklärung aufsitzen müsste. Wahre politische Kultur bedeutet: "Mit und in der Geschichte der Nation muß die Verfassung, wenn sie nicht bloße Komödie bleiben soll, organisch emporwachsen wie ein lebendiger Baum, der, das innerste Mark in immergrünen Kronen dem Himmel zuwendend, sich selber stützt und hält und den Boden beschirmt, in dem er wurzelt."

Nun wuchs der Baum der Verfassung in der politischen Realität des Vormärz nicht so, wie Eichendorff es wollte. Aber das widerlegt die Kulturkritik aus seiner Perspektive nicht, sondern bestätigt sie. Denn wenn Parteienvielfalt und Meinungspluralismus, Konservative, Liberale und Radikale nicht organisch-harmonisch zusammenwirken, sondern in Richtungs- und Machtkämpfe führen, ist das für ihn ja immer schon Symptom einer falschen Kultur, einer Moderne, die in die allgemeine Anarchie und Auflösung mündet. Diese deutsche Moderne wurzelt nicht im historisch gewordenen, lebendigen nationalen Leben wie der Baum, nicht in den preußischen Reformen oder im Freiheitskrieg von 1813, sondern in den alle Ordnung zersetzenden Ideen der Französischen Revolution, und deshalb sind ihre sozialen Zeichen Zerrissenheit, Müdigkeit, Weltschmerz, intellektuelle Blasiertheit, hemmungsloser Individualismus, Verfallenheit ans Materielle, Oberflächlichkeit, Modetorheiten - kurz, gesellschaftliche und individuelle Entwurzelungs- und Entfremdungserscheinungen, die auf einer falsch verstandenen Emanzipation zur Freiheit und auf einem falsch verstandenen Fortschritt beruhen.

Solche Entfremdungserscheinungen nimmt Eichendorff auf den verschiedensten Gebieten wahr; seiner politischen Kritik entspricht die Kritik an Individuum und Gesellschaft. So versteht er z. B. die Urbanisierung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit führt, die das kulturelle Angebot vervielfacht und generell eine Beschleunigung öffentlichen Lebens mit sich bringt, als Abweichung von einer gesunden, lebendigen, in Traditionen wurzelnden Volkskultur, wie sie bei der Landbevölkerung noch gegeben sei. Aus dem Volk soll die allgemeine Regeneration kommen, aber es ist verführbar durch die öffentliche Meinung:

"Glaubt man denn in vollem Ernst, daß diese täglich sich selbst überlebende Zeitungsweisheit [...] jemals ein volles Bild von dem Baume des Lebens in Wurzel, Stamm und Zweigen geben, daß dieses isolierte, zerstückelte Wissen, diese hohle Phraseologie in der Tat eine tüchtige Volksgesinnung entwickeln könne? [...] Unvorbereitet, unbegründet brechen Wahrheit, Systembruchstücke, Lüge und beschränkte Verkehrtheit auf das verblüffte Volk herein. [...] Jeder greift nur das heraus, was seiner [...] einmal vorgefaßten Meinung zusagt, [...] und eine gewisse Virtuosität in der Einseitigkeit ist zuletzt das Ergebnis [...]."

Eine tüchtige Volksgesinnung sei unabhängig von der Tagespolitik heranzubilden, nicht aber durch eine Presse, die ungefiltert Widersprüchliches verbreitet. Aber auch unter anderen Aspekten entfremden große Städte den Menschen von sich selbst; sie sind Brutstätten von Eitelkeiten und Oberflächlichkeiten, zuweilen auch schlimmster Übel. Man denke an das Horrorbild von Paris in der Erzählung "Das Schloß Dürande" oder an Eichendorffs satirische Schilderungen von literarischen Teegesellschaften oder emanzipierten städtischen Frauen im Vormärz. Wenn in seinen Texten ein weibliches Wesen mit brennender Zigarre auftaucht - sei es in der Satire "Libertas und ihre Freier" die Marzebille oder sei es die Dame im Eisenbahnwagen, "die eben ihre Zigarre angeraucht" und sich über den letzten Romantiker lustig macht -, kann man sicher sein, dass man es mit falsch verstandener Emanzipation zu tun hat, die wahre Freiheit verhindert. Oberflächlichkeit und intellektuelle Blasiertheit, wie sie die Dame im Eisenbahnwagen demonstriert, sind für Eichendorff Folgen einer Reizüberflutung, die der Beschleunigungsfaktor im öffentlichen Leben mit sich bringt. Unter dem Aspekt der Reizüberflutung verhindern Diversifikation, Pluralisierung und kulturelle Überangebote eine angemessene individuelle Verarbeitung von Wahrnehmungen, so dass Zerfahrenheit und Zerrissenheit oder Blasiertheit, Müdigkeit und Weltekel geradezu vorprogrammiert sind.

