Die Ehre des Mannes und die Beine der Frau

Seyran Ates erörtert, wie wir in Deutschland besser zusammenleben können

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mehr als 200 Jahre sind verstrichen, seit ein preußischer König, dem der Volksmund den Ehrenname "der Große" verlieh, versicherte, in seinem Reich könne jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden. Eine Freiheit, die nicht zufällig im Zeitalter der Aufklärung gewährt wurde, und deren sich die Menschen hierzulande bis zum heutigen Tag erfreuen dürfen. "[I]n Zeiten des politischen Islam", wie sie heutzutage herrschen, sei eine derartige laisser-fair-Haltung allerdings "verantwortungslos" geworden, erklärt nun eine in Sachen Islamismus nicht unbedeutende Stimme. Sie gehört Seyran Ates, in Deutschland neben Necla Kelek ("Die fremde Braut" 2005 und "Die verlorenen Söhne" 2006) eine der wichtigsten Kämpferinnen gegen Frauenunterdrückung im Namen des Islam.

Hat Ates in dem Buch "Große Reise ins Feuer" (2003) ihre persönlichen Erfahrungen mit der teils islamisch-religiös, teils traditionell, teils türkisch-nationalistisch begründeten Misogynie niedergeschrieben, die ihr nicht nur eine drohende Zwangsheirat einbrachten, sondern auch einen Steckschuss an der Halswirbelsäule, so setzt sie sich nun unter dem Titel "Der Multi-Kulti-Irrtum" nicht nur mit türkisch-islamischen Parallelgesellschaften in Deutschland und deren islamophilen VerharmloserInnen auseinander, sondern hält zugleich "ein leidenschaftliches Plädoyer für mehr Integration". Dem Buch ist auch das Wort gegen die - wie es in Ates' Buch heißt - "verantwortungslos[e]" "Forderung" entnommen, jeder solle "mit seiner Religion" glücklich werden.

Anders als der Titel vermuten lässt, richtet sich Ates' Plädoyer für "ein friedliches und respektvolles Zusammenleben, das auf Verbindlichkeit und Gegenseitigkeit basiert" nicht nur an die, wie die Autorin sie nennt, "Urdeutschen", sondern ebenso wohl an die "Deutschländer". Mit den beiden etwas gewöhnungsbedürftigen und vielleicht nicht ganz glücklich gewählten Begriffen bezeichnet sie Deutsche mit - wie es gemeinhin heißt - "Migrationshintergrund" (das sind die "Deutschländer") und alle anderen Deutschen (die "Urdeutschen"). Ganz exakt ist diese Trennungslinie natürlich nicht zu ziehen, so dürften etwa die inzwischen völlig assimilierten Nachkommen von ZwangsarbeiterInnen, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entschlossen, in Deutschland zu bleiben, von Ates wohl eher zu den Urdeutschen gerechnet werden. Dessen ungeachtet trägt die begriffliche Unterscheidung zumindest für das vorliegende Buch, denn nie ist man im Zweifel, welche Angehörige welcher Bevölkerungsgruppen jeweils gemeint sind, wenn von Urdeutschen und Deutschländern die Rede ist, wobei der Ausdruck "Deutschländer" sich implizit vor allem auf solche mit islamisch(-türkischem) Hintergrund bezieht.

Eine andere von Ates vorgenommene Differenzierung ist zwar weit klarer: diejenige zwischen "Anhängern der Idee der multikulturellen Gesellschaft", "Multikultis" und "Multikulti-Fanatikern", aber insofern nachrangig, als sie alle einem Irrtum, dem Multi-Kulti-Irrtum eben, anhängen. Denn wie Ates überzeugend zeigt, hat die gesellschaftliche Realität das Konzept einer multikulturellen Gesellschaft längst "überholt". Kulturen, so Ates, "vermischen sich" und bringen neue, "transkulturelle" Identitäten hervor, "die weitaus komplexer sind". Daher sei die Gesellschaft, die es zu entwickeln und zu befördern gelte, nicht als multi-, sondern als "transkulturell" zu bezeichnen.

Zudem habe sich die Multikulti-Ideologie, wie sie bisher gelebt wurde, anderen Kulturen gegenüber als gleichgültig und ignorant, mithin als "organisierte Verantwortungslosigkeit" erwiesen. Voraussetzung dafür, "auf einander zu[zu]gehen", sei aber gerade "[d]as Verständnis für die andere Kultur, Sprache und Religion".

