Die chaotische Zeit, als niemand starb

Zum 85. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers José Saramago

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Er versucht in Gleichnissen, eine fliehende Wirklichkeit sichtbar zu machen", hieß es in der Begründung des Stockholmer Nobelpreiskommitees, als dem portugiesischen Schriftsteller José Saramago 1998 die wichtigste Auszeichnung der literarischen Welt verliehen wurde.

Er favorisiert in den meisten Werken tiefsinnige Allegorien, die er mit surrealistischen Elementen versieht. So trennte Saramago, der am 16. November 1922 in einem Dorf des Ribatejo als Sohn eines Landarbeiters geboren wurde, im "Steinernen Floß" (1990) die iberische Halbinsel durch eine Naturkatastrophe vom europäischen Kontinent und ließ sie ins Meer treiben. Saramagos Antwort auf die damals noch in den Anfängen steckenden politischen Bestrebungen nach einem "Groß-Europa", die unterschwellig ein Plädoyer für die Beibehaltung der nationalen Autonomie enthielt und gleichzeitig die Suche nach der ureigenen portugiesischen Identität beschrieb. Später ließ er die Bewohner einer Stadt kollektiv erblinden ("Die Stadt der Blinden", 1997) und ein ganzes Volk die Wahlen boykottieren ("Die Stadt der Sehenden", 2006).

In diesen leicht kafkaesken Kontext fügt sich auch der neue Roman "Eine Zeit ohne Tod", der mit dem Satz "Am darauffolgenden Tag starb niemand, und auch an keinem der nächsten Tage" beginnt.

In einem namenlosen Land verändert sich zur Jahreswende das Leben vollständig. Überall macht sich Hilflosigkeit breit, niemand stirbt, weder die Todkranken noch sonst wer durch irgendwelche Unglücke. Journalisten beobachten die Patienten in den Krankenhäusern, die nicht von der Lebensbühne abtreten, die Bestatter bitten den Staat um zinslose Darlehen, in den Pflegeheimen droht der Kollaps, und die Politiker fürchten um das Rentensystem. Auch die Kirche klagt, denn ohne Tod gibt es auch keine Auferstehung.

Die Leute werden zum Sterben außer Landes gebracht und sehen sich mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit konfrontiert. Ist das legal, oder etwa verbotene Sterbehilfe? José Saramago vermischt das philosophische Thema der Unsterblichkeit mit herrlich humorvollen bürokratischen Verlautbarungen. Der brillante Essayist und ironische Humorist marschieren in diesem Roman in einem harmonischen Gleichschritt. Als Leser nehmen wir an einem Telefonat zwischen einem Kardinal und dem Premierminister teil: "Was macht der Staat, wenn nie wieder jemand stirbt. Der Staat wird versuchen, zu überleben, auch wenn ich ernsthaft daran zweifle [...], aber die Kirche, die Kirche, Herr Premierminister, hat sich so sehr an die ewigen Antworten gewöhnt, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, wie sie je andere geben könnte [...]".

Nach sieben chaotischen Monaten meldet sich eine Frau "tod" (im Portugiesischen ist der Tod weiblich, heißt "a morte") in einem handschriftlichen Brief auf violettem Büttenpapier beim Intendanten des Staatsfernsehens und erklärt, dass ab morgen wieder gestorben werde. Die Ankündigung der "Rückkehr des Todes" sorgt allenthalben für Erleichterung. In Zukunft sollen alle Menschen eine Woche vor ihrem Ableben schriftlich benachrichtigt werden. Eine bizarre Wendung, die der Frau "tod" menschlich-sympathische Züge und dem Roman ein äußerst versöhnliches Ende verleiht.

José Saramago, der sich selbst in der Tradition seines großen Landsmannes Fernando Pessoa sieht, dem er im Roman "Das Todesjahr des Ricardo Reis" ein literarisches Denkmal setzte, erweist sich wieder einmal als kühner Experimentierkünstler. Wüsste man nicht um das fortgeschrittene Alter des seit vielen Jahren auf Lanzarote lebenden Autors, würde man dem großen Vermesser der konjunktivischen Gedanken jugendlichen Furor attestieren.


Titelbild

José Saramago: Eine Zeit ohne Tod.
Übersetzt aus dem Portugisischen von Marianne Gareis.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007.
253 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783498063894

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