Formsache, nicht der Form halber

Felix Philipp Ingolds Gedichtband "Tagesform"

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon seit einiger Zeit verfolgt Felix Philipp Ingold produktiv die Spannungen zwischen Kalendarium und Poesie, sind doch beide auf Daten ausgerichtet, wenngleich aus denkbar verschiedener Richtung. Wobei es sich versteht, dass das Gedicht qua Form seiner Daten gerade eingedenk ist, während die scheinbare Formlosigkeit der Chronik es verschwinden lässt - also betreibt Ingold Gelegenheitsdichtung, doch eben nicht im üblichen Sinne: Er gibt Gelegenheit und Dichtung zurück, was das Ihre ist.

Das Leichte der Form wird dabei vom Gewicht des Datums durchdrungen, das indes selbst verhandelbar, also papieren zu werden vermag, zwei dialektisch verschränkte Modi des Sehens, die unpathetisch von Verantwortung zu sprechen gestatten, ja, Verantwortung selbst zu sprechen gestatten. Das galt schon für den 2000 erschienenen, höchst beachtenswerten Gedichtband Felix Philipp Ingolds, der zurecht "auf den Tag genaue Gedichte" verheißt, gilt ebenso von "Jeder Zeit" (2002) - und zeichnet nun auch "Tagesform", einen Band mit "Gedichte[n] auf Zeit" aus.

Die Tagesform beginnt mit "Tagesnorm", und schon da ist vorgeführt, wie Worte durch das, was in ihnen mitschwingt, zueinander in Spannung geraten können. Etwa Erde und Boden, ist es doch heute so, dass "die Erde rascher an Boden verliert." In dieser Weise gelingen Ingold Durchstöße durch die Sprache, Zuspitzungen ihrer selbst, die gar nicht vorgesehen zu sein scheinen, es "(b)leibt als Erlösung ein einzelner Fehler", wie der Dichter so unorthodox wie präzise vermerkt. Ein Engel sei "zu schön und notwendig": zu notwendig, als dass er sein könnte?

So hebt jedes der Gedichte mit einer raffinierten Doppeldeutigkeit an, die ausgesponnen und dann in der Spannung objektiviert wird - oder aber gelöst, denn auch als Anti-Hegelianer ist Ingold nicht dogmatisch. Er gibt den Zweifel nicht an dessen Absolutsetzung preis, "(k)ein Zweifel bis den Punkt ein Komma / rührt", so eine der zahllosen Formeln, die sich doch gerade ins Formelhafte nicht einkapseln, so dicht sie auch sein mögen.

Alles Missverständigung: "Du liebst mich! brüllt's herunter. / Ich dich auch! brüllt's hinauf." Doch dieser inhaltliche wird kein formaler Gleichklang, "wieder passt der Hilferuf zu keinem Namen", womit das Gebet, das ge- und darin schon erhört sei, sich scheiternd vernimmt. Doch dies so verbindlich, dass eben der Zweifel und die Spracharbeit fortleben. Sie tun es bis in die typografische Anordnung, sie "widerlegt / das Gravitationsgesetz", um Meditation und Mediation des Gewichtigen zu sein. Dazu eröffnet sie noch zwischen den Lettern und dann auch zwischen A und A Raum. Diesen Raum der Sprache, der das Mögliche nicht außer Acht lässt und des Faktischen dabei nicht verlustig geht, kann man als Verpflichtung und Resultat dieses Gedichtbandes gleichermaßen sehen. Das Resultat ist gekonnt und geschuldet zugleich, große Wortkunst, die anzuempfehlen ist.


Titelbild

Felix Philipp Ingold: Tagesform. Gedichte auf Zeit.
Literaturverlag Droschl, Graz 2007.
96 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207221

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