Die falsche Kultur der Beschleunigung erlaubt keine Selbstkultivierung des Ichs, weil sie echtes Erleben von Wahrgenommenem unmöglich macht. Dazu tragen technische, industrielle und ökonomische Entwicklungen bei. Fahrten mit der Dampfeisenbahn etwa, auf die wir aus dem ICE heute nur wehmütig zurückblicken, können im Vergleich zum Erwandern einer Landschaft schon als reizüberflutend gelten. So ist es denn auch bei Eichendorff. Er satirisiert im Text "Erlebtes" eine Eisenbahnfahrt, die wirkliches Erleben nicht zulässt, weil "die vorüberjagenden Landschaften, ehe man noch irgendeine Physiognomie gefaßt, immer neue Gesichter schneiden, der fliegende Salon immer andere Sozietäten bildet, bevor man noch die alten recht überwunden".

Das ist ernstgemeint und nicht prinzipiell fortschrittsfeindlich, sondern wahrnehmungspsychologisch gedacht. Eichendorff setzt der wahrgenommenen Beschleunigung durch Urbanisierung, Technisierung und kulturelle Überangebote die Eigenzeit des Individuums entgegen, das Eindrücke von außen erst einmal verarbeiten muss. Und das gilt für alle Eindrücke von außen, für Gesehenes, Gehörtes, Gelesenes. Das bedeutet, verallgemeinert: Eichendorff plädiert für Bildung als Ausbildung und Selbstkultivierung der Persönlichkeit. Bloße Wahrnehmung von Neuem und eine reine Ansammlung von Wissen lehnt er ab, vor allem jede Reizüberflutung durch immer neues Wissen. Sie produziert lediglich oberflächliche Menschen, die auf allen Gebieten dilettieren und keines gründlich kennen. Lebenslanges Lernen in einer sich beschleunigenden Wissensgesellschaft, wie man heute sagt, heißt für Eichendorff noch Persönlichkeitsbildung gegen eine sich beschleunigende Wissensgesellschaft. In diesem Zusammenhang ist seine Kritik an den Universitäten großer Städte von Interesse.

"Wie [...] soll der [...] Jüngling [...] sich wahrhaft entscheiden, wo jedes natürliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler, wie es in kleinen Universitätsstädten stattfindet, durch den betäubenden Lärm und die allgemeine Zerfahrenheit der Residenz ganz unmöglich wird? Auch hier [...] droht [...] ein vager Dilettantismus und der lähmende Dünkel der Vielwisserei. Bei der Jugend ist eine kecke Wanderlust, sie ahnt hinter dem Morgenduft die wunderbare Schönheit der Welt; sie sich selbsttätig zu erobern ist ihre Freude. In den großen Städten aber fängt die Jugend gleich mit dem Ende an. Aller Reichtum der Welt liegt in der staubigen Mittagsschwüle schon wohlgeordnet um sie her, sie braucht ihren Fauteuil nur gähnend da - oder dorthin zu wenden, sie hat nichts mehr zu wünschen und zu ahnen - und ist blasiert."

Wenn Eichendorff Bildung gegen Wissen, Eigenzeit des Individuums gegen soziale, wirtschaftliche und technische Beschleunigung, Land und Provinz gegen Residenz und Stadt, Volk gegen Bildungsbürgertum, gewachsene Ordnungen gegen den Kampf um eine Verfassung setzt, dann geht es in diesen und anderen denkbaren Oppositionen immer um das Ideal eines harmonischen Zusammenwirkens aller Kräfte auf der einen Seite und um Abweichungen von diesem Ideal auf der anderen Seite. Die Krise der modernen Kultur reduziert sich für ihn letztlich darauf, dass ihr ein übergreifendes, Individuum, Gesellschaft und Staat harmonisierendes Sinnsystem fehlt, das Pluralität und Differenz in einer höheren Einheit vermitteln könnte. Dies kann auch und gerade die Literatur nicht mehr - denn Literatur ist nach Eichendorff Ausdruck des geistigen Lebens einer Nation.

