"Ein hoher Adel von Ideen"

Zur Neucodierung von 'Adeligkeit' in der Romantik bei Adam Müller und Achim von Arnim

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Adel heute?

Der Büchner-Preisträger Martin Mosebach legt in einem "Geistergespräch" Marcel Prousts Baron de Charlus eine seltsam unzeitgemäße Apologie in den Mund: "Der Adel ist am Ende - richtig - und er war es schon zu meiner Zeit. Europäischer Adel gehört zu einer von der Landwirtschaft bestimmten Ökonomie und verwaltete unveräußerliches Land, um es ungeschmälert seinen Nachkommen zu übergeben. Ein Kaufmann oder ein Bankier mit Adelstitel ist kein Aristokrat mehr."

Nur auf den ersten Blick interessiert heute niemanden mehr, was man unter 'Adel' zu verstehen habe. Die in den vergangenen Jahrzehnten verstärkt geführten Debatten um Eliten haben das Bild verändert: Der Soziologe Pierre Bourdieu hat nicht nur das aristokratische Verhalten von Künstlern im modernen künstlerischen Feld herausgearbeitet, eines seiner Hauptwerke analysiert den französischen "Staatsadel" als eine kleine, sich immer wieder aus sich selbst rekrutierende soziale Gruppe, die einen Großteil der Führungspositionen erfolgreich für sich reklamiert. Zu denken ist an die jüngste Wiederentdeckung von Bürgerlichkeit - wobei aber manche Leitwerte als Umformungen älterer, adeliger Konzepte gelten dürfen. Autoren wie Alexander von Schönburg, Spross aus gräflichem Haus und ehemals Mitstreiter beim Dandy-Projekt "Tristesse royale", konnte mit seiner "Kunst des stilvollen Verarmens" 2005 einen Bestseller landen - noblesse oblige: dies gilt eben auch für den sozialen Abstieg. Schließlich ist noch an das reale Interesse breiter Bevölkerungsschichten an der Prominenz des europäischen Hochadels zu erinnern - was einen renommierten Verlag wie DuMont dazu brachte, einen bunt bebilderten und doch seriös informierenden "Schnellkurs Adel" zu publizieren.

Natürlich ist 'Adel' schon seit Jahrhunderten nicht mehr gleich 'Geburtsadel', hat sich die Semantik des Adeligen immer stärker von einer bestimmten sozialen Schicht abgelöst. Daniel Kehlmann fasst das Projekt der Weimarer Klassik so zusammen: "Ein aristokratisches Lebensprogramm der Kunst, das in seiner sehr deutschen Mischung aus Freiheit und Selbstdisziplin, aus Adelsstolz und Liberalität nicht ohne Komik ist, das man aber unmöglich ohne Ergriffenheit und Respekt betrachten kann."

Und namentlich die Moderne (und die Gegenmoderne) um 1900 produziert neue Aristokratismen, die sich nur noch gelegentlich auf das alte genealogische Prinzip stützen. Gottfried Benns nach anfänglicher nationalsozialistischer Begeisterung vollzogener Rückzug war für ihn die "aristokratische Form der Emigrierung". Patriziersöhne wie Heinrich oder Thomas Mann legten zeitlebens aristokratische Verhaltensmuster und Ideale an den Tag.

Adel und 'Adeligkeit' um 1800

"Es ist schlimm genug, [...] daß man jetzt nichts mehr für sein ganzes Leben lernen kann. Unsre Vorfahren hielten sich an den Unterricht, den sie in ihrer Jugend empfangen; wir aber müssen jetzt alle fünf Jahre umlernen, wenn wir nicht ganz aus der Mode kommen wollen." Der Roman "Die Wahlverwandtschaften", in dem ein fiktiver Baron namens Eduard sich so äußert, erschien 1809, in einer nachrevolutionären Reformära also, in der sich die traditionalen Eliten, allen voran wohl der Adel, nicht minder gefährdet sehen mussten als durch die Revolution selbst.

Die Französische Revolution markiert nach allgemeiner Überzeugung einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des europäischen Adels. Auch für den Adel in Deutschland und namentlich für den preußischen verfestigte sich spätestens seit Beginn der Stein-Hardenberg'schen Reformen im Jahr 1807 die Drohung eines Privilegien- und Statusverlustes für den Adel, eine seit vielen Jahrhunderten distinkt ausgeprägte soziale Schicht, den traditionellen Herrschafts- und Kriegerstand. Zwar hatte das preußische "Allgemeine Landrecht" soeben erst den Adel als ersten Stand des Staates festgeschrieben, doch war die Diskrepanz zwischen diesem Anspruch und der Gefahr des Bedeutungsverlustes schon aufgrund eines Mangels an Landbesitz wie an zur Verfügung stehenden Staatsämtern beträchtlich. Die Adelsherrschaft stand allein hierdurch in ihren sozialen und wirtschaftlichen Funktionen bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Frage, so dass die heftig umstrittene wirtschaftliche Gleichstellung von Adel und Bürgertum ersteren für die Dauer der 'Epochenschwelle' sogar noch einmal kräftigen konnte.

Dies ist dennoch nicht denkbar ohne eine vorausgegangene, seit Jahrzehnten andauernde Debatte über Reform und Reformierbarkeit, über Notwendigkeit und Legitimität des Adels. Das Monopol des Adels im Großgrundbesitz wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts weitgehend gebrochen, die Verteidigung der Positionen in Staats-, Militär- und Hofämtern gelang zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte noch mit Mühe und Not, die Unantastbarkeit adeliger Reputation, lange schon geschwächt durch barocke und aufklärerische Hof- und Adelskritik, die in eine zunehmend bürgerliche Öffentlichkeit hineingetragen wurde, war freilich unwiederbringlich verloren. Mehr oder weniger offen wurde die in Frankreich zeitweilig praktizierte, durch Napoleon rückgän gig gemachte Abschaffung des erblichen Adels diskutiert.

Umstritten war die nach dem Wiener Kongress einsetzende, an Napoleons "Kreation eines imperialen Neuadels" anknüpfende Dynamisierung der Nobilitierungspolitik. Einem ganzen, noch für den frühneuzeitlichen Staat wichtigen Stand, so sehr er in sich hierarchisch und regional differenziert war und auch seiner Handlungsfähigkeit nach inhomogen gewesen sein mag, widerfuhren die Profanierung seiner Aura wie auch konkret der Verlust von Macht und Einfluss. Der Adel wurde zu einer randständigen Erinnerungsgruppe, die ihren Einfluss in Politik und Kultur langsam verlor und mit zunehmender Aufmerksamkeit ihre ureigenen kulturellen Codes pflegte. Wohl erst nach 1848 stand fest: Das Projekt einer Einbindung in die moderne Gesellschaft war gescheitert.

