Grenzen der Zivilität

Étienne Balibar über das Volk, den Staat und ihre Ideologien

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist "Der Schauplatz des Anderen"? Ein modischer, vielleicht sogar ein der Mode bereits nachhinkender Titel, den Étienne Balibars Sammlung von Aufsätzen aus den Jahren 1983 bis 1996, im französischen Original unter der doppeldeutigen Überschrift "La crainte des masses" erschienen, nicht verdient hat. Statt um ein unverbindliches Spiel mit aktuellen Begrifflichkeiten handelt es sich nämlich um unzeitgemäß strenge und anstrengende Theoriearbeit, und das heißt beim Strukturalisten Balibar auch: Arbeit an Begriffen und an ihren Ambivalenzen, die als Ambivalenzen der Realität, auf die sie hinweisen, verstanden werden.

Auch der französische Titel deckt nicht alle der sogar in der gekürzten deutschen Ausgabe recht heterogenen Beiträge ab. Immerhin wird deutlich, dass die Massenfurcht weniger eine kollektive Panik meint als die Furcht, die politische Denker angesichts einer unberechenbaren Masse überkommt. Der Komplementärbegriff ist der Staat, der gegenüber dem ungewissen Potential des Volks einerseits eine repressive Funktion hat, andererseits eine vernunftgeleitete Entwicklung ermöglichen soll. Beide Aspekte arbeitet Balibar heraus, insbesondere in den Studien zur Volkskonstitution bei Jean-Jacques Rousseau und Immanuel Kant und zur Staatsorganisation bei Baruch Spinoza. Balibar verfällt weder einem konservativen Lob der Ordnung noch einem romantischen Anarchismus, sondern spürt bedenkenswerten Ansätzen nach, wie man Verbesserungen organisieren kann. Die Ansätze scheiterten historisch, doch auch - wie Balibar herausarbeitet - immanent: Ihre Widersprüche waren mit den zeitgenössischen Mitteln nicht lösbar und sind es heute immer noch nicht.

Wenn Balibar einen Widerspruch entdeckt, ist das ein Lob. Zumindest auf der Höhenlinie, die er ins Auge fasst. Wer von ihm vorgestellt wird, drang zu wichtigeren Problemen vor als diejenigen, die in der Sammlung fehlen. Das gilt auch für denjenigen Teil des Buchs, der vielleicht am wenigsten aktuell erscheint, der Auseinandersetzung mit dem Ideologiebegriff, wie er sich bei Karl Marx und Friedrich Engels entwickelte. In einer Reihe eng zusammenhängender Studien weist Balibar eine zunehmende Differenzierung des Begriffs nach, von einer schroffen Gegenüberstellung von Philosophie und Praxis beim frühen Marx bis hin zu einer differenzierten Subjektkonstitution beim späten Engels. Balibar steht hier im Gegensatz zur heute vorherrschenden Rezeption, die dazu tendiert, in Marx den Denker. in Engels den pragmatischen Verflacher zu sehen und in Marx' Frühphilosophie einen offenen Humanismus zu erkennen, der später einem reduktionistischem Ökonomismus zum Opfer falle.

Es ist ein strukturalistischer Subjektbegriff, der Balibar zu einer solchen Positionierung kommen lässt. Statt Freiheit und Unmittelbares, Nichtentfremdetes zu feiern, wird hier erkannt, dass das Subjekt nur als je zerspaltenes existiert, das aber gerade dadurch geschichtlich ist und geschichtlich wirken kann.

Neben Masse und Volk ist diese Subjektkonstitution in der Gesellschaft und durch die Gesellschaft ein Leitthema mehrerer Beiträge. Ein weiteres ist das der Politik, die freilich ausgerechnet der Strukturalist Balibar etwas idealistisch fasst. Im einleitenden Abschnitt, der aus drei Aufsätzen besteht, versucht er, das Politische mit den Begriffen der Emanzipation, der Veränderung und der Zivilität zu fassen. Ihm ist, jedenfalls für die westliche Moderne, zuzustimmen, wenn er Politik aus der Selbstbestimmung des Volkes hervorgehen lässt - an späterer Stelle zeigt er, dass sich jede Ordnung auf ein revolutionäres Gründungsereignis bezieht, das Freiheit gebracht habe. Wenn er aber in diesem Zusammenhang Volk als "Gesamtheit der 'freien und mit gleichen Rechten geborenen' Bürger" begreift, so lassen sich leicht Gegenbeispiele finden. Balibar propagiert als Ziel emanzipatorischer Politik die "Gleichfreiheit" der Menschen. Damit umgeht er zwar den Streit, ob Gleichheit oder Freiheit vorrangig seien, bezeichnet damit aber nichts als das Grundprinzip moderner Nationen. In ihnen und durch sie muss allerdings dreierlei geklärt werden: Wodurch ist Gleichheit definiert, wodurch Freiheit, und wer ist "Bürger" (oder Staatsangehöriger, oder Volksgenosse).