Und so spiegelt die Literatur der 1830er- und 1840er-Jahre insgesamt in seiner Wahrnehmung die Krise der Nation wider - als Tendenz- und Kontroversliteratur, als politisch engagierte Tagesschriftstellerei, als Publizistik, die der allgemeinen Zerfahrenheit in Tendenzen, Positionen, unvereinbare Standorte entspricht. Das richtet sich vornehmlich gegen die Jungdeutschen und politisch engagierte Schriftsteller des Vormärz. Aber auch Goethe, dessen Ikonisierung zum Nationalautor seit den 1830er-Jahren gründlich betrieben wurde, kann keine Orientierung bieten. In der "Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands" nennt Eichendorff ihn zwar ausdrücklich den "eigentlichen Führer der modernen Kultur". Dies ist jedoch gemeint im Sinne einer Repräsentation der falschen Kultur, denn: Goethe habe "die vollendete Selbstvergötterung des emanzipierten Subjekts und der verhüllten irdischen Schönheit" erreicht. Er habe nicht die rechte Gesinnung gehabt, aber formal-ästhetisch vollendete Werke hinterlassen, "für immer würdig des größten Inhalts, den [ihnen] künftige Geschlechter wieder geben möchten."

Die Dichter also, weder Goethe noch die Verfasser der neuesten unschönen Literatur, können keine Wegweiser sein, sofern sie ihre Zeit nur spiegeln, statt auf ein Höheres hin zu transzendieren. Sie könnten es aber sein, wenn sie der falschen Kultur genau das entgegensetzten, was ihr fehlt, nämlich: "Gesundheit und Freudigkeit gegen blasierte Zerrissenheit, fromme Naturwahrheit gegen gespreizte Lüge, eine Poesie der Liebe gegen die Poesie des Hasses".

Was fehlt, ist längst deutlich geworden: Es fehlt die rechte religiöse Gesinnung als sinngebende, integrativ wirkende Orientierung in allen Bereichen. Eichendorff plädiert sowohl für eine Kultur des national organisch Gewordenen und Gewachsenen als auch für eine umfassende Rechristianisierung Deutschlands und Europas. Wahre Dichter können die erstrebte Weltharmonie im Gegenentwurf zur falschen Kultur der Moderne, in der Poesie, vorwegnehmen. Als Ausdruck des geistigen Lebens einer Nation sind Literatur und Kunst historisch und systematisch an die jeweilige Mentalitätsgeschichte gebunden. Eine "der Schule entwachsene Romantik" jedoch, welche "die religiöse Weltansicht, die geistige Auffassung der Liebe und das innige Verständnis der Natur sich herübergerettet hat", kann im Gegenentwurf zu dem, was ist, eine Welt gestalten, "wo aller Zwiespalt verschwindet und Moral, Schönheit, Tugend und Poesie eins werden". Echte Dichter, die wahrhafte Poesie schaffen, orientieren sich dabei nicht nur an Geschichte und Gegenwart, sondern vor allem an ewigen Werten.: "Was hat der ewige Himmel mit jenen vorüberziehenden schmutzigen Staubwirbeln zu schaffen? Wandeln doch die alten Sterne noch heut, wie sonst, die alten Bahnen und weisen noch immer unverrückt nach dem Wunderlande, das jeder echte Dichter immer wieder neu entdeckt. Wo daher ein tüchtiger Schiffer, der vertraue ihnen und fahr in Gottes Namen!"

Die Aufhebung allen Zwiespalts in der Poesie, die das Schöne, Wahre, Gute umfasst, ist nicht Realität, sondern Zukunftsprojektion - ebenso wie das Bild vom echten Dichter eine Idealvorstellung ist. Die Konzeptionen einer wahrhaften Poesie und des echten Dichters sind Gegenentwürfe, die als Fluchtpunkte der Literatur- und Kulturkritik fungieren. Auch Eichendorff selbst blieb ja dem "Zwiespalt" verhaftet, wenn er durch Kritik, Satire und Polemik erst jene Zustände mit herbeiführen musste, die Grundlage und Ziel wahren Lebens und wahrer Poesie sein sollten.

Eichendorff übt Kritik an seiner Gegenwart im Bewusstsein, in einer weltgeschichtlichen Krise zu leben, deren Zentrum sich von Frankreich nach Deutschland und vom Politischen aufs Geistige und Ideologische verlagert hat. Auf welchen Gebieten auch immer: Die Kulturkritik hat das Ziel, bewusstseinsbildend zu wirken und von der falschen zur wahren Kultur zu führen. Das zugrunde liegende Kulturmodell entspricht Positionen der katholischen Spätromantik. Diese geht davon aus, dass nach Revolution, Napoleon, Freiheitskampf und restaurativer Unterdrückung im Metternich´schen System allein eine neue religiöse Weltanschauung die insgesamt als deviant wahrgenommene Gegenwart vor dem Zerfall schützen könne. Vorbildmodell für die gedachte Integration von Vielheit und Einheit im harmonischen Ineinanderwirken von Individuum, Gesellschaft und Staat ist die katholische Kirche; diese wird nicht politischhierarchisch, sondern als ein lebendiger Organismus aufgefasst.