Doch standen Adel und Adelskultur um 1800 noch einmal auf dem Prüfstand; in einer Zeit der politisch-ereignisgeschichtlichen wie der diskursiven Umbrüche ging es (kultursemiotisch betrachtet) auch immer wieder um die Frage einer Umcodierung und Neusemantisierung dessen, was die alte, seit langem invariant erscheinende Adelskultur ausmachte; schließlich hatten (bürgerliche wie adelige) Autoren und insbesondere Texte der Romantik wesentlichen Anteil an diesem Experiment einer Konfrontation von 'Alt' und 'Neu'. War der Adel politisch und sozial zunehmend gefährdet, so war die Adelskultur in den symbolischen Medien des beginnenden 19. Jahrhunderts nicht nur sehr präsent, sondern hatte auch gewichtigen Anteil an kulturellen Hybridisierungsvorgängen. Dies meint gleichermaßen Ansätze zu genereller Neusemantisierung als auch zur spezifischen Neufunktionalisierung im literarischen Text.

Im Gegensatz zum Adel als sozialer Formation ist mit einem in der Geschichtswissenschaft gebräuchlichen Terminus von 'Adeligkeit' zu sprechen; gemeint sind damit die Kernelemente eines adeligen Habitus. Hierzu gehören vor allem Ungleichheit, Ehre, Familie beziehungsweise Genealogie und Selbstrekrutierung, Herrschaft und Dienst, ganzheitliche Lebensführung, Bodenbesitz und Bodenbindung. Die damit bezeichneten und korrelierten Werte und Praktiken garantierten nicht mehr unbedingt politische, jedoch symbolische oder kulturelle Macht, solange die Exklusivität dieser mentalen Attribute akzeptiert wurde.

Um 1800 ging es nicht nur um politische Durchsetzung, sondern auch um eine Bündelung des symbolischen Kapitals. Dabei drohten auch Merkmale kultureller Exklusivität verlorenzugehen. Ein Fall von unfreiwilligem Export in das Bürgertum betrifft im 19. Jahrhundert den Komplex der 'Ehre' mit dem zugehörigen Kernritual des Duells, wie das vor allem Ute Frevert beschrieben hat. Umgekehrt legen die Notwendigkeiten der Modernisierung dem Adel um und nach 1800 nahe, die Frage des Imports des für eine bürgerliche Karriere zunehmend unabdingbaren Konzepts 'Bildung' zu prüfen und damit das Programm adeliger Kultur möglicherweise zu ergänzen, die eigene Kompromissfähigkeit zu erweisen. Das Mäzenatentum einer preußischen Landadelsfamilie wie der Finckensteins, die unter anderem Ludwig Tieck förderten, wäre als ein auf Gegenseitigkeit beruhender Pakt im Zeichen von 'Bildung' zu deuten.

Es ist kein Geheimnis, dass eine ganze Reihe von Autoren der Romantik selbst dem Adel entstammte und dass adeliges Personal und die Adelskultur berührende Motivik gerade in der deutschsprachigen Literatur der Romantik präsent waren, in einem Zeitraum, da das Literatursystem als Korrelat einer bürgerlichen Kultur bereits einen hohen Grad an Ausdifferenzierung erreicht hatte. Zu fragen - plakativ formuliert - bleibt allerdings nach der Einbindung von Elementen einer traditionalen Elitenkultur in innovative Texte und nach einer über die innerliterarische Kommunikation hinausreichende Funktion solcher Elemente, etwa im Rahmen von Elitentransformation. Voraussetzung dieser Frage ist die Überzeugung, dass Literatur die Evolution von Wissen darstellt, problematisiert und mitkonstituiert, nicht jedoch die entstehenden Aporien unbedingt auflösen kann. Zu widerlegen wäre dabei die Vermutung, es handle sich bei Problemen der 'Adeligkeit' um 1800 bereits um eine Marginalie oder auch um ein Oberflächenphänomen, das gewissermaßen der reaktionären Seite der Romantik angehöre. Vielmehr zählt der Komplex 'Adeligkeit' im Zeichen der semantischen Umbrüche der Zeit zu den zentralen Feldern des neu zu konfigurierenden kulturellen und juristischen Wissens.

Wenngleich der Artikel 'Adel' in Reinhart Kosellecks "Geschichtlichen Grundbegriffen" mit einem engen, vor allem auf rechtshistorische Fragen zentrierten Adelsbegriff auskommt, ist doch unverkennbar, dass das semantische Umfeld von 'Adel' weit mehr als in einem engen Sinn Politisches betrifft. Hier ist an Carl Schmitts "Occasionalismus"-Verdikt gegen die von ihm ironisch so genannte "Politische Romantik" zu erinnern, gleichermaßen aber an Karl Heinz Bohrers Gegenthese einer durch Schmitt missverstandenen ästhetischen Modernität in jenen Texten, die Bohrer wiederum vereinseitigend jeglichem "Realitätsgehalt" entkleidet sehen will, nur diesmal mit positiver Bewertung. Berücksichtigt man die jüngere Forschung zur Politischen Romantik, die in Texten von Novalis bis zum späten Schlegel durchaus erkennbare Bezüge zum politischen System herzustellen weiß und von einem weiter gefassten Begriff von auch symbolisch operierender Politik ausgeht, dann erscheint die von Carl Schmitt in polemischer Absicht vorgenommene Scheidung zwischen politischen und ästhetischen Texten im Sinn kulturanthropologischer Fragestellungen ohnehin als obsolet. Ein wesentliches romantisches Verfahren, das der begrifflichen Analogiebildung, steht dem von vornherein entgegen.

