Überbordende Erzähllust

Ernst Augustins frühes Meisterwerk "Mamma", neu aufgelegt als "Schönes Abendland"

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist eine Drängelei: Wer kommt zuerst? Stani, Kulle oder Beffchen? Die Brüder Niemann sind "alle drei in höchsten Stellungen", ein Kaufmann, ein General, ein Arzt. Diese drei erzählen ihr Leben, das richtig erfolgreich ist, bis auf die Drängelei am Anfang, als die Drillinge geboren werden. Der Kaufmann Stani wird reich, indem er alle anderen austrickst, schon als Kind. Der Offizier Kulle steigt auf, indem er, intellektuell eher minderbegabt, nach oben buckelt und nach unten tritt. Der Arzt Beffchen wird erfolgreich, weil er fleißig ist und selbst vor Operationen nicht zurückschreckt, von denen er nichts versteht. Aber eigentlich machen sie das nur, um ihrer Mutter zu imponieren.

Drei ganz einfache Lebensläufe erzählt der Psychiater Ernst Augustin in seinem Roman "Schönes Abendland", einer überarbeiteten Neuauflage seines frühen Buches "Mamma". Aber bei Augustin ist eben nichts einfach, und schon gar nicht ist es so, wie seine Figuren es erzählen. Nicht einmal dem Erzähler selbst kann man trauen. Denn hat Stani den späteren General Kulle nicht bereits als Kind in der Jauchegrube ersticken lassen? Und hat Beffchen als Schulkind nicht schon einen anderen Jungen durch seine Operationskünste ermordet? "Gegen neun stirbt mein Patient. Er hat ausgearbeitet, sein Herz steht still, da ist nun nichts mehr zu wollen." So erzählt er, aber ist das die Wahrheit?

Es ist gar nicht so wichtig, was wahr und was richtig ist in den Romanen Augustins. Wichtig ist die überbordende Erzähllust, die vielfach verschlungene Suche nach der Wahrheit, die vorurteilsfreie, aber doch auch immer ein wenig spöttische, liebevolle Betrachtung aller Spielarten menschlichen Verhaltens. Was der Mensch sei, ist viel eher die Frage, der man nachgehen kann. Und man versteht, bei allen Verschlingungen und allem Spaß an der ausufernden Fabel dieses wunderbar fabulierlustigen Buchs, dass eben einfach alles möglich ist. Auf vielen Sprachebenen jongliert Augustin mit seinen Figuren, lässt sie ihre Geschichten erfinden und berichten, spielt mit ihnen die komplizierte Dramaturgie durch, lässt sie als Kinder und Erwachsenen im Ich-Ton erzählen und pfuscht ihnen immer wieder ins unglaubwürdige Handwerk.

Augustin hat einen unverwechselbaren Ton, den man schon auf den ersten Seiten erkennt: zielsicher taumelnd zwischen Groteske, Einfalt und Unverschämtheit, wechselnd zwischen den unterschiedlichsten Sprachebenen, sprachlich musikalisch und sicher, mit Einfällen um sich werfend, aus denen andere Autoren einen ganzen Roman machen müssten, und vor allem sehr leichthändig und gleichzeitig tiefsinnig. Ein leider nicht genug beachteter großer Meister der Sprache.


Titelbild

Ernst Augustin: Schönes Abendland.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
439 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783406563713

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