In den Konfessionskämpfen seit den 1820er-Jahren verstanden die Spätromantiker sich selbst nicht als parteilich - gerade Eichendorff hat wiederholt den Ultramontanismus kritisiert. Er selbst, wie schon Friedrich Schlegel oder Joseph Görres, übte Kritik an allen politisch, ideologisch oder ästhetisch zweckgerichteten Kampfpositionen der Zeit und siedelte den Standort der eigenen Kritik darüber an. Aus heutiger und schon aus zeitgenössischer Sicht war das ein Irrtum - aber die katholischen Spätromantiker fühlten sich höherer Wahrheit verpflichtet.

Und es gab ja für die Wahrnehmung Anzeichen dafür, dass sich eine solche Wahrheit in der deutschen Realität durchsetzen werde. 1825 wurde Ludwig I. von Bayern König, der die katholische Spätromantik hoch schätzte; in den 1830er-Jahren erstarkte die katholische Bewegung neben Bayern auch im Rheinland. 1844 gestaltete sich die Wallfahrt zum Heiligen Rock nach Trier als erste katholische Massenbewegung, 1848 fand der 1. Katholikentag statt - all diese Ereignisse nahm Eichendorff wie Görres wahr als das ersehnte Wiedererstarken des religiösen Bewusstseins von unten, aus dem Volk, gegen die falsche säkularisierte Kultur der Moderne.

In der "Streitschrift gegen den Deutschkatholizismus" wird die Wallfahrt nach Trier so gedeutet, dass "in Frankreich und Deutschland die Massen und die ernsten Gemüter, welche die Weltgeschichte machen, sich den positiven, göttlichen Geheimnissen entschieden wieder zugewendet" hätten. Der Wahrnehmung nach war eine Krisenkonstellation gegeben, in der es um den Kampf zwischen liberalem Unglauben und Religiosität ging, und der Ausgang zum Guten oder Bösen war offen. Die Krise selbst aber verstand Eichendorff wie alle Spätromantiker nicht als politisch, sozial oder ökonomisch begründete Krise, die man auch politisch, soziologisch oder ökonomisch hätte analysieren können. Sie wurde aufgefasst als eine fundamentale, allgemeine geistige Orientierungskrise und als Symptom tiefer liegender Prozesse. Eichendorffs Kulturkritik ist geschichtstheologisch begründet: Weltgeschichte, also alle Geschichte überhaupt, ist für Eichendorff heilsgeschichtlich gelenkt. Das heißt, sie dient der Erziehung des Menschengeschlechts hin zum Leben in der Allharmonie christlich geoffenbarter Wahrheit. Zwei Grundkräfte regieren die Geschichte: eine zentripetale und eine zentrifugale. Die erste ist die vereinigende Kraft der transzendierenden Liebe, die zweite ist die auseinanderstrebende Kraft des menschlichen Eigeninteresses. Im Fragment "Die Heilige Hedwig" heißt es:

"Jene strebt erhaltend nach Vereinigung mit dem göttlichen Zentrum alles Seins [...]; während die andere verneinend nach den irdischen Abgründen, zur Absonderung, zur Zerstörung und zum Hasse hinabführt. [...] Und so gewahren wir denn über den Profangeschichten der verschiedenen Nationen immerfort den geheimnisvollen leisen Gang einer höheren Weltgeschichte, [...] den ernsten heiligen Hintergrund alles irdischen Lebens."