Adam Müller: Politik und Poesie

Es ist hier nicht der Ort, eine ausführlichere Charakteristik des zweifellos umstrittenen Adam Müller zu wagen. Carl Schmitt diente er als vorzügliche Projektionsfläche für seine These von der bloß nebulös ästhetischen und nur scheinbar politischen Romantik. Als Konvertit, mutmaßlicher Antisemit und Gründungsmitglied der Christlich-deutschen Tischgesellschaft, als unsteter Redner und publizistisch regsamer Propagator des rückwärtsgewandten christlichen Ständestaates hat sich Müller vielfach diskreditiert; die Wiederentdeckung im Kreis des konservativen Nationalökonomen Othmar Spann im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist aus heutiger Sicht ebenfalls nicht unproblematisch.

Politisches als publizistisches Handeln war Müller nicht fremd. Seiner Arbeitsweise nach verweist er durchaus auf das 'journalistische' 19. Jahrhundert und dessen littérature engagée voraus. Dabei ging seine Flexibilität in puncto politische Öffentlichkeitsarbeit so weit, dass er dem preußischen Finanzrat Stägemann 1809 schriftlich vorschlug, ein Regierungsblatt und eine Oppositionszeitung gleichzeitig zu schreiben. So redigierte er im Rahmen der Fronde preußischer Adeliger unter Führung von Friedrich August Ludwig von der Marwitz eine gegen die Hardenberg'schen Reformen gerichtete Denkschrift; sein Wirken um 1810 herum wurde generell der Entstehung einer reformgegnerischen, konservativen Ideologie in der preußischen Aristokratie zugeordnet.

Im Zentrum seiner Arbeit in der sächsischen Residenzstadt Dresden zwischen 1806, dem Jahr von Napoleons Sieg über Preußen also, und 1809, dem Beginn des österreichisch-französischen Krieges, an dem sich Müller beteiligte, standen neben dem mit Kleist herausgegeben, erfolglosen "Phöbus" insgesamt vier öffentliche Vorlesungszyklen, zweifellos inspiriert durch August Wilhelm und Friedrich Schlegel. In August Wilhelm Schlegels erster Berliner Privatvorlesung 1801/02 saßen "fast lauter Adeliche"; angesprochen waren, schon aufgrund der hohen Eintrittspreise, "das gebildete Publikum und der niedere Adel, der Kreis, den die Romantiker als die 'denkende Klasse' bezeichneten". Müller sprach sodann "Über die deutsche Wissenschaft und Literatur", "Über die dramatische Kunst", "Über das Schöne und Erhabene" sowie schließlich "Über das Ganze der Staatswissenschaft", veröffentlicht als "Die Elemente der Staatskunst". Müllers analogisierendes Verfahren, das gleichermaßen und mitunter synonym die Rede über den Staat wie über Poesie ermöglicht, ist auf Novalis zurückzuführen. Ohne diesen Texten wirklich gerecht werden zu können, soll hier nur auf die Aspekte der Codierung von Adel eingegangen werden. In einer weiteren, im Winter 1810 in Berlin gehaltenen Vorlesungsreihe hebt Müller selbst die Bedeutung des Adels für einen Staat nach seinem Gusto hervor: "Also ist die Konservation, Reinigung und Wiederbelebung des alten Adels die Bedingung zum Errichten einer ständischen Verfassung in der preußischen Monarchie und die Errichtung einer wahren ständischen Verfassung wieder die Bedingung eines wahren preußischen Nationalgeistes."

Auch wenn Carl Schmitt am Eindruck zweifelte, den Müllers Vorlesungen auf sein immerhin zahlendes Publikum machte, so ist kurz daran zu erinnern, dass sich um Müller in Dresden eine städtische Elite versammelte, die sich, soweit wir wissen, zu nicht geringen Teilen aus Adeligen rekrutierte, zumal in einer Stadt, die für den sächsischen Adel von höchster Anziehungskraft war; der Gastgeber Graf von Carlowitz wäre an erster Stelle zu nennen. Mag sein, dass Müllers Entwurf (übrigens schon aus Gründen der Zensur) nicht unmittelbar handlungsstiftend wirken konnte und wollte; zu der angedeuteten Debatte um die Legitimität von Adel und Adelskultur trug er zweifellos bei. Tatsächlich scheint die Zensur an einer heiklen, den Adel betreffenden Stelle der "Elemente der Staatskunst" eingegriffen zu haben. Und in der Vorlesung "Von der Idee der Schönheit" versucht Müller seine Zuhörer wie seine Leser zu weiterem Nachdenken über eine praktische 'Anwendung' recht deutlich zu animieren: "Wer in dieser Darstellung den notwendigen Zusammenhang mit der Lehre von der Schönheit nicht versteht oder wer mit dieser Idee des Adels den gegenwärtigen Zustand der Adligen nicht zu verknüpfen weiß, der denke sich, als habe er von irgendeinen [sic!] Utopien oder von einer platonischen Republik sprechen gehört. Hier konnte nur die Idee dargestellt werden; über die Anwendung und ihre Bedingungen verschließen mir die Zeitumstände den Mund."

In Müllers Verständnis von Adelskultur, dies sei hier vorweggenommen, spielen bereits das Oratorische und das Rhetorische eine bedeutende Rolle; er führt dies 1812 in seinen "Zwölf Reden über die Beredsamkeit" aus; der für ihn vorbildliche Edmund Burke wird als der "königliche Redner [...], Stellvertreter des unsichtbaren Englands" apostrophiert, und auch der Adelige wäre gewissermaßen in einer sich wandelnden Kultur noch der Oralität zugeordnet. Innerhalb eines "Gegensatzes von geselliger und individueller Schönheit" der deutschen Sprache findet zudem eine Reihung von 'gesellig', 'hochdeutsch' beziehungsweise 'Mitte Deutschlands' (damit 'Mittlertum', 'Vermittlung' überhaupt) und 'adelig' statt. Mit seinen Vorlesungen vor hochgestelltem Publikum schuf sich Müller demnach eine dem Thema angemessene Kommunikationssituation.