Zwar richtet sich Ates' Plädoyer an alle Seiten, doch prangert sie weniger die Versäumnisse der Urdeutschen - seien sie nun AnhängerInnen oder GegnerInnen des Multikultirrtums - an, sondern die Demokratie-, Freiheits- und insbesondere Gleichberechtigungsdefizite der von islamischen Deutschländern (womit Ates' Begriffe für die Rezension übernommen sein sollen) auch hierzulande weiterhin gepflegten Traditionen. Es ist ihr Weg, den Multikulti-Glauben als Irrtum zu entlarven.

Im Zentrum der Integrationsdebatte stehen Ates zufolge aus gutem Grund das Frauenbild und das Geschlechterverhältnis, genauer gesagt, die mit Tradition und Religion begründete Frauenfeindlichkeit und -unterdrückung von Deutschländern. Denn "[g]enauso wenig, wie eine Demokratie funktionieren kann, wenn Frauen unterdrückt werden, kann Integration funktionieren, wenn Frauen ein gleichberechtigtes Leben versagt wird". Das Geschlechterverhältnis in den islamischen Parallelgesellschaften Deutschlands ist Ates zufolge vor allem durch den "extremen Herrschaftsanspruch gegenüber der weiblichen Sexualität" geprägt. Gleichgültig, ob es um das Kopftuchgebot, die Zwangsheirat, 'Ehren'morde oder um 'häusliche Gewalt' geht, "Dreh- und Angelpunkt" sei stets, "dass der muslimische Mann die Herrschaft über die Sexualität der Frau beansprucht", wie etwa die in der Türkei gängige Redensart "bei einer Frau darf der Stock auf dem Rücken und das Kind im Bauch niemals fehlen" deutlich macht.

Ähnlich wie in ihrem ersten Buch, geht die Anwältin und - wie sie sich selbst vermutlich nicht ohne Stolz, jedenfalls aber zurecht nennt - "westliche Feministin" auch diesmal zunächst weniger analytisch vor, sondern belegt ihre Befunde lieber anhand zahlreicher Beispiele aus ihrem Mandantinnen- und Bekanntenkreis. In den ersten Kapiteln nimmt sich die Autorin die genannten Menschen- und Frauenrechtsverletzungen der Reihe nach vor. Die gravierendste von allen ist zweifellos der 'Ehren'mord, denn sie ist für das Opfer tödlich. Nachvollziehbar und wohl auch nicht ganz verkehrt ist, dass Ates den Begriff im Sprachgebrauch der deutschen Gesetzgebung etabliert sehen möchte. Dass der Ausdruck allerdings, wie sie nachdrücklich betont, die "absolut richtige Bezeichnung" sei, weil es sich um "Morde im Namen der Ehre" handele, ist nicht ganz überzeugend. Denn Tat und Motive sind gerade nicht ehrenhaft, sondern im Gegenteil ganz und gar verächtlich. Der zweite Teil des Begriffs Ehrenmord bringt nun zwar Niederträchtigkeit und Verwerflichkeit der Tat angemessen zum Ausdruck, doch legt sein erster Teil (Ehre) das Missverständnis nahe, die Motive der Mörder seien immerhin ehrenhaft und daher, wenn schon nicht legitim, so doch irgendwie verständlich.

Im Grunde macht Ates Argumentation selbst deutlich, wieso der Begriff Ehrenmord mehr als nur bedenklich ist. Denn wie sie ganz zutreffend bemerkt, unterscheidet sich der "Ehrbegriff der Urdeutschen" grundlegend von dem der Deutschländer, und der türkische Begriff namus deckt sich keineswegs mit dem deutschen Begriff "Ehre". Mehr noch als dieser ist jener auf den Ruf in der jeweiligen Community ausgerichtet. Das Ates zufolge "in muslimischen Ländern verbreitete" Sprichwort "die Ehre des Mannes befindet sich zwischen den Beinen der Frau" legt sogar die Vermutung nahe, dass seine männlichen Anhänger keine (eigene) Ehre haben.