Zentripetal- und Zentrifugalkraft sind erst am Ende der Weltgeschichte in einem vollendet harmonischen Verhältnis zueinander, so dass Einheit und Vielheit in einem dynamischen, jede Entfaltung ermöglichenden Gleichgewicht stehen. Bis dahin aber überwiege je nach Zeiten und Phasen in der Profangeschichte jeweils die eine oder andere Kraft, so dass die Ausgleichsdynamik für immer neue Umschwünge zwischen religiösen und säkularisierenden Entwicklungen sorgt. Profangeschichte ist für Eichendorff die Nationengeschichte - also die Geschichte Frankreichs, Englands oder Deutschlands -, deren Epochen, Ereignisse und Umbrüche sich als Symptome der heilsgeschichtlichen Entwicklung verstehen lassen. Eichendorff folgt der romantischen Geschichtsphilosophie, wenn er diese Entwicklung als Dreischritt denkt: Auf das gläubige, aber noch kindliche Mittelalter mit seiner idealen Einheit von Glauben und Wissen, Gefühl, Phantasie, Vernunft und Erkenntnis folgt die Phase der Selbstermächtigung der Vernunft, die die Menschheit zwar reifen lässt, in der aber immer wieder die Zentrifugalkräfte Oberhand gewinnen - abgelöst von zentripetalen Zwischenphasen. Dieser Prozess verläuft über Reformation, Aufklärung und Französische Revolution bis hin zur Gegenwart, in der sich die Dauerkrise auf die alles entscheidende geistige Opposition von Glauben oder Unglauben zugespitzt hat. Das heißt, mit der Reformation begann eben die menschliche Selbstüberhebung, die in die Revolution führte. Diese wird in Eichendorffs Werk oft verbildlicht als Entladung, als Gewitterausbruch nach einer schwülen, wetterleuchtenden Zeit, als Explosion einer Mine, die im Boden lag - als Naturereignis in einer längst deviant gewordenen Aufklärung, die nur noch ihre Quittung bekam. Und die Revolution setzte in Frankreich ein politisch-institutionelles, in Deutschland dann ein geistiges Chaos frei.

Das Geistige - also Einstellungen, Ideen, Realitätsmodelle einer Zeit - ist für Eichendorff das Wirklichkeitserzeugende, das Zündende, das, was Lebensformen, Kultur hervorbringt, deshalb gilt es als das Höhere. Das geistige Chaos in Deutschland um 1800, nicht die handfeste Französische Revolution, ist also, konsequent weitergedacht, der Kessel, in dem es gärt und aus dem Neues entstehen kann. Die deutsche, nicht die französische Profan- oder Nationalgeschichte bringt folglich zur Evidenz, worum es weit-, heils- und menschheitsgeschichtlich geht. Ausdrücklich betont sei, dass Oppositionen wie die zwischen Metternich´scher Restauration und Liberalismus für Eichendorff kaum eine Rolle spielen. In der politischen Restauration sahen die Spätromantiker ihr integratives, sinnstiftendes Harmonieideal einer wahren Kultur nicht verwirklicht, ebenso wenig in der real existierenden, politisch agierenden katholischen Kirche, die sie oft genug kritisierten. Die für die Zukunft allein entscheidende Frage ist bei Eichendorff die, ob nun, bildlich gesprochen, die gesamte Gegenwartskultur aus der Zentrifuge fliegt oder ob die Umkehr gelingt. Reversibel ist die Profangeschichte nicht, aber sie kann, durch Einsicht und religiöse Besinnung, im Moment der höchsten Krise noch umgestaltet werden. Anzeichen dafür gab es der Wahrnehmung nach in der Realität der 1830er- und 1840er-Jahre genug. Die Zukunftsprojektionen und Gegenentwürfe einer wahren Kultur zur falschen Kultur der Gegenwart scheiterten. Das liegt natürlich am Kulturmodell selbst: Mit heilsgeschichtlichen und geschichtstheologischen Denkmustern ließ sich das politische, soziale und geistige Leben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht angemessen erfassen. Das betrifft auch die Modelle Schlegels und Görres', die im einzelnen variieren, im ganzen aber ähnlich beschaffen sind wie das von Eichendorff. Festgehalten werden muss jedoch, dass die Kulturkritik, die sie erlauben, eine durchaus hellsichtige Fortschrittskritik ermöglichte. Diese hat sich angesichts grenzenloser liberaler Fortschrittsgläubigkeit als nicht unberechtigt erwiesen. Das Harmonieideal der Nichtentfremdung und der Selbstkultivierung des Individuums, die Kritik an menschenfeindlichen wirtschaftlichen und technischen Entwicklungen, das Beharren auf dem Wert von Bildung gegen einen funktionalisierten Erwerb von Wissen und anderes mehr sind gerade wieder aus heutiger Perspektive dem Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts mit guten Gründen entgegen zu setzen.

Die Spätromantiker haben, wie auch immer man ihre Denkmuster beurteilt, viel hellsichtiger als die Liberalen die Grenzen gesehen, die dem zeitgenössischen Glauben an ein unbegrenztes Fortschreiten der Menschheit auf allen Gebieten des Wissens, der Technik und des sozialen Lebens innewohnten. Es siegten bekanntlich der Fortschrittsoptimismus und die von Eichendorff kritisierte falsche Kultur, ohne dass der befürchtete Untergang eintrat. Nur: Sie siegten nicht allein. Eichendorffs Kulturkritik und sein poetisches Werk gingen, ihrer religiösen Dimension entkleidet, ein ins nationale Identitätsbewusstsein der Deutschen als einer Kulturnation.