Alle drei Fragen zielen auf Antworten, die Hierarchisierungen bedeuten. Die unterschiedlichen Positionen zu Freiheit und Gleichheit bedeuten unterschiedliche Zielvorstellungen, wer oben ist und wer folglich unten. Die unterschiedliche Abgrenzungen des Volks zielen auf die Unterscheidung von Innen und Außen. Alle heute möglichen Antworten haben per se nichts mit Zivilität zu tun, sondern sind Positionen in einer Auseinandersetzung, die je nach Opportunität verschiedene Grade von Gewalt kennt. Balibar arbeitet in seinem Beitrag zum Problem der Zivilität sehr genau heraus, welche Probleme eine Identitätspolitik von Minderheiten unter diesen Bedingungen aufwirft und auch, welche Probleme sich ergeben, wenn eine handlungsfähige Identität fehlt. Doch zeigt gerade letzteres, wie unter Bedingungen unversöhnlicher Interessengegensätze jeder Begriff einer Gleichfreiheit nicht etwa zur Kooperation aller führt, die in einem Land oder gar auf der Erde leben, sondern notwendig zur Entscheidung, wer zum Volk gehört, und das heißt auch: wer nicht.

Das hängt mit dem Problem der Grenze zusammen, dem Balibar einen der spannendsten Aufsätze des Bands widmet. Was er 1995 über "Die Grenzen Europas" schrieb, kann man heute universalisieren. Der Begriff der Grenze selbst ist gegenwärtig einer Wandlung unterworfen: Die Linien, die auf der Landkarte für die übersichtliche Scheidung neuzeitlicher Staaten standen, verlieren ihre Bedeutung zugunsten einer Tiefenstaffelung. Äußerliches Merkmal ist dabei etwa, dass die Abwehr unerwünschter Einwanderer schon weit vor den Grenzen der EU und der Schengen-Staaten beginnt, dass andererseits in deren Inneren Transiträume entstehen, in denen der Aufenthalt auf Dauer gestellt wird und die sich staatsrechtlich einer Grauzone nähern.

Politikwissenschaftlich und historisch ließe sich dies als die Wiederkehr von Imperien verstehen, deren Einflusssphären nicht hinter einer Mauer endeten, sondern sich allmählich ausdünnten. Balibar indessen interessiert sich viel mehr dafür, was diese neuen Grenzen für die Subjekte bedeuten, die ihnen unterworfen sind, oder genauer: wie sich in der neuen Welt neue Subjektivitäten konstituieren, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Grenzen durch sie hindurch verlaufen.

Es ist dies einer der instruktivsten Aufsätze des Bands, weil Balibar sich hier auf einen Wandel bezieht, der außerhalb der Begriffswelt politischer Philosophie stattfindet. So überzeugend sonst die weitgehend immanenten Analysen auch sind, so vorsichtig sich Balibar bei jedem Schritt vergewissert, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen: Zuweilen bleibt ein Unbehagen, dass ein wichtiger Faktor kaum je gewichtet ist. In den Beiträgen zu den Ideologiebegriffen Marx' und Engels' weist Balibar zwar mehrfach auf die zeitgenössischen Kontroversen hin. Doch ist nirgends konsequent herausgearbeitet, gegen wen und gegen welche anderen Theorien "Ideologie" immer wieder neu gefasst wurde. Politische Begriffe aber sind wesentlich polemisch; mindestens ebenso wie durch ihre eigenen Widersprüche sind sie durch den Widerspruch gegen die Position eines Feindes geprägt.

Ist auch diese Dimension bei Balibar weitgehend ausgeblendet, so liest man dennoch die Aufsätze dieses wichtigen Bandes mit Gewinn.


Titelbild

Etienne Balibar: Der Schauplatz des Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität.
Hamburger Edition, Hamburg 2006.
324 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783936096712

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