Es ist Novalis, der in seinem zu Lebzeiten publizierten staatsutopischen Text "Glauben und Liebe", dann auch in dem lange Zeit nur verstümmelt zugänglichen geschichtsphilosohischen "Europa"-Text, den Entwurf eines organisch gedachten Staates mit der idealen Familie einerseits, der Poesie andererseits in Analogie denkt, wie er auch in seinem Enzyklopädie-Projekt eine Analogiebildung der Wissenschaften und Wissenswelten untereinander anstrebt. Der Gebrauch des "Zauberstabs der Analogie" gestattet Novalis sogar, dies hat Herbert Uerlings gezeigt, in seiner "Europa" die Konstitution einer offenen Zukunft des Staates durch narrative Konstruktion. Erzählen und 'den Staat errichten' sind eins - eine Konsequenz aus dem frühromantischen Universalismus- beziehungsweise Romantisierungstheorem. Ein solches Verfahren, das die poetische Rede mit der Geschichte synchronisiert, ist die Konsequenz aus Novalis' Diktum, dass "ein Geschichtschreiber nothwendig auch ein Dichter seyn müßte". Als Form der Synthese liegt die Analogie zwischen völliger Gleichheit und völliger Verschiedenheit. Sie bahnt den Weg zu einem Gleichgewicht zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit, der dem romantischen Ganzheitsdenken entspricht, ohne dass über die Kraft des Verweisens hinaus eine platte Identifikation angestrebt wäre. Indessen besteht neben vielen anderen ein Unterschied zwischen Novalis' intensiv erforschten Texten und den im 20. Jahrhundert wenig beachteten Texten Müllers im Grad an Ausdifferenzierung des imaginären Staates, dessen Institutionengefüge Müller auf hunderten von Druckseiten entwickelt und es dabei "idealtypisch entfaltet". Müller konnte allerdings nicht wissen, dass Novalis in seinen Fragmenten immerhin sporadisch den Adel erwähnt, so etwa im "Allgemeinen Brouillon" als Ausführung des Satzes, der Staat sei immer "ein Macroandropos gewesen": "Der Adel war das Sittliche Vermögen".

Müller entwirft einen poetischen Staat, in dem Staatskunst und Wortkunst eng verknüpft sind, in dem der Staatstheoretiker Historiker und Prophet, der Staatsmann Poet sein muss. Er zielt in einer approximativen Bewegung die Entstehung eines Staates an, in dem, wie schon bei Novalis und Schelling erwogen, die lebendige Idee des organisch gedachten Staates verwirklicht ist, nicht aber tote Begriffe eines codifizierten Rechts, gar des Naturrechts.

Die Codierung von 'Adel' in Müllers Schriften, vor allem in den "Elementen der Staatskunst"

Es muss nicht verwundern, dass Müller den Adel als das "Hauptmerkmal[...] der modernen Staaten" ausgerechnet in seiner Vorlesung zu "Deutscher Wissenschaft und Literatur" benennt, unterscheidet er doch hier zwischen dem antiken republikanischen Prinzip und dem modernen, germanisch-monarchischen oder Adels-Prinzip. Die auf die Französische Revolution hin folgenden Kriege, welche auf eine Durchsetzung des antiken, demokratischen Prinzips abzielten, würden jedoch schließlich den germanischen, "ihren ursprünglichen Adel nie verleugnenden Nationen" weichen müssen. Dabei ist der Adel keineswegs Akzidens der Monarchie, vielmehr das einzige dauernde und ewige Institut des Staates, das von "aller modernen Staatsweisheit höchste[...], erhabenste[...], schönste[...] Resultat". Müllers idealisierende Ausgestaltung von Novalis' poetischem Staat wirkt sich also ganz wesentlich auf die Idee des Adels aus. Dabei kommt es im Rahmen seines analogisierenden Verfahrens zu einer semantischen Anreicherung von 'Adel', zu einer Ausweitung der mit 'Adel' verbundenen Codes. Im folgenden geht es vor allem um die "Elemente der Staatskunst", teils aber auch auf die anderen genannten Vorlesungen sowie Schriften aus dem zeitlichen Umfeld.

Der Tradition angehörig, zählt unter anderem der Adel zu den "politische[n] National-Götter[n]" der Deutschen, verbindet also politische mit mythischer Bedeutung. Folgende Merkmale werden dem Adel als einem ewigen Stand (nicht etwa einer mit dem Buchstaben des Gesetzes zu bezeichnenden sozialen Gruppe) zugeordnet: Ehre, Seltenheit, Reinheit der Abkunft, das heißt reiner Familienzusammenhang, Selbstrekrutierung, Standesbewusstsein. Zu den Aufgaben des Adels gehört die Legitimation des Souveräns. Die beiden wichtigsten, einander widerstreitenden Stände, Adel und Bürgertum, sind ewig. Dieser Widerstreit, der innerhalb von Müllers Lehre vom Gegensatz zu sehen ist, gehört zu einem agonalen Verständnis von 'Bewegung' und 'Wachstum', das Streit und Krieg als natürliche, das politische Leben prägende, immer nur temporär zu schlichtende Auseinandersetzung begreift.

Einen zeittypischen Vorwurf gegen den Zufallscharakter der Privilegierung weniger Menschen durch ihre Geburt, damit die angebliche Ungerechtigkeit des Geburtsadels überhaupt, kontert Müller, indem er 'Adel' und 'Zeit' ganz entscheidend miteinander verknüpft: Der Mechanik gegenwärtiger Staatsauffassung entspreche die Beschränkung des politischen Blicks auf die jeweilige unmittelbare Gegenwart; die Kritik an sozialer Ungleichheit qua Geburt sei nur dann möglich, wenn man jene Lehre der Staatskunst ausklammere, "wie mehrere Generationen untereinander verbunden werden, und wie die Nacheinanderfolgenden sich in einander verflechten und durcheinander verbürgen".

Der juristische Garant der geforderten Kontinuität von Ordnung und Reichtum ist das Erbrecht. Eine solche diachrone Verflechtung aber garantiert der Adel. "In Zeiten allgemeiner Verwirrung, wo das menschliche Geschlecht von seiner eigenen Bestimmung entfremdet ist, - wagt niemand mehr für den Nachkommen, nicht einmal für den Zeitgenossen, ja kaum für sich selbst gut zu sagen". Damit ist das Attribut der Genealogie als Garant diachroner Ordnung angesprochen. In seiner Vorlesung "Von der Idee der Schönheit" wendet Müller den Vorwurf des Zufälligen ins Positive und verbindet ihn mit einer Zeit-Codierung. Ergebnis ist "der Adel als Repräsentant des Dauernden, des Bleibenden auf Erden, als Repräsentant des Altertums, der Vorzeit des Staates, der Repräsentant des Glückes, welches unverdient durch die bloße Gunst des Himmels den Menschen von oben kommt".