Zu erläutern bleibt die anthropologische Dimension, das Menschenbild, das im Kulturmodell vorausgesetzt wird. Die allgemeine Zerfahrenheit oder disharmonische, zentrifugal gesteuerte Gesamtentwicklung beruht, auf das Individuum bezogen, auf einem Ungleichgewicht der psychischen Kräfte. Diese sind Gefühl und Phantasie, erkennende Vernunft und Glauben, Gemüts- und Verstandeskräfte also. Wenn alle im Einklang miteinander wirken, steht der Mensch frisch, gesund und fröhlich in Gottes Wirklichkeit, und Individuum, Gesellschaft, Staat und Kirche wirken frei und harmonisch ineinander. Angemerkt sei, dass der wahre Dichter Eichendorffs Poetik nach im psychischen Gleichgewicht ist; anders könnte er keine wahre Poesie schaffen. Aber in diesem Zusammenhang geht es nicht um das Idealbild des Dichters, sondern um Folgendes: Die psychische Spaltung schreibt Eichendorff, beeinflusst von Friedrich Schlegel, vor allem den Deutschen zu. Sie ist Folge davon, dass die Deutschen sich alles, was die anderen europäischen Nationen je kulturell hervorgebracht haben, mit besonderer Gründlichkeit angeeignet haben. Das hat durch lange Phasen der Geschichte wegen der Nachahmung von Fremdem die eigene Identitätsfindung erschwert, wegen der Tiefe und Gründlichkeit aber, mit der Fremdes verarbeitet wurde, auch immer wieder zu geistig-kulturellen Höchstleistungen geführt. Das erklärt, warum die Kulturkrise der Gegenwart ihren Höhepunkt in Deutschland findet und geradezu apokalyptische Ausmaße annimmt: Die Deutschen haben sich so Vielfältiges angeeignet und es auf die geistige Spitze getrieben, dass der die Weltgeschichte regierende Gegensatz von Freigeisterei und Religiosität nur in Deutschland als der geistige Grundkonflikt offenbar wird, der auch die Geschichten aller anderen Nationen strukturiert. In der Einleitung zur "Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands" heißt es:

"Die deutsche Nation ist die gründlichste, innerlichste, folglich auch beschaulichste unter den europäischen Nationen, mehr ein Volk der Gedanken als der Tat. Wenn aber die Tat nichts ist ohne den zeugenden Gedanken und nur erst durch den Gedanken ihre welthistorische Bedeutung erhält, so dürfen wir wohl sagen, dass diese beschauliche Nation dennoch eigentlich die Weltgeschichte gemacht hat."

Das klingt, wenn man an die englische und französische Geschichte denkt, fast komisch. Aber Eichendorff münzt die politische Schwäche der Deutschen und das lange Fehlen eines Nationalstaats geradezu um, indem er beides zu Ermöglichungsbedingungen kultureller Hegemonie macht. "Die Idee ist ihr Schwert, die Literatur ihr Schlachtfeld", heißt es weiter. Und: "Ideen lassen sich aber nicht in Provinzen einfangen und begrenzen, sie sind ein Gemeingut der Menschheit und greifen über die einzelnen Nationen hinaus. Daher hat das deutsche Volk auch, auf Unkosten seines Patriotismus und Nationalgefühls, einen beständigen Zug nach dem Weltbürgertum verspürt. Sehr begreiflich; wir wollen die ganze Wahrheit und [...] greifen daher, wo irgend ein Lichtblick aufleuchtet, in die Vergangenheit, in die Fremde, und lassen diese ebenso bald wieder fallen, wenn wir uns getäuscht oder noch immer nicht vollkommen befriedigt sehen. [...] Aus jeder dieser Invasionen ins Ausland und in die verschiedensten Zeiten ist uns doch immer irgendeine Beute geblieben, und so haben wir ohne Zweifel in Kunst und Wissenschaft nach und nach einen weitschichtigen Besitz und eine universelle Umschau erfochten, wie keines der mitlebenden Völker. Wir sind die geistigen Erben fast aller gebildeten Nationen."