Um nun deutlich herauszuarbeiten, dass das Konzept des namus kein akzeptables Ehrkonzept ist, sondern dass im Gegenteil die denkbar niedrigsten aus Tradition und Religion gespeisten Beweggründe hinter den Morden stehen, ist es sinnvoll, den ersten Teil des Begriffs in Anführungszeichen zu setzen, und zwar nicht in doppelte, die den Wortteil "Ehre" nur als Zitat beziehungsweise dem Selbstverständnis der Mörder entsprechende Begrifflichkeit kennzeichnen würden, sondern in einfache, welche die Ablehnung des mörderischen Ehrkonzeptes signalisieren. Darum ist es - wie in diesem Text - vorzuziehen, von 'Ehren'mord zu schreiben. Das steht auch in Einklang damit, dass Ates' "in Bezug auf den Ehrbegriff" ausdrücklich zur Assimilation auffordert. Und natürlich erklärt sie selbst, dass es den 'ehren'mordenden Männer oft gar nicht um ihre wie auch immer verstandene Ehre zu tun ist, sondern es ihnen vielmehr darum geht, sich den Traditionen und Konventionen zu unterwerfen und vor allem darum, die sexuelle Macht über 'ihre' Frauen zu behalten.

Ebenfalls nicht unproblematisch ist die auch von Ates benutzte Wendung 'häusliche Gewalt', verschleiert sie doch die Geschlechterspezifik des Täter-/Opferverhältnisses: jene sind in aller Regel Männer, diese Frauen, wie auch eine von Ates als für türkisch(stämmig)e Familien "typisch" bezeichnete Situation verdeutlicht: "Die Großfamilie trifft sich, um zu verhindern, dass die Frau ihren Mann verlässt, und um das Ehepaar wieder zu versöhnen. Die Frau erklärt, dass sie die Schläge des Mannes nicht mehr aushalte. Sie wolle nicht mehr wie ein Hund behandelt und geprügelt werden. Daraufhin springt der Ehemann auf und schlägt auf seine Frau ein. Wie sie behaupten könne, dass er sie wie einen Hund behandelt und geprügelt habe. [...] die Frau bekommt [von den anderen Familienmitgliedern nun] zu hören, dass es ja wohl Unrecht gewesen sei, den Mann vor der ganzen Familie bloßzustellen. Sie habe ihn unnötig gereizt und den Gewaltausbruch provoziert."

Ein weiteres "massives gesellschaftliches Problem", dem Ates ein eigenes Kapitel widmet, ist die Zwangsheirat. Zwar erklärt sie, der Islam gestatte sie ebenso wenig wie "die anderen großen Weltreligionen". Das von ihr zitierte Koranwort "verheiratet diejenigen unter euch, die ledig sind" beinhaltet nun tatsächlich nicht die Erlaubnis, jemanden zu zwingen, eine bestimmte Person zu ehelichen. Doch immerhin schließt es nicht aus, jemanden zu zwingen, überhaupt zu heiraten. Mag vielleicht auch strittig bleiben, ob der Islam Zwangsheiraten nur begünstigt oder gar fordert. Jedenfalls hält Ates es zurecht für dringend erforderlich, das Zuwanderungsgesetz dahingehend zu korrigieren, dass es "zu Heiratszwecken in ein anderes Land verschleppten Personen" auch dann noch ermöglicht, nach Deutschland zurückzukehren, wenn sie sich schon länger als sechs Monate im Ausland befinden.Eine Forderung, die umso berechtigter ist, als diese (in aller Regel weiblichen) Menschen den Stichtag, der noch zur Rückkehr berechtigt, ja kaum freiwillig überschritten haben.

Dass gesetzliche Regelungen allein nicht ausreichen, um Zwangsverheiratungen zu verhindern, macht Ates ebenfalls deutlich. Über sie hinaus seien "Prävention und ein ausreichendes Angebot an Zufluchts- und Hilfseinrichtungen für akut Betroffene" unabdingbar. Aller "medienwirksam[en]" Klagen deutscher Politiker ungeachtet, bekommen die Frauenhäuser bundesweit jedoch die zur Aufrechterhaltung ihrer Arbeit notwendigen Gelder nicht etwa aufgestockt, sondern ganz im Gegenteil gestrichen. So weist Ates darauf hin, dass eben dies dem in Nordrhein-Westfahlen gelegenen Mädchenhaus "Rabea" widerfahren ist. Bis ins Jahr 2006 bot es zwangsverheirateten Frauen und Mädchen Zuflucht. Heute existiert es schon nicht mehr.

