Ein Skandal!

Zu Christopher Eckers Roman "Madonna”

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christopher Ecker fingiert in seinem Roman "Madonna" die Memoiren des Literaturkritikers Dieter Folz. Gleich zu Beginn des Buches wird mit dem versuchten Bau einer Bombe, die im großelterlichen Schrebergarten sehr zum Unmut der noch jungen Hauptfigur nicht explodieren will, ein Fall negativer Initiation beschrieben. Die eigentliche Handlung setzt rund dreißig Jahre später ein, als Folz versehentlich ein junges Mädchen überfährt und den Leichnam kurzentschlossen in den Kofferraum seines "dunkelblauen Mercedes" legt. Zusammen mit seinem Freund Wadowski arrangiert er das spurlose Verschwinden der Leiche. Den Ansatz hierfür liefert Thomas de Quinceys Schrift "Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet". Zwar gelingt die Auslöschung der Indizien, doch verliebt sich Folz während der notwendigen Waschungen in das tote Kind.

Der zweite Teil des Romans schildert die Folgen dieser zweiten, geglückten Initiation. Der ehemals drogensüchtige Schriftsteller Jenninger, dem die Leiche unter das Bett geschmuggelt wurde, erwacht zu neuer Schaffenskraft. Dieter Folz selbst versucht eine Verbindung zu Opfer Katharina herzustellen, indem er, unter dem Vorwand der Recherche, ihre verzweifelte Mutter interviewt. Deren Mann, ein Allgemeinmediziner mit Australien-Fetisch, wird von Wadowski und Folz im weiteren Verlauf der Geschichte aus dem Haus gemobbt. Folz selbst umgarnt, heiratet und schwängert darauf die schwer traumatisierte Mutter Katharinas. Ihre gemeinsame Tochter wird ebenfalls diesen Namen tragen; an sie ist der Text addressiert. Jenninger bandelt indessen mit Folz' ehemaliger Partnerin Sandra an; beide Paare schließen Freundschaft. Das Buch endet mit einer sehr ausführlichen Lektüre der Werke Jenningers, in welchen Folz verschlüsselte Hinweise auf das beiden zuteil gewordene "Glück" zu entdecken glaubt.

Christopher Eckers gelungener und in jeder Hinsicht um Plausibilität bemühter Text ist von drei bestimmenden Diskursen durchzogen, die die stellenweise geschmacklose Handlung kommentieren. Ihnen gemeinsam ist die Problematisierung von Wirklichkeit als einer schrittweisen Auflösung von Sinn. Zunächst fällt die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk der titelgebenden Popkünstlerin Madonna ins Auge. Wie Jan-Oliver Decker in seiner Dissertation von 2005 feststellt, dienen die wechselnden Inszenierungen der Kunstfigur Madonna paradoxerweise der Erzeugung von Kontinuität. Gerade durch das Nebeneinander der Stile und Masken installiert Madonna sich als autonome Beherrscherin der Codes, gelingt es ihr, im Wechsel der Merkmale einen beständigen Kern zu wahren. Auch der hemmungslose Narziss Dieter Folz erliegt diesem Glauben. Die von seiner Freundin Sandra konstatierte Wandlung der Persönlichkeit hat eben nicht stattgefunden, oder wenn, dann nur in Gestalt einer gesteigerten Perversion. Der Unterschied zwischen "wahr" und "wirklich" ist aufgehoben. Keine Spuren verweisen mehr auf die Abwesenheit des Ereignisses.

Als zweiten großen Komplex führt Ecker die Literaturgeschichte ein. Dass vor allem solche Schriftsteller ins Blickfeld kommen, die unsichere Realitäten in ihren Texten diskutieren, flankiert den obigen Befund. Neben der expliziten Nennung von Autoren wie Thomas de Quincey, Hugo von Hofmannsthal, August von Platen und Henry James erscheinen implizit Bret Easton Ellis und Alfred Döblin als Impulsgeber. Vor allem Döblins Erzählung "Die Ermordung einer Butterblume" ist im Sprachduktus mancher Passagen erkennbar. Mit diesem Kunstgriff, der Einführung von literarhistorischem Spezialwissen, eröffnet Ecker einen Subtext, der die Wahrnehmung der dritten großen Aussageordnung beeinflusst.