Mit dieser Verteidigung des 'Glücks' begegnet Müller dem Vorwurf des Publizisten Friedrich Buchholz, das bloß "Zufällige und Sächliche (Geburt und Güterbesitz)" begründe die Macht des Geburtsadels. Was in einer Zeit zunehmender Ökonomisierung und Verplanung des individuellen und kollektiven Daseins also der perhorreszierten Kontingenz zu entspringen scheint und nach Meinung der Reformer beseitigt werden muss, wird durch Müller vom Zufälligen ins Notwendige und Ordnungsgemäße umgebogen. Andererseits dementiert Müller eine zum Fatalismus tendierende Bewertung dieses Glücksprinzips. Die im Gefolge eines revolutionären Optimismus individuellen Handelns nicht mehr akzeptable Kontingenz wird mit einem historischen und organizistischen Argument legitimiert, das die Frucht des Zufalls zum eigentlich legitimen 'Gewachsenen' ernennt. Auf lange Sicht relativiert sich dieses nur scheinbar passiv zu genießende Glück aber durch die Aufgabe, "das heilige Vermächtniß des Nationallebens auf die Zukunft [zu] vererben". In dieser Forderung kehrt die alte Überzeugung wieder, die adelige Persönlichkeit definiere sich wesentlich genealogisch, in Abhängigkeit von Vorfahren und Nachfahren, nicht als Individuum, nicht als modernes Subjekt.

In den "Elementen der Staatskunst" heißt es: "Der Adel soll das Unsichtbare, die Macht der Sitte und des Geistes im Staate repräsentiren, und so ist er in der großen Ehe, welche Staat heißt, was die Frau in der Ehe im gewöhnlichen Verstande." Der 'Adel' wie 'das Weibliche' wird an anderer Stelle dann aber wieder konnotiert mit dem "bleibende[n], pflanzenartige[n] [...] Element der Gesellschaft" sowie dem Grundeigentum. Die diachrone Semantisierung des Adels erlaubt generell eine Gleichsetzung mit den "unsichtbaren Mächte[n] im Staat", damit sind auch Vergangenheit und Zukunft gemeint, zudem "die Phantasie des Staats und sein Gedächtnis". Und: "[U]nsichtbare Mächte im Staat nenne ich vor allen Dingen die Gewalt der Familienverbindungen, die Geheimnisse der Erbfolge und des Adels; unsichtbar sind sie nur für jene abgesonderte Intelligenz, sichtbar hingegen bis zur vollsten Klarheit sind sie dem ganzen vollständigen Menschen, in dessen Gemüt Phantasie und Verstand eines und dasselbige sind, kurz, dem wahren Staatskünstler, von dem hier die Rede ist."

Er vollzieht also schöpferisch nach, was der Adel seiner Idee nach immer schon ist. Insofern hier aber der wahre Staatskünstler auch der wahre Künstler überhaupt ist, ist der 'Adel' eine dienende Gedächtnisinstanz, ein universales Speichermedium, das die notwendigen Anhaltspunkte liefert, um im Kunstwerk eine Ordnung der Zeit wie auch des Anderen der Zeit, der Dauer, der Ewigkeit, zu etablieren. Ein "Andenken an die fromme Innigkeit der Abentheuer von damals" garantiert die mittelalterliche Ritterepik, also die literarische Figur des Adeligen; generell leitend für den Staatskünstler sind "die unzerstörbaren Spuren alter Gesetze, Stände und Sitten". Wir befinden uns also plötzlich doch in Müllers Ästhetik, die den idealen Künstler dem Verstand wie der Fantasie gleichermaßen verpflichtet: "Ich kann mir einen Menschen denken, der, nachdem er durch die Gewalt der Verstandeskonsequenz, der Einsicht, der List, kurz durch reine Intelligenz sich die Welt unterworfen hat, endlich an den einfachen ewigen Ideen der Familie, der Erbfolge und des Adels wenn nicht scheitert, doch ein plötzliches Ziel aller seiner Taten findet."

Das Lob des Augenblicks, die bei Karl Heinz Bohrer vielgepriesene Plötzlichkeit, Ausdruck der Verzeitlichung, ist bei Müller ganz zurückgedrängt zugunsten der Dauer, "dem heiligen Problem der Dauer": im Adeligen sei seine ganze unsterbliche Familie anwesend, er vermöge die Aufgabe zu erfüllen, "das Wohl des einen Augenblicks durch das Wohl des andern zu verbürgen". Die Weigerung, sich dem zufälligen historischen Augenblick in einem Zeitalter permanenten Wandels zu unterwerfen, lässt sich nach 1806 als Verfahren einer 'Kultur der Niederlage' (Wolfgang Schivelbusch) interpretieren. Ein Zurückgewinnen von Handlungsfähigkeit erscheint als möglich, indem man sich an längerfristige, möglichst sogar historische Kontinuität verkörpernde Prozesse anschließt, die sich von einer der Unverfügbarkeit anheimgefallenen Gegenwart deutlich unterscheiden lassen.

Konsequenterweise werden 'Staat' und 'Text' oder 'Rede' zu austauschbaren Größen, die Organisation in zeitlicher Hinsicht wie auch die Dauer, die Verknüpfung von ephemerem einzelnen mit der Ewigkeit des Regenten werden jeweils durch die Idee des Adels bezeichnet; der einzelne stellt die Ganzheit dar, indem er zeitliche Relationalität in familial-genealogischer Hinsicht vertritt und integrativ als Vertreter seiner ganzen "Familie" Dauer garantiert: "In jedem Werke der redenden Kunst, einem kleinen Wörter- oder Ideen staate, stellt sich unmittelbar und von selbst ein kleiner Monarch an die Spitze; dieß ist in gegenwärtiger Arbeit ["Fragment über den Adel", J. S.] die allenthalben vorwaltende Idee der Persönlichkeit. Im Verfolge wird sich zeigen wie in der wohlgeordneten, persönlichen Rede ganz durch inneres Gesetz sich ebenfalls ein hoher Adel von Ideen bildet, dieser durch mehrere Capitel, wie der Adel im Staat durch mehrere Geschlechter verbindend hindurchgreift, und durch seine längere Dauer die vergängliche Schönheit der übrigen Wörter- und Gedanken-Bürgerschaft an die Ewigkeit des Regenten knüpft."