Nach diesen ersten Abschnitten veranschaulicht Ates die Irrtümer der Multikulti-Ideologie nicht mehr so sehr anhand von Beispielen aus den deutschen Parallelgesellschaften, sondern argumentiert grundsätzlicher, etwa gegen das Kopftuch, für sie "ein Symbol dafür, dass Integration nicht gewollt ist", oder gegen die in der "muslimische[n] Welt" seit dem 7. Jahrhundert unveränderte Einstellung zur Sexualität, die einerseits "extrem sexualfeindlich" ist, andererseits "hochgradig sexualisiert". "Jeder Versuch, Liebe, Erotik und Genuss mit Sexualität in Verbindung zu bringen" wird Ates zufolge "voller Verachtung abgelehnt". Von der gerne behaupteten "positive Haltung zur Sexualität" des Islams und dessen angeblicher Forderung "auf die sexuellen Bedürfnisse der Frau Rücksicht zu nehmen", könne sie jedenfalls "nichts entdecken". Wobei selbst diese Forderung noch sexistisch genug wäre, liegt doch die Vorstellung einer selbstbestimmten weiblichen Sexualität weit jenseits ihres Horizontes.

Gegen Ende ihres Buches wendet sich Ates den in Deutschland tätigen islamischen Organisation und deren "bizarre[n] Vorstellungen zur Rolle der Frau" zu. Außerdem moniert sie, dass sich der Islam gegenüber den anderen Religionen hierzulande einer "unüberlegte[n] und kritiklose[n] Bevorzugung" erfreuen kann und seine Verbände "vom Staat mit Vorschusslorbeeren bedacht" werden. Besonders verärgert zeigt sie sich über Vorschläge, muslimische Feiertage gesetzlich zu verankern, wie sie etwa des Grünen-Politikers Christian Ströbele als Reaktion auf den angesichts des gegen die Mohamed-Karrikaturen in etlichen Ländern tobenden islamischen Mob ventilierte. Solche Versuche, den Zorn muslimischer Fanatiker zu besänftigen, sind seien ein "Kniefall und vorauseilende[r] Gehorsam gegenüber religiösem Fundamentalismus".

"Warum", so fragt Ates, "gibt es eigentlich noch keinen gesetzlichen jüdischen Feiertag in Deutschland?" Eine sehr berechtigte Frage! Und "[w]äre es nicht längst überfällig, dass wir wöchentlich einen Rabbiner oder eine Rabbinerin für einige Minuten im Fernsehen sehen"? Dann sei es auch unproblematisch, wenn "der Islam" ebenfalls "einen Platz in den Medien" erhielte. Nicht allerdings der "orthodoxe Islam", der "eindeutig demokratiefeindliche und in einzelnen Moscheegemeinden sektenähnliche Strukturen" aufweise. Auch müsse sich der Islam "seiner politischen Dimension entledigen". Und überhaupt sollten "Muslime, die sich eine islamische Gesellschaftsordnung wünschen, wenn auch 'nur' für ihre Parallelgesellschaft, Deutschland bzw. Europa besser verlassen und in ein islamischen Land ziehen".

Bei aller Kritik am orthodoxen Islam und seinen Vertretern hat Ates sich - anders etwa als Ayaan Hirsi Ali - allerdings durchaus nicht von ihrer Religion abgewandt, sondern legt vielmehr nachdrücklich Wert auf die Feststellung, dass sie eine gläubige Muslima ist. Doch sei ihr Islam friedlich, er toleriere andere Menschen und kenne Nächstenliebe. "In meinem Islam gibt es keine Geschlechtertrennung. Diese alte patriarchalische Struktur und Tradition ist in meinem Islam abgeschafft." Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, dass Ates nicht etwa vorgibt, damit den 'wahren' Islam zu vertreten, sondern in der ersten Person Singular, mithin nur für sich selbst spricht, womit sie nicht nur deutlich macht, dass sie in dieser Frage keine Deutungshoheit beansprucht, sondern dass Religion keine öffentliche, sondern eine Privatangelegenheit ist.

Eine grundsätzliche Religionskritik darf von ihrem Buch nicht erwartet werden. Im Gegenteil: Die in Deutschland ja nicht eben kleine Gruppe von AtheistInnen wird durch Verschweigen fast schon diskriminiert. So erklärt Ates beispielsweise: "Die Rechte und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland gelten in gleicher Weise für alle Menschen, seien es nun Christen, Juden oder Muslime." Und an anderer Stelle: "Unter Feministinnen besteht Konsens, dass die Auffassung von der naturgegebenen Unterlegenheit der Frau abzulehnen sei, egal welcher Religion sie entstammen." AtheistInnen derart zu übergehen, ist allerdings keineswegs eine besondere Eigenheit des vorliegenden Buches. Vielmehr handelt es sich um ein (nicht nur) in der Multi-Kulti-Diskussion durchaus übliches Vorgehen.


Titelbild

Seyran Ates: Der Multikulti-Irrtum.
Ullstein Verlag, Berlin 2007.
282 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783550086946

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