Romantik-Rückblick

Thomas Meißner überzeugt mit seiner Studie zu Ludwig Tiecks "Phantasus"

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne den Erzähler, Kritiker, Dramaturgen, Übersetzer und Philologen Ludwig Tieck hätte es die Romantik in Deutschland nicht gegeben, und doch sind seine Vorgänger und seine Nachahmer bis heute bekannter als er. Dies gilt auch für den 1812-16 erschienenen "Phantasus", eine große Sammlung eigener Dramen- und Erzähltexte. Sowohl die bekannteren Vorbilder - Giovanni Boccaccios "Dekamerone" oder Johann Wolfgang Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" - sind dem Novellenleser heute noch ein Begriff, ebenso wie "Die Serapionsbrüder", das Pendant des ungeliebten Nachfolgers E. T. A. Hoffmann.

Bei Tiecks Werk handelt es sich um ein Buch, das in der einzigen modernen, von Manfred Frank vor zwei Jahrzehnten herausgegebenen Ausgabe über tausend Druckseiten umfasst, dessen Binnennovellen und -dramen von einem Erzählrahmen zusammengehalten werden, in dem einige Freunde auf dem Gut eines brandenburgischen Landadeligen zusammentreffen und sich dort gegenseitig besagte Novellen und Dramen vorlesen und das Vorgelesene dann kommentieren. Unter den Texten sind frühe Kleinodien wie "Der blonde Eckbert" oder "Der Runenberg", aber auch seine Komödien "Der gestiefelte Kater" und "Die verkehrte Welt". Die titelgebende Leitfigur von Tiecks Textsammlung ist derjenige der Söhne des Somnus (also des Gottes des Schlafes), der in der antiken Mythologie für Traumgebilde der unbelebten Welt zuständig ist und vielleicht mit der Einbildungskraft identifiziert werden kann. Tiecks einleitendes Gedicht macht den Knaben Phantasus zum Führer durch das Reich der Poesie.

Bei der Dichte der Romantikforschung verwundert es, dass es bislang keine einzige Studie zu dieser literarischen Summe von Tiecks Dichter-Jugend gab. Nun ist sie allerdings erschienen. Thomas Meißner bietet auf über 400 Seiten eine Gesamtdeutung, die den "Phantasus" zum bisher vernachlässigten Zentrum oder wenigstens zur Achse von Tiecks Gesamtwerk erklärt. Der Text bilanziert (und verklärt), so Meißner, die produktivste Phase Tiecks, die 1790er-Jahre, und er nimmt Züge der späteren Novellenproduktion in den beiden Dresdner Lebensjahrzehnten ab 1819 vorweg. Das Eigentümliche der 'Spätromantik', das mit dem "Phantasus" beginnt, nimmt in Meißners Buch zwar deutlichere Konturen an als andernorts, wird aber immer noch nicht zureichend charakterisiert: der spätere Tieck sei 'realistischer', habe Vorbehalte gegen das Extreme - das ließe sich so schon bei Friedrich Sengle nachlesen -, er liebe das Spielerische und das Selbstreflexive.

Meißner deutet den "Phantasus" als Text eines Gedenkens an die Zeit des Jenaer Kreises, doch könnte man leicht behaupten, dass die Romantiker immer schon, selbstreflexiv wie sie nun mal waren, den Rückblick auf das eigene Goldene Zeitalter pflegten, sich zurücksehnten in die bereits verschollene Epoche der einstigen Symphilosophie. Tieck selbst trug zu einer retrospektiven Verklärung seiner frühvollendeten Weggefährten sogar wesentlich bei: Wilhelm Heinrich Wackenroder setzte er nach dessen Tod 1798 in den "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" ein Denkmal. Kaum war Novalis 1801 gestorben, schon gingen Tieck und Friedrich Schlegel als Herausgeber des Nachlasses daran, ihn zum romantischen Jüngling schlechthin zu stilisieren.

Tieck trat immer wieder auf, als sei er ein ausgewogen urteilender Literaturhistoriker. Doch 'neutral' war er gewiss nicht: Auch der "Phantasus" gehört zu einer romantischen Gedächtnispolitik, der Bildung einer Romantik-Legende, die die einstigen literarischen Fehden, den Kampf um die Anerkennung auf dem literarischen Markt und die oft kleinlichen Querelen untereinander zugunsten von Freundschaft und Geselligkeit verschweigt. Als potentiell kanonische Sammlung romantischer Gründungstexte weist er auf eine Zukunft voraus, in der der erst neununddreißigjährige Tieck sich noch Chancen ausrechnen durfte. Es galt also, selbst erfundene Traditionen aufzurufen, die Romantik mehr als nur zu zitieren und auch angesichts historischen Wandels deren Gültigkeit zu sichern.