Diese besteht folgerichtig im Kritikerdiskurs, welchen Folz und Wadowski als zuletzt leitende Redakteure einer lokalen Tageszeitung führen. Dem inzwischen hoffnungslos überforderten Leser liefert der Autor wiederholt Auszüge aus den fiktiven und gekonnt schwülstig gestalteten Romanen Christoph Jenningers, die von dem "eingeweihten" Folz hymnisch besprochen werden. Der Akt des Lesens offenbart sich nun als Projektion des Lesenden, als ein subjektives Hineintragen von Information in den Text. Ein Verstehen ist schlicht unmöglich geworden, wie es die Paraphrase eines Motivs von Hofmannsthal illustriert: "Das eigene Ich ist das Schiff, mit dem man die große Fahrt macht, ohne jemals Landurlaub zu bekommen." Die Figuren befinden sich in voneinander abgekoppelten Paralleluniversen, denen einzig die Fixierung auf das tote Kind gemeinsam ist. In ihm erblickt Folz sein "Glück", Jenninger seine Muse. Durch den Tod ihrer Tochter ist Carina in den Irrsinn getrieben, Wadowski zur rechten Hand von Dieter Folz geworden. Allein Sandra ahnt von alledem nichts; sie aber trägt ein Kind aus, das Folz mit ihr in einer letzten gemeinsamen Nacht unwissentlich zeugte.

Auf Grundlage der genannten Konstellation entwickelt Christopher Ecker einen Metadiskurs, der die Rezeption auch des vorliegenden Buches zum Inhalt hat. So schreibt Folz über einen Erfolg Jenningers: "Spielende Knaben war Jenningers dreister Versuch, einen Skandalbestseller zu schreiben, um das breite Publikum auf seine Seite zu ziehen." Es ist, als antizipiere Ecker die drohende Kritik seines eigenen Romans. Denn nicht nur Jenninger, auch Ecker ließe sich vorwerfen, dass der Ich-Erzähler "unentwegt ungefilterte, vom verantwortungslosen Autor weder distanziert kommentierte, noch ironisch gebrochene oder gar kritisch hinterfragte" Begebenheiten referiere. "Ja, kotzen möchte man beim Lesen dieses berechnenden, zynischen und widerwärtigen Buchs!" lamentiert Folz. Dass diese Ebene der bloßen Provokation ihrerseits unterminiert wird, gehört zu den großen Stärken des Romans.

Am Ende dieser "Zumutung" (O-Ton Ecker) nämlich wird der Leser zurückgeworfen auf den Anfang der Lektüre. Ähnlich den Büchern Vladimir Nabokovs - eine weitere intertextuelle Anspielung des Buches - erweist sich der erste Impuls des Lesers als richtig: Das alles ist abstoßend, hässlich und gemein. Das alles ist die Weltsicht eines Psychopathen und durch nichts zu rechtfertigen. Um aber ein Buch lesen zu können, unterwerfen wir uns freiwillig der Logik der Prosa. Um des bloßen Verstehen-Wollens akzeptieren wir, dass die Entsorgung eines toten Kindes ein primär ästhetisches Problem darstellt. Wir akzeptieren Andeutungen, dass Jenninger die Leiche gegessen haben könnte. Und wir übergehen den Zynismus des empfundenen Glücks.

Ecker formuliert diese Poetik an einer Stelle des Textes: "Ihm [dem Schriftsteller] geht es nicht ums Erfinden, sondern allein ums Manipulieren. Er zwingt den Leser dieses Satzes dazu, sich an [zum Beispiel] seine eigene Schule zu erinnern, um so einem Wort Leben einzuhauchen, das ansonsten nichts wäre als eine Ansammlung von Buchstaben." Indem "Madonna" diesen Prozess offenlegt, erweist er sich als ein (post-)moderner Roman im denkbar besten Sinne. Ein Auszug aus Jenningers "Spielende Knaben", dem fiktiven Skandalroman über einen KZ-Arzt, im Anhang des Buches expliziert diesen diskursethischen Ansatz auch thematisch: Die unüberschaubare Vielzahl der Weltdeutungen und Sonderdiskurse verhindert den Weg in den Faschismus, insofern dieser das Modell einer absoluten Deutungshoheit darstellt. Der Begriff von Schuld schließt zwingend die Akzeptanz anderer Sichtweisen ein. Wir alle hinterlassen unsere Spuren im Text der Welt.

Keine Frage: Christopher Ecker ist einer von den Guten. Sein Roman ist leider zu klug geschrieben, um diejenigen Missverständnisse hervorzurufen, die einen solchen Skandal auslösten, der das breite Publikum in den Genuss dieser "Zumutung" brächte. Zu wünschen wäre es.


Titelbild

Christopher Ecker: Madonna. Roman.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2007.
461 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783898124638

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