Das Erlebnis des Kreativen

Texte von und über Gerhard Rühm

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum siebzigsten Geburtstag oder aber mit leichter und deshalb verzeihlicher Verspätung sind heuer zwei Bände erschienen, die nur ein Ziel haben: den Jubilar Gerhard Rühm zu rühmen. Er wurde am 12. Februar siebzig Jahre alt.

Jörg Drews besorgte die Textauswahl "um zwölf uhr ist es sommer" im Reclam Verlag. Der Band eröffnet mit Prosa, die in der Rühm-Rezeption häufig zu kurz kommt. Eine Fingerübung in Sachen Lesermanipulation ist schon das erste Stück, "die frösche", ein höchst vergnüglicher Text - allerdings weniger für die dargestellten oder imaginierten Frösche (ich sage nur Straßenverkehr!). Zugleich eine geglückte Unterweisung in Anatomie und Etymologie, Poetologie und Phraseologie, in Laut- und Wortbildung, Logik und Pädagogik, Assoziation und Konnotation, Relativität und Flexibilität. Auch in der Literaturgeschichte? Schon Aristophanes` "Batrachoi" ("Die Frösche", 405 v. Chr.) sind berühmt für ihre direkte Ansprache ans Publikum, für die Geschlossenheit der Komposition, den Wort- und Situationswitz, die Derbheit und Superbheit der Motorik und Rhetorik, Artistik und Sophistik... Reicht!

Es folgen "Märchen und Fabeln", "Konstellationen und Ideogramme", gefolgt von "Montagetexten" und "Textbildern". Unter den "Gedichten" ist das berühmte "Sonett" ("erste strophe erste zeile / erste strophe zweite zeile / erste strophe dritte zeile / erste strophe vierte zeile // zweite strophe erste zeile" usw.) ebenso wie die Goethe-Parodie "ein gleiches" zu finden; unter den "Chansons" darf das fesche Reiterlied "eiter tschin" nicht fehlen: "eiter tschin / eiter bum / eiter macht mich heiter hei / eiter tschin / eiter bum / eiter macht mich froh wieso". "Dialektgedichte" und "Wiener Lautedichte", "Sprechtexte" und "Theoretische Texte" runden den Band ab, getoppt vom kundigen Nachwort des Herausgebers. Jörg Drews begleitet das Œuvre Gerhard Rühms seit mehr als dreißig Jahren, und schon die erste Rezension der "Thusnelda-Romanzen" von 1969 läßt erkennen, dass Drews in Rühm einen Vertreter jener literarischen Moderne erblickt, die es versteht, subversiv, lust- und niveauvoll, erkenntnisstiftend und unterhaltsam mit Sprache zu arbeiten. Da lebt der Kritiker einfach auf: Im Erlebnis des Kreativen blitzt und funkelt die eigene Kreativität, werden die Rezensionen zu lebhaften Stilübungen, müssen Adjektive her, um die "plüschige Schwüle" der Texte einzufangen, um die "sinnliche Evidenz" des Besprochenen auch in der Besprechung zu erweisen. Es ist eine nicht genug zu würdigende Qualität des Kritikers Jörg Drews, dass er ,seine´ Autoren über die Jahre hinweg begleitet, ihr Werk und seine Entwicklung lesend und besprechend mitvollzieht und auf diese Weise zum anregenden Förderer ganzer Generationen von Autoren geworden ist. Eine Summe seiner Kritiken aus über dreißig Jahren hat er kürzlich unter dem Titel "Luftgeister und Erdenschwere" im Suhrkamp Verlag vorgelegt.