In Eichendorffs Nationalbewusstsein sind die Deutschen eine Kulturnation, die anderen Kulturnationen überlegen ist; deshalb entscheidet sich die weltgeschichtlich bedeutsame Krise auch nicht in der Französischen Revolution, sondern in den Folgen von deren tiefer und gründlicher Verarbeitung in Deutschland. Festzuhalten bleibt, dass Eichendorff den Begriff der Kulturnation auf Kunst, Literatur und Wissenschaften beschränkt - die Deutschen also aufgrund ihrer besonderen Veranlagung zur Tiefe und Gründlichkeit als Volk der Dichter und Denker begreift. Aus derselben Veranlagung leitet er wiederum einen Hang zur individualisierenden Eigentümlichkeit ab, die zur größten Mannigfaltigkeit führe - was mit der Vielfalt der politisch nicht geeinten deutschen Länder und den Unterschieden zwischen deutschen Stämmen und Landschaften bestens vereinbart werden kann.

So ist die deutsche Kulturnation gekennzeichnet durch Universalität und individuelle Vielheit - geschaffen also dafür, jene lebendige Harmonie vielfach wirkender Kräfte zu gestalten, die wahre Kultur im Unterschied zur falschen ausmacht. Das Gegenmodell dazu ist Frankreich, zentriert auf den Moloch Paris, dem Eichendorff Einerleiheit statt Einheit in der Vielfalt attestiert. Außerdem hätten die Franzosen nicht alle psychischen Kräfte entwickelt und im Gemüt vertieft wie die Deutschen, sondern Witz und selbstüberhebende Vernunft auf Kosten von Gefühl und Phantasie auf die Spitze getrieben - allein der deutsche Nationalcharakter habe, eben weil er so lange bei allen anderen Nationen in die Schule gegangen sei, auch die Voraussetzungen des Kräftegleichgewichts. Dies hat Eichendorff von Friedrich Schlegel übernommen, dem sich auch seine Auffassung des Kosmopolitischen verdankt. Es gibt nämlich einen wahren und einen falschen Kosmopolitismus. Der wahre ist für Eichendorff der, der dem Weltbürgertum im Begriff der deutschen Kulturnation entspricht - diese hat ja alles Wertvolle in sich aufgenommen, was andere Nationen hervorgebracht haben. Das bedeutet: Deutsche Gemütstiefe und Kosmopolitismus fallen in Eichendorffs Nationalbewusstsein zusammen und prägen seine Kritik an der französischen Kultur. Die deutsche wird als national und universal zugleich begriffen. Der falsche Kosmopolitismus hingegen, eine ideologische Folge der Französischen Revolution, gilt im Text "Erlebtes" als "jener seltsame 'Überall und Nirgends', der in aller Welt und also recht eigentlich nirgend zu Hause war. Aus allen möglichen und unmöglichen Tugenden hatte man für das gesamte Menschengeschlecht eine prächtige Bürgerkrone verfertigt, die auf alle Köpfe passen sollte, als sei die Menschheit ein bloßes Abstraktum und nicht vielmehr ein lebendiger Föderativstaat der verschiedensten Völkerindividuen. Alle Geschichte, alles Nationale und Eigentümliche wurde sorgfältigst verwischt [...]."

Diesen falschen Kosmopolitismus wirft Eichendorff auch Schiller und Goethe als Klassikern vor, sofern sie durch ihre Orientierung an der griechischen Antike die Literatur zwar formalästhetisch bereichert, aber nicht im Boden der christlichen Nationalkultur verankert hätten. Es versteht sich, dass es neben dem falsch verstandenen Kosmopolitismus in Eichendorffs Kulturmodell auch einen falsch verstandenen Nationalismus gibt - es ist der von der Rückwende auf die religiösen und geistigen Traditionen entkleidete politische Nationalismus der Burschenschaften und des Vormärz: "Der zähe Rationalismus, die altkluge Verachtung des Mittelalters, die Lehre von der [...] Nützlichkeit [...]; all das vorromantische Ungeziefer [...] kam jetzt wieder zum Vorschein und heckte erstaunlich. [...] Allein [die] Vaterlandsliebe war durch die [...] Trennung vom Mittelalter ihres historischen Bodens und aller nationalen Färbung beraubt, und so entstand [...] die [...] abstrakte Deutschtümelei."

In Eichendorffs Kulturmodell sind die Deutschen aufgrund ihres besonderen, historisch gewachsenen Nationalcharakters ein Volk von Dichtern und Denkern kosmopolitischer Qualität. Kosmopolitismus und Nationalismus als einander ausschließende Weltanschauungen, als politisch-ideologische Oppositionen, hingegen gelten als Symptome der nachrevolutionären geistigen Konfusion und Krisenkonstellation. So verstanden, richtet sich die Auffassung von der integrativen deutschen Kulturnation sowohl gegen Frankreich als auch gegen die Vertreter der falschen Kultur im deutschen Vormärz, gleichgültig, ob sie Kosmopoliten oder Nationalisten sind. Politisch engagierte Tagesliteratur wird als Tendenzliteratur aus dem Kulturbewusstsein ausgeschlossen. Was folgende Generationen mit Eichendorff verbanden, waren dann auch in Entsprechung dazu die vertonten Gedichte und sein "Taugenichts".