Der Staat ist analog bei Müller Symbol des Ganzen schlechthin, Familie selbst und "Verbindung vieler nebeneinander lebender" sowie "vieler aufeinander folgender Familien", Ganzes also hinsichtlich von Raum und Zeit. Der Idee des Adels korrespondiert also ein Adel von Ideen im wohlgeordneten, vom einzelnen aufs Ganze verweisenden Text - und der Adel bildet selbst eine romantische Textur: "Man muß diese Textur, diesen heiligen und innigen Verband der Generationen untereinander, so einfach er ist, mit Scharfsinn und Tiefsinn erwägen, wenn man erkennen will, was eigentlich die Generationen aneinander bindet." Der Adelige garantiert die Unmittelbarkeit aller beliebigen Zeitpunkte zur Gegenwart - und zur Ewigkeit; seine Genealogie bildet erst jene Textur, die es möglich macht, über den kontingenten Augenblick hinauszu denken und über die einzelne Textstelle hinaus auf den gesamten Text zu schließen und ihn zu verstehen.

Müller entwickelt also im Gegensatz zu Novalis in der "Europa" den poetischen Staat nicht als geschichtsphilosophische Narration, sondern er treibt die begrifflichen Analogiebildungen bis ins Detail und bis hin zur Umkehrbarkeit: seine Rede ist stets begrifflich-deskriptive Rede, ist Text über den Adel und sie beschreibt den 'Adel' des Texts. Es wird kaum zu leugnen sein, dass das semantische Potential von 'Adel' dadurch an Vielfalt gewinnt, dass von einer Polysemie von 'Adel' die Rede sein kann. Neben einem deutlich politischen Bezug auf eine bestimmte soziale Formation finden sich Bezüge zur Rhetorik und zu einer Kultur des Performativen - Reden heißt auch Auftreten -, zu einer Poetik des Syntagmas und zur Kultur von Zeit und Zeitlichkeit (genauer: unter anderem zu einem, von Müller natürlich nicht so bezeichneten, kulturellen Gedächtnis), schließlich: zur Geschlechterspezifik - für dies alles wird der Signifikant 'Adel' in Anspruch genommen. Damit aber wären auch vielfältige Anschlussmöglichkeiten für eine Selbstlegitimation des verunsicherten Adeligen der Zeit gegeben und damit auch für Müllers Publikum.

Wie Joseph Vogl gezeigt hat, entsteht um 1800 das Wissen um autoregulative Dynamiken im Kontext der Autonomisierung von Funktionsweisen moderner Systeme. Ökonomie und Poesie verfahren einhellig selbstreflexiv, jeweils in Gestalt einer Zirkulation von Zeichen, handle es sich um die Selbstreferentialität von Literatur oder den Umlauf von Geld. Dies ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Eine romantische Reaktion auf derart autopoietische Systeme ist auch immer wieder der Versuch einer "romantische[n] Ökonomie", nämlich "die divergierenden Faktoren politischer Regierung noch einmal in ein einheitliches, kohärentes und 'organisches' Modell zu integrieren", "die widerstrebenden Segmente, Wirklichkeiten und Funktionsbereiche des Regierens noch einmal in eine gemeinsame Form, eine Staats-Form zu fassen".

In Adam Müllers Texten begegnen sich folgerichtig ästhetische Modernität und politisch restaurative Konzeptionen. Als poetische, selbstbezügliche und eine zeitliche Ordnung, also eine Ordnung des Gedächtnisses stiftende und Kontinuität versprechende Größe wird dem Adel als Stand wie als kulturellem Zeichen mittels einer hochgradig integrativen Denkbewegung die Aufgabe zugewiesen, bei Negation der kontingenten Gegenwart längst als gegenstrebig erkannte Bereiche des Wissens in eine gemeinsame Form zu überführen. Zudem fungiert 'Adeligkeit' in einer Epoche der Ökonomisierung kompensatorisch als kulturelles Feld der An-Ökonomie, sind Texte über den Adel einer Poetologie des Wissens von Müßiggang und Verschwendung unter dem Diktat eines ökonomischen Rationalismus aufzufassen. Auch für die Codierung von Adel trifft indessen Carl Schmitts voreilige Diagnose zu der von ihm abschätzig so benannten "Politischen Romantik", "Hier läßt sich Alles mit Allem vertauschen", nicht zu. Insofern auch 'Adel' auf das Ganze (des Staates), eine zu romantisierende Welt verweist, ohne mit ihr identisch zu sein oder den Endpunkt einer approximativen Denkbewegung romantischen Typs zu bezeichnen, sind Müllers Thesen durchaus begrenzt und wohl abgewogen. Alles mag mit allem verknüpft sein - doch Metonymie ist nicht gleich Metapher.

Müller reproduziert, rearrangiert und präsentiert kulturelles Wissen in angemessener Form zwischen Poesie und (Staats-) Wissenschaft, wozu auch die Wahl des dem Thema und dem Adressatenkreis gemäßen, einer raschen Verbreitung von Wissen entgegenkommenden Genres 'Vorlesung' gehört, das den "rhetorisch zu entfesselnde[n] Krieg" unmittelbar im Alltag zu propagieren sucht und es mit den "Organe[n] der Sprache und des Gehörs" auch unternimmt, "die Kultur dieses adligsten Sinnes und mit ihm die Beredsamkeit wieder herzustellen".

Müllers Entwurf ist nur eine Stimme innerhalb einer sich neu formierenden Adelskultur bald nach den Rückschlägen, die die Mediatisierung von 1803, die Niederlage von Jena und Auerstedt von 1806 sowie die darauf erfolgenden Reformversuche in Preußen für den Adeligen bedeuteten. 'Adeligkeit' stellt sich auch unter den Bedingungen der Moderne als Kernstück einer noch einmal als einheitlich gedachten Welt dar, wenngleich als semantisch komplex, so doch unabdingbar unter dem Ganzheitsgebot des 'Staates' zu subsumieren. Die Anbindung von Müllers Entwurf an die zeitgenössische Schicht des Adels ist nicht aufgegeben, wenngleich dieser sich, wie Müller selbst es für den französischen Adel des 18. Jahrhunderts behauptet, wie die Karikatur zur erhabenen Idee des Adels verhalten sollte.