Erstmals profiliert Meißners Buch Tiecks eher dunkel gebliebenen Jahre auf dem Gut seines Freundes Wilhelm von Burgsdorff in Ziebingen bei Frankfurt an der Oder. Man weiß, dass er eine Verwandte seines Gastgebers, Gräfin Henriette von Finckenstein, dort kennen und lieben lernte, dass der längst verheiratete Tieck von da an nichts weniger als eine lebenslange Ehe zu dritt praktizierte. Doch herrschte gleichzeitig das Vorurteil, die mit Unterbrechungen insgesamt eineinhalb in Ziebingen verbrachten Jahrzehnte seien von Depression, Gichtanfällen und Unproduktivität gekennzeichnet. Damit räumt Meißner nun auf, indem er aus zahlreichen Materialien rekonstruiert, wie Tieck namentlich in der zweiten Hälfte dieses Aufenthaltes zahlreiche Projekte vorantreibt, darunter Editorisches und Kompilatorisches wie eben vor allem den "Phantasus". Leicht ist es ihm nicht geworden, wie Tieck in einem Brief 1816 vermeldet: "Ich habe nur [...] zu eilig und zu angestrengt arbeiten müssen, und es trat der Contrast ein, der mich schon öfter im Leben verfolgt hat, in wahrer Angst und Melankolie dazusitzen, und etwas Lustiges erdichten zu müssen." Ganz unzeitgemäß war um 1813 die gesellige Heiterkeit, die Tieck den Protagonisten seiner Rahmenhandlung zuschrieb. Es galt, den Wirrnissen der Zeit eine, wie Meißner schreibt, "geschönte Erinnerung an romantische Geselligkeitsformen" entgegenzusetzen.

Der Rückblick Tiecks auf seine verspielten Märchendramen der frühen Jahre ist ein Abgesang auf eine Literatur, der die Französische Revolution eine der drei größten Tendenzen des Zeitalters war, wie Friedrich Schlegel es einst im "Athenäum" formuliert hatte. Ein Romantiker der zweiten Generation wie Friedrich de la Motte Fouqué schreibt um 1811 vaterländische Schauspiele. Wie Achim von Arnim und Heinrich von Kleist gehen ihm in einer Zeit zunehmender Frankreichfeindlichkeit das 'Preußische' und das 'Deutsche' über das Europäertum der Frühromantiker. Tiecks "Phantasus" einerseits, Fouqués Dramen wie "Die Heimkehr des großen Kurfürsten" andererseits (mit erstaunlichen Parallelen zu Kleists kurz vorher veröffentlichtem "Prinz Friedrich von Homburg") markieren einen Scheideweg: Die Rezeption der Romantik bis hin zur Gegenwart - man denke selbst an Rüdiger Safranskis aktuelles Buch (siehe literaturkritik.de 10/2007) - nimmt vereinseitigend vorwiegend das Nationale, zumindest das provinziell 'Deutsche' wahr, weniger die europäischen Verflechtungen, für die Autoren wie Tieck oder August Wilhelm Schlegel lebenslang stehen, und das heißt bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Romantik in Deutschland war also vielleicht eine Affäre, keineswegs aber eine ausschließlich 'deutsche Affäre'.

Thomas Meißner hat ein überaus informatives und gelehrtes Buch verfasst. Es ist auf eine etwas konservative Weise beinahe theorie- und jargonfrei, unprätentiös und immer zuverlässig, der kompetent und umfassend eingearbeiteten Forschung steht er mitunter ganz zurecht kritisch gegenüber. Der Jean-Paul-Editor Meißner hat mit seiner Dissertation nichts weniger als den noch fehlenden umfassenden philologischen Kommentar zu Tiecks "Phantasus" geliefert, eine Werkmonografie, auf die man künftig stets zurückgreifen wird müssen, wenn man sich mit Tiecks Buch befassen möchte. Manchmal würde man sich wünschen, er hätte das Autobiografische nicht ganz so mühelos aus dem Erzählten herausgeschält, doch eröffnet er insgesamt ungemein reiche Perspektiven auf Tiecks Buch, das spätestens jetzt alle an der Romantik Interessierten endlich einmal zur Gänze lesen sollten.


Titelbild

Friedrich de la Motte Fouqué: Dramatische Dichtungen für Deutsche. Ausgewählte Dramen und Epen. Band 3.2.
Mit einem Vorwort herausgegeben von Christoph F. Lorenz.
Georg Olms Verlag, Hildesheim, Zürich, New York 2006.
362 Seiten, 99,80 EUR.
ISBN-10: 3487131188

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Titelbild

Thomas Meißner: Erinnerte Romantik. Ludwig Tiecks "Phantasus".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2006.
477 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-10: 3826033809

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