Eichendorffs Kulturkritik hat anders gewirkt, als sie intendiert war. Weder haben sich die Deutschen im 19. Jahrhundert rechristianisiert, noch sind Individuum, Gesellschaft und Staat in Anarchie und Chaos zerfallen. Die beobachtete Krise erwies sich nicht als apokalyptisches Endstadium, sondern als Beginn eines geistigen Kulturkampfes, den Bismarck dann politisch austrug. Eine nachromantische Hochliteratur im Geist des Christentums, wie Eichendorff sie projektiert hatte, entstand nicht. Die spätromantischen Kulturmodelle taugten zu einem angemessenen Wirklichkeitsverständnis kaum. Sie sind zu Recht nicht akzeptiert und schnell vergessen worden. Nicht so die kulturkritischen Denkmuster, die auch ohne religiöse Kontexte funktionierten. Was blieb, war das säkularisierte Bewusstsein der Deutschen, eine der westlichen, vor allem französischen Zivilisation überlegene kosmopolitische Kulturnation zu sein, mit Dichtern und Denkern, Poesie und Tiefe des Gemüts, Bildung statt bloßem Wissen, Wanderlust statt Technikbegeisterung, Natur- und Traditionsverbundenheit statt Neigung zum beschleunigten Großstadtleben.

Mentalitätsgeschichtlich betrachtet, hat Eichendorff "die Erinnerung an Natur, Gemeinschaft und Einheit" in der Auseinandersetzung seiner Zeit um fundierende nationale Mythen wohl weder neu "entdeckt" noch nur in seinen Gedichten und Liedern bewahrt. Seine Kulturkritik bestätigt und tradiert nationalkulturelle Zuschreibungen und Denkfiguren, die sich bis in den deutschen Humanismus zurückverfolgen lassen und die, ins kulturelle Gedächtnis aufgenommen, sich im nationalen Identitätsgefühl um und nach 1900 als katastrophal erwiesen. Mit der Setzung einer wahren gegen eine insgesamt abweichende falsche Kultur der Moderne und einer wahren Poesie gegen unpoetische Literatur beruht Eichendorffs Kulturkritik, abgesehen von ihren religiösen Bezügen, auf den gleichen fundierenden Mythen, die spätere Generationen zur nationalkulturellen Indienstnahme seiner Person und seines poetischen Werks disponierten.

Nicht von ungefähr versteht Thomas Mann in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" den "Taugenichts" als das poetische Bild des Deutschen schlechthin oder feiert Wilhelm Kosch Eichendorff selbst als den deutschesten aller deutschen Dichter. Nach dem Ersten Weltkrieg schrieb Kosch, der erste Herausgeber der Historisch-kritischen Eichendorff-Ausgabe: "Das naturwissenschaftlich-materialistisch-mechanistische Zeitalter mußte zunächst vollkommen zusammenbrechen, der merkantile und industrielle Irrwahn [...J mußte [...] als täuschendes Trugbild erkannt werden, bis im vierten Jahr des blutigsten aller Kriege die Nation den Weg zu sich selbst, zur eigenen Seele, zu Eichendorff und damit zur Romantik zurückfand. [...] In diesen Tagen zeigte sich, wer der volkstümlichste deutsche Dichter war, und wie derjenige hieß, an dessen Wesen unsere kranke, schwer geprüfte, fast verschüttete Kultur wiedergenesen wollte. Eichendorff ist nicht nur der populärste, sondern auch der deutscheste der deutschen Dichter. In ihm spiegelt sich der alte Geist des deutschen Volkes am reinsten wider; deutsches Glauben, Hoffen und Lieben, das deutsche Gemüt, der aufrechte deutsche Mannesstolz, die innige deutsche Naturfreude, Kindlichkeit, Sehnsucht. Alles, was die Welt am Deutschen liebt, verkörpert er [...]."

Das sollte man nicht einfach als projektive Fehlrezeption ad acta legen, sondern auf tradierte Denkmuster beziehen. Über Zusammenhänge von Mentalitäts-, Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bliebe ebenso zu diskutieren wie über Eichendorffs Zeit- und Kulturkritik im Verhältnis zu seinem poetischen Werk.

Anmerkung der Redaktion: Die vollständige Fassung dieses für die Publikation in literaturkritik.de gekürzten Beitrages erschien in Aurora 61 (2001). S. 83-96 .