Um 1810: Achim von Arnim

Die Wirkung von Müllers poetischer Staatstheorie nachzuzeichnen ist hier nicht möglich, sie ist zudem unzureichend erforscht. Auf dem literarischen Feld ist vor allem Müllers Einflussnahme auf Heinrich von Kleist immer wieder behauptet worden. Kleist als bloß 'bürgerlichen' Autor, der sich von seinem Herkunftskomplex abgewandt habe, zu lesen, ist schon im Hinblick auf Biografie und Selbstzeugnisse falsch. Kleists letztes Schauspiel "Prinz Friedrich von Homburg" ist vielmehr dechiffrierbar als Spiel zwischen Herrscher und Adeligem um gegenseitige Legitimierung und vor dem Hintergrund adeliger Kultur.

Wenigstens skizzenhaft ist auf einen Roman hinzuweisen, der im Erscheinungsjahr der "Elemente" entstand und der auch in persönlicher Auseinandersetzung mit Müller verfasst wurde. Dieser schrieb nämlich am 5. Juni 1810 an seinen Freund Friedrich Gentz: "Den Ueberbringer dieses Schreibens, Herrn Ludwig Achim von Arnim, brauche ich Ihnen so wenig zu empfehlen, als seine Arbeiten, von denen eine der neuesten und vortrefflichsten, 'die Geschichte der Gräfin Dolores', so eben erschienen ist, die Sie lesen müssen."

"Armut und Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores" ist die Geschichte einer Ehe zwischen zwei Adeligen; die erst durch Ehebruch schuldig werdende, dann büßende Gräfin sei "[g]ewiß [...] als Stellvertreterin eines überholten, moralisch disqualifizierten und ökonomisch unproduktiven Adels angelegt", sie sei Repräsentantin des vorrevolutionären Adels. In der jüngeren Forschung wurde jedoch weniger diese "Oberflächenlesart" favorisiert, als dass man sich entschloss, das Allegorisieren als tendenziell unendliches Verweissystem zum obersten Strukturprinzip zu ernennen. Hinzu komme ein zusätzliches Ambivalenzmoment dadurch, dass die Reflexion über das Allegorisieren die Unzulänglichkeit allegorischer Deutungsmethoden markiere. Nicht als Ausweis einer neuen Zweckästhetik sei der Roman zu lesen, etwa gar als Pamphlet zugunsten einer Erneuerung des Adels, sondern als selbstreflexiver Roman; eine solche Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenbedeutung marginalisiert freilich 'Adeligkeit', vergisst man, dass ebenso wie seit Novalis Staat und Poesie seit Adam Müller insbesondere Adel und Poesie semantische Austauschbeziehungen unterhalten, die dann etwa die beiden Protagonisten Arnims nebeneinander als Vertreter von antagonistischen Ausprägungen adeliger Kultur wie auch als Autor und Leserin erscheinen lassen und schließlich die Unterscheidung zwischen 'Oberfläche' und 'Tiefe' überflüssig machen. Natürlich verbietet eine Lektüre des komplexen Romans eine ein deutige Allegorese des Grafen Karl und der Gräfin Dolores, das komplexe Spiel aus immer wieder angelagerten und überlagerten Binnenerzählungen und Abschweifungen entwickelt vielmehr auch ein reiches Archiv habitueller Muster des Adels - keine Handlungsanweisungen allerdings!

Dolores erwirbt sich mit ihrer Lektüre frühzeitig eine "altadelige Gesinnung" und wendet sich in einer Zeit, in der der Adel bereits eine Minderung seines Einflusses hinnehmen muss, gegen den Ausgleich der Stände. Die erste, programmatisch in den Roman eingeführte Binnenerzählung ist die von Hug Schapler, dessen repräsentativ-adelige Lebensweise - lieber Müßiggang in Armut als Selbstprofanierung durch 'Arbeit' -, sein Aventiure-Streben, das auch einmal Rechtsverletzungen in Kauf nimmt, Ehrverletzungen aber stets kontert, anscheinend zu seinem 'Glück' beiträgt, das ihn zum Begründer eines Königsgeschlechts werden lässt. Die Leserin Dolores unterbricht dabei immer wieder die Lektüre, um Parallelen zur eigenen Lebenssituation herzustellen, liest also den Text, wenn nicht allegorisierend, so doch als ein Exempel. Ebenso wie der Roman insgesamt die dem grundlegenden adeligen Streben nach Fortführung der Genealogie vorausgehende Eheschließung und Eheführung in sein Zentrum stellt, endet bereits der "Hug Schapler" mit einer solchen, für Dolores vorbildlichen Eheschließung. Im neu erzählten frühneuzeitlichen Prosaroman allerdings findet sich noch ständische und zeitliche, also: narrative Ordnung, Chronologie und Linearität. Graf Karl hingegen, ein Adeliger, der sich der modernen Forderung nach Bildung anbequemt hat, ein "Musensohn", der seine Frau mittels allegorischer Gedichte auf eine Bedeutung, auf eine Wahrheit festlegen will, der sich die Spielerin Dolores bezeichnenderweise entzieht, strebt nicht nur individuelle Vervollkommnung an, sondern auch "rasche[...] Weltverbesserungen", was für ihn bedeutet, "alle Welt zu adeln". Achim von Arnims unter dem Titel "Was soll geschehen im Glücke" erst vor wenigen Jahrzehnten gedruckter Text, dessen Programmatik man hier wiedererkennt, liest sich in diesem Romangefüge als mindestens so naiv wie im besonderen Karls einschlägiges Gedicht, das also Poesie auf politisches Programm zu reduzieren sucht (etwas, was der Anlage des Romans ins gesamt natürlich widerspricht, genauso wie Dolores' Verhalten als Leserin): "Nicht die Geister zu vertreiben, / Steht des Volkes Geist jetzt auf, / Nein, daß jedem freier Lauf, / Jedem Haus ein Geist soll bleiben: / Nein, daß adlig all auf Erden, / Muß der Adel Bür ger werden." Der Widerspruch, der sich aus einer solchen breiten Nobilitierung aller Volksschichten und dem dabei aufrechterhaltenen Anspruch ergibt, dass Helden "Heldenkinder [...] erziehen", dass also eine Elite gezielt durch Fortzeugung erhalten bleibt, ist dem Roman auf mehreren Ebenen eingeschrieben. Gelöst wird der Widerspruch nicht, auch wenn sich zwischen Graf und Gräfin auf Handlungsebene Streit und Versöhnung ereignen. Die um 1810 drängende Problematik der 'Adeligkeit' ist keiner politischen Lösung zuzuführen; sie kann aber auch im Erzähltext nur als eine, zudem im einzelnen noch als widersprüchlich ausgewiesene, Bedeutungsschicht in einem chaotischen Ganzen entwickelt werden.