Nüchterner als Drews präsentiert sich der von Kurt Bartsch und Stefan Schwar herausgegebene Dossier-Band aus dem Droschl Verlag. Ein verdienstvolles Kompendium, das unter anderem zeigt, dass bei Rühm nicht bloß an Rühm zu denken ist, sondern - natürlich - auch an die "Wiener Gruppe". Völlig zurecht führt Melitta Becker in ihrem Beitrag über diesen "Mythos" aus, dass die Rezeption dieser Vereinigung seit der berühmten Wiener Gruppe-Anthologie von 1967 "von den produktions- und darstellungsästhetischen Vorgaben" Gerhard Rühms geprägt und wissenschaftlich niemals "hinterfragt" worden ist. Hier macht auch Wendelin Schmidt-Denglers Aufsatz über Rühm und die Wiener Komödie keine Ausnahme: die Autopsie von Rühms Bibliothek führt den Verfasser zu dem vagen Hinweis auf eine "strukturelle Verwandtschaft" von Wiener Gruppe-Texten und Wiener Komödie; beide verstünden sich auf gewisse "Exerzitien". Fruchtbar hingegen ist Klaus Ramms Analyse zweier Hörspiele von Konrad Bayer ("Sie werden mir zum Rätsel, mein Vater") und Gerhard Rühm ("Wintermärchen"), denn hier werden generell bedenkenswerte Überlegungen angestellt. Die eine betrifft das Verhältnis einer bestimmten konservativen Kulturklientel, die ihr destruktives Mütchen mit Vorliebe an der Wiener Gruppe kühlte, aber im gleichen Atemzug von den "Werten der Kunst" faselte, zur im Wortsinne "konstruktiven" Grundhaltung der konzeptionell arbeitenden Literatur der 50-er Jahre. Die andere berührt die Komiktheorie und mithin die Frage, wie aus einer akustischen Idee, dem Material und einem konsequenten Programm im "Bezugssystem des Konsumenten" Komik entstehe - ohne dass die Texte auf Pointen und auf "komische Wirkungen" angelegt wären. Die "Konstruktivität" der Hörspielarbeit von Rühm und Bayer ist offenbar im doppelten Sinne provokant: sie provoziert Widerspruchsexzesse bei Rezipienten mit einem festgefügten Literaturbegriff, auch "Burleske Heiterkeit", die - aufgrund des mit ihr verbundenen Kontrollverlusts - sofort in neue Ablehnungswut münden kann, andererseits aber auch in "emotionale Betroffenheit" und schöpft damit das gesamte Spektrum der Emotionen aus.

Der Band von Bartsch und Schwar enthält auch einige Aufsätze und Analysen, die eigentlich nur konsumierbar sind, wenn man sich wissenschaftlich mit Rühm beschäftigt; so dringt Michael Lentz bis in die Artikulations- und Verfahrenstechnik der auditiven Lautpoesie vor; Stefan Schwar hingegen verbleibt mit seinem Beitrag über die Funktion der Musik bei Rühm weitgehend im metaphorischen Raum. Auf ein Gespräch von Franz Schuh mit dem Autor folgen Aufsätze und Essays, Kritiken und Analysen. Karl Rihas Aufsatz handelt von "Visueller Poesie", Melitta Becker steuert eine Vita und eine Bibliographie bei. Der Rezensionsteil bietet illustre Namen auf, von Ludwig Harig über Felix Philipp Ingold bis hin zu Ernst Nef. Zu Maria Gazzettis Rezension von "textall" in der "Zeit" ist sogar ein Leserbrief mit abgedruckt. Er belegt, dass die Literatur von Gerhard Rühm noch immer die Gemüter bewegt.

Titelbild

Kurt Bartsch / Stefan Schwar: Gerhard Rühm Dossier 15.
Verlag?, Graz 1999.
272 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3854205295

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Jörg Drews: Luftgeister und Erdenschwere. Rezensionen zur deutschen Literatur 1967 - 1999.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
299 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3518395378

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Titelbild

Gerhard Rühm: um zwölf uhr ist es sommer. Gedichte, Sprechtexte, Chansons, Theaterstücke, Prosa. Auswahl und Nachwort von Jörg Drews.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
238 Seiten, 5,10 EUR.
ISBN-10: 3150180554

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