Das "Handbuch Literaturwissenschaft" in drei Bänden - herausgegeben von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit gut einem Jahrzehnt ist in der Literaturwissenschaft ein deutlich zunehmendes Bemühen zu beobachten, das eigene Wissen in Form von Einführungen, Handbüchern, lexikalischen Großkompendien und analytischen Rekonstruktionen von Grundbegriffen zu stabilisieren. Drei Jahrzehnte lang war die Literaturwissenschaft geprägt von heftig und zuweilen verbissen geführten Auseinandersetzungen um divergierende wissenschaftliche Positionen, von Abgrenzungskämpfen und angestrengten Profilbildungen diverser Fraktionen im akademischen Kräftefeld.

Demgegenüber scheinen sich in den Anfängen des 21. Jahrhunderts, zumindest vorläufig, eine pragmatische Gelassenheit und eine theoretische Souveränität zu verbreiten, die nicht auf Feindbilder und die Durchsetzung bestimmter Vorlieben fixiert sind. Sie haben ein Denken in den Kategorien von 'entweder - oder' hinter sich gelassen zugunsten eines 'sowohl - als auch', allerdings nicht im Sinne einer bloßen Addition unterschiedlicher Konzepte. Der neue Habitus ist nicht mit Gleichgültigkeit gegen über dem wissenschaftlichen Wert differenter Gegenstandsbestimmungen, Methoden, Fragestellungen oder Theorien zu verwechseln und auch nicht mit theoriemüden Abwendungen von ehemaligen Abstraktionsbemühungen und analytischen Kleinarbeiten.

Kennzeichnend für ihn ist nicht die Disqualifizierung der jüngeren Geschichte des eigenen Faches als Geschichte rasch vorübergehender, eigentlich überflüssiger oder sogar schädlicher Moden, sondern die Rekonstruktion, womit diese ,Moden' zur Modernisierung der Literaturwissenschaft beigetragen haben. Geprägt ist dieser Habitus durch eine Form der Beobachtung, Analyse und Theoriebildung, die unterschiedliche literaturwissenschaftliche Konzepte und Praktiken vergleicht, sie auf Unvereinbares oder Kompatibles hin abgleicht und ihnen einen bestimmten Stellenwert innerhalb eines integrativen Konzeptes zur umfassenden und angemessenen Auseinandersetzung mit allen Aspekten literarischer Kommunikation zuerkennt. Vielleicht trifft diese Einschätzung die Situation der Literaturwissenschaft im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts nur zum Teil. Die Beiträge zum "Handbuch Literaturwissenschaft" jedenfalls stehen ihm nahe.

Von den zahlreichen Einführungen in die Literaturwissenschaft, die in den letzten zehn Jahren erschienen sind und denen es manche Anregungen verdankt, unterscheidet sich das Handbuch durch den Anspruch, die fachlichen Grundlagen weit umfassender als diese zu präsentieren, von zum Teil vorzüglichen fachwissenschaftlichen Lexika durch seine Systematik der Darstellung. Band 1 ("Gegenstände und Grundbegriffe") informiert über alle Bestandteile literarischer Kommunikation: über Merkmale und Typen literarischer Texte, über die Instanz des Autors und des Lesers, über die Medialität von Literatur und die Institutionen der Literaturvermittlung, über diverse Kontextbereiche in Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft, über rechtliche und ökonomische Bedingungen sowie über Rhetorik, Poetik und Ästhetik. Band 2 ("Methoden und Theorien") handelt von der Editions- und Computerphilologie, der Analyse und Interpretation von Texten und einzelnen Textarten, der Literaturgeschichtsschreibung, von Theorien und Methoden der Literaturwissenschaft sowie von ihrer Beziehung zu kunst-, sozial- und naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Band 3 (Institutionen und Praxisfelder) schließlich informiert über die Geschichte der Literaturwissenschaft von der Antike bis zum 21. Jahrhundert, über gegenwärtige Institutionen und Berufsfelder sowie über das literaturwissenschaftliches Recherchieren, Schreiben und Publizieren. Er enthält darüber hinaus verschiedene Register und Verzeichnisse, die den Inhalt der insgesamt 1.500 Seiten detailliert erschließen.

66 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus verschiedenen Philologien, aus der Komparatistik und aus anderen Disziplinen haben an ihm mitgeschrieben. Sie sind alle einschlägig in den Forschungsfeldern, über die sie im Handbuch informieren, ausgewiesen. Neben dem Herausgeber, der selbst fünf Beiträge verfasst hat, sind das: Aleida Assmann, Christopher Balme, Moritz Baßler, Arnd Beise, Petra Boden, Andreas Böhn, Georg Braungart, Jörg von Brincken, Claude D. Conter, Holger Dainat, Lutz Danneberg, Heinrich Detering, Karl Eibl, Werner Faulstich, Harald Fricke, Daniel Fulda, Anja Gerigk, Lutz Hagestedt, Ralf Hertel, Torsten Hoffmann, Wolfgang Höppner, Martin Huber, Oliver Jahraus, Fotis Jannidis, Uwe Jochum, Heinrich Kaulen, Ralf Klausnitzer, Christian Klein, Tilmann Köppe, Dieter Lamping, Daniela Langer, Christine Lubkoll, Katja Mellmann, Urs Meyer, Reinhart Meyer-Kalkus, Elisabeth Michael, Sonja Mitze, York-Gothart Mix, Dorit Müller, Jan-Dirk Müller, Rüdiger Nutt-Kofoth, Claus-Michael Ort, Stephan Porombka, Karl Prümm, Katrin Richter, Ernst Rohmer, Gesine Lenore Schiewer, Wolf Schmid, Monika Schmitz-Emans, Jost Schneider, Erich Schön, Jörg Schönert, Margrit Schreier, Roberto Simanowski, Frank Simon-Ritz, Georg Stanitzek, Ingo Stöckmann, Jochen Strobel, Winfried Thielmann, Dietmar Till, Volker Titel, Konrad Umlauf, Thomas Wiemer, Simone Winko, Uwe Wirth, Rüdiger Zymner.

Zu dem Handbuch wurde unter der Adresse http://www.handbuch.literaturwissenschaft.de/ eine Web-Seite eingerichtet. Sie umfasst auch ein Forum, in dem jeder Beitrag kommentiert und debattiert werden kann.

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.


Titelbild

Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände - Konzepte - Institutionen. 3 Bände.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
1428 Seiten, 199,95 EUR.
ISBN-13: 9783476021540

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