Als Zeitroman spiegelt die "Gräfin Dolores" immer wieder die Zeit der Revolution und Napoleons, allerdings ohne dass der ja stetig durchbrochenen Chronologie der Handlung eine Chronologie der Geschichte, des Zeithintergrunds zuzuordnen wäre. Dieser Befund ebenso wie die Inkonsistenz der Narration selbst lässt sich von Adam Müllers Adelsoptimismus her als desaströs lesen. Es gibt im Roman keine Instanz mehr, die eine zeitliche, eine zeitgeschichtliche Ordnung garantieren könnte. In Arnims Roman gibt es nicht "die" Kultur des Adels, sondern eine Vielzahl von Lebensentwürfen, die sich, in Binnentexten dann explizit im Medium der Poesie, mehr oder weniger an alten Idealen des Adels orientieren oder aber ein neues Ideal begründen wollen. Solange, wie bei Müller, Adel und Rhetorik, Adel und Poesie innerhalb einer gelingenden Ordnung der Zeit verfügbar sind, können analogisierend und widerspruchslos im quasi-adeligen Medium der Rede beziehungsweise der Vorlesung Idealstaaten entworfen werden. Dort, wo bereits die Antithese zwischen einer dem Ideal benachbarten alten Zeit und einer verderblichen neuen dekonstruktiv verhandelt werden muss, kann auch 'Adeligkeit' nur in einer Vielzahl möglicher Konstellationen narrativ entfaltet werden. Liest man Müllers "Elemente der Staatskunst" und Arnims "Gräfin Dolores" nebeneinander, dann sollte man bezüglich des poetischen Verfahrens wie des kulturanthropologischen Gehalts davon ausgehen, dass beide Texte miteinander korrespondieren. Dies würde freilich nicht bedeuten, den Roman im Sinne eines aufklärerischen Reformdiskurses zu lesen. Hier ist der Forschung recht zu geben, dass keineswegs Positionen propagiert werden. Sie werden allerdings spielerisch erprobt. Falls man vom Sieg der reformerischen Haltung Karls sprechen kann, dann gelingt er nur über die Leiche der Gräfin. Deren immer wieder aufscheinende Verweigerungshaltung, ob es um eine korrekte allegorische Deutung von Gedichten ihres Mannes geht oder um die bürgerlicher Moral entsprechende eheliche Treue, kann erst ruhig gestellt werden, indem ihr nach ihrem Tod ein Denkmal gesetzt wird. Kein Wort darüber, ob des Grafen Karls Plan, der gesamten (bürgerlichen) Gesellschaft einen neuartigen Gesinnungsadel einzuimpfen, gelingt.

Am Schluss ist Karl bereit, "bei dem Rufe seines bedrängten Vaterlandes, sich von dem Grabe seiner Dolores loszureißen, den Deutschen mit Rat und Tat, in Treue und Wahrheit bis an sein Lebensende zu dienen; ihm folgten seine Söhne mit jugendlicher Kraft." Hier kündigt sich allerdings, ähnlich wie in Kleists "Prinz von Homburg", ein Paradigmenwechsel an, der den Adeligen als Akteur dann sukzessive überflüssig macht: nicht mehr der durch persönliche Treue bestimmte Dienst des adeligen Gefolgsmannes gegenüber dem Landesherrn wird gefordert, sondern zunehmend das Aufgehen jedes einzelnen in der Nation, dem Objekt eines neuen, letzten Universalismus.

Zusammenfassend ist hinsichtlich einer Neucodierung von 'Adeligkeit' um 1800 festzuhalten, dass die staatstheoretischen Schriften Adam Müllers im Umfeld eines (historisch dann bald gescheiterten) Reform- und Reformulierungsprojektes angesiedelt sind, das im wesentlichen Traditionalität des Programms und Modernität der Vermittlung, also: des Mediums, der 'Form', in einem der frühromantischen Theorie zu verdankenden Verfahren von Analogiebildung und polysemer Bedeutungskonstruktion verbindet. Damit bleibt es also gerade nicht bei einer "Art anarchischer Um- und Entwertung politischer Begriffe" in der 'Politischen Romantik'. Dies schließt den Versuch ein, "eine unmittelbare Verwicklung ins Gegenwärtige", das "Heute" als geschichtlichen Augenblick zusammenzudenken mit möglicherweise zu rettenden Invarianzen ständischer Kulturen. Schnittstellen einer Poetologie des Wissens vom Adel um 1800 sind, wie an Müllers Texten nachzuweisen war, Rhetorik, Staatstheorie, Ästhetik, Literaturgeschichte ebenso wie Politik.

Das realpolitische Scheitern eines solchen symbolpolitischen Projekts, das um 1800 zum Subtext im Diskurs der Literatur geworden ist, lässt sich allerdings dann noch daran ablesen, dass die Literaturwissenschaft hier meist nur ein marginales Motiv literarischer Texte registrieren zu müssen glaubte. Nicht halten lässt sich die mindestens seit Georg Lukács tradierte Auffassung, die "soziale Grundlage der Romantik [sei] bürgerlich" gewesen; zumindest wird man diesen Befund durch die These ersetzen müssen, dass aus den Texten der Romantik wie aus den Texten der Zeit überhaupt die Kultur des Adels nicht wegzudenken ist. Zu Unrecht fast vergessen sind Heinz Otto Burgers Belege einer Verbindlichkeit der Adelskultur für die deutsche Klassik, die Beharrung auf das 'Scheinen', das Rollenspiel, Fest und Rhetorik, übrigens auch noch auf das Europäische.

Wie die rhetorisch vermittelte romantische Staatstheorie einerseits über die bloße Einbindung von 'Adel' als zweitrangiges Motiv hinausgreift, so vermag doch andererseits der romantische Roman den Adel als die Garantieinstanz einer Ordnung des Staates wie einer Ordnung von Gedächtnis und Erzählung nicht mehr zu stützen.

Anmerkung der Redaktion: Dieser für literaturkritik.de leicht überarbeitete und erweiterte Text erschien zuerst in: Konrad Feilchenfeldt/ Ursula Hudson-Wiedenmann / York-Gothart Mix/ Nicholas Saul (Hg.): Zwischen Aufklärung und Romantik. Neue Perspektiven der Forschung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 321-342. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.