Dichtung ist redende Malerei

Larissa Boehning webt "Lichte Stoffe", besiegt den Zufall und vereinigt die Künste

Von Ingrid WurstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ingrid Wurst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Verhältnis zwischen den Künsten hat die Kulturgeschichte seit der Antike beschäftigt. Immer wieder mussten Literatur und Malerei sich aneinander messen lassen, wurde gefragt, ob es sich bei ihnen um untrennbare Schwestern oder unversöhnliche Konkurentinnen handele. Die Kulturwissenschaften stellen diese Frage heute neu und untersuchen die verschiedenen Medien bevorzugt in ihrer Hybridität, das heißt in ihrer Verschränkung unterschiedlicher Repräsentationsformen.

Eigengesetzlichkeit und Schnittmengen literarischer und visueller Künste sind Gegenstand zahlreicher zeitgenössischer Formexperimente, unter die auch Larissa Boehnings Debütroman "Lichte Stoffe" einzureihen ist, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2007 stand. Boehning hat Kunstgeschichte, Philosophie und Kulturwissenschaft studiert, und das ist ihrem ambitionierten Werk anzumerken. Vordergründig liest sich der Text als Familienroman: Nele, eine junge Frau Anfang dreißig, erhält Tonbänder ihrer Großmutter und wird so in ein lange gehütetes Familiengeheimnis eingeweiht, das sich nicht nur um ein wertvolles Gemälde rankt, sondern auch die Frage nach Neles Herkunft betrifft. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Großmutter eine kurze Liebschaft mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten, aus der eine Tochter hervorging - Neles Mutter. Der Soldat verschwand noch vor der Geburt seiner Tochter. Nele jedoch, die Enkeltochter, macht sich auf die Suche nach diesem Großvater und dem geheimnisvollen Gemälde, das so eng mit ihrer Familiengeschichte verwoben ist.

Diese eher konventionell anmutende Geschichte einer jungen Frau, die sich daran macht, ihre Familiengeschichte zu ergründen, dient Boehning jedoch nur als Gerüst für ein Projekt, in dem Literatur, Malerei und Leben zur Deckung kommen sollen. Vom ersten Kapitel an zeichnet sich eine Wiederholungsstruktur ab, in der ein begrenztes Repertoire an Motiven nach und nach auf sämtliche Figuren und Situationen angewandt wird: Der Filz der Hüte, an denen Neles Großmutter arbeitete, kehrt wieder im nach Filz riechenden Haus von Neles Eltern, im filzigen Pelz einer Katze und im filzigen Haar des Großvaters. Filz und Wolle, aber auch leichte, durchscheinende Textilien bilden ebenso zentrale Bestandteile jeder Szenerie wie das Licht. Dieses scheint durch die Vorhänge der Häuser, strukturiert im Wechsel mit dem Schatten Räume und holt, wo nötig, längst verdrängte Erinnerungsbilder an die Oberfläche zurück.

Das Licht und die Stoffe, die der Titel vereint, ziehen sich so leitmotivisch durch den gesamten Text. Einen Hinweis, dass es hierbei auch um die basalen Bestandteile der Malerei geht, gibt bereits die erste Szene: Nele wird in ein Gespräch über Bilder verwickelt, deren einzigartige Wirkung auch auf dem Umgang mit Licht basiert; es geht um William Turner, Jan Vermeer und Edward Hopper. Schließlich, als absolute Negation des Lichts wird später Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat heraufbeschworen, in Form eines Fensterrahmens, in dem sich der schwarze Nachthimmel abzeichnet oder in Form jenes dunklen quadratischen Ausschnitts, vor dem die Kegel einer Bowlingbahn stehen. Das Motiv der Malerei als Verbindung von Licht und Stoff erscheint so auch dort, wo es nicht explizit um Gemälde geht.

Die Suche nach jenem mysteriösen Gemälde aber, das der Großvater einst der Großmutter schenkte, und das sich als echter Degas entpuppt, wird gespiegelt in der Suche eines Nachbarn nach den Gemälden seines Vaters. Dieser hatte das gleiche Bild immer und immer wieder gemalt: Unterwasserszenen, in denen Licht durchs Wasser fällt. In seiner Methode, aus den gleichen Grundmotiven (Licht und Wasser) eine unendliche Reihe von Variationen zu schaffen, findet diese Vaterfigur zwei Gleichgesinnte- das selbe Bedürfnis wird auch Degas nachgesagt: "Ich bewundere seinen Perfektionsdrang. Sich ein Leben lang dem gleichen Thema widmen. Immer aufs neue. Um vielleicht irgendwann einmal einen Zipfel Einsicht, eine Erkenntnis zu ergattern." Das Gleiche ließe sich aber ebenso von Boehnings Roman sagen: Er ist gekennzeichnet durch einen Perfektionsdrang, der die gleichen Motive immer aufs neue variiert, um so ein Gewebe aus Beziehungen zu schaffen, das der Dichte und Intensität eines Gemäldes gleichzukommen sucht. Boehnings Projekt besteht darin, ein erzählerisches tableau zu schaffen, in dem die Struktur des Textes eine ideale Einheit bildet mit dem, wovon sie erzählt. Weniger eine sukzessive Abfolge von Ereignissen wird dargestellt, als eine Simultanität des zeitlich und räumlich weit Auseinanderliegenden. Ein Text soll so erzeugt werden, der nicht nur eine sehr bildhafte Sprache verwendet und auf vielfältige Weise von Bildern handelt, sondern der selbst zum Bild wird.

Dieses allzu konsequent und schematisch durchgeführte Verfahren geht zu Lasten des sprachlichen und erzählerischen Reichtums. Auf schicksalhafte Weise sind alle Figuren miteinander verbunden. Nicht nur agieren sie mit den gleichen Dingen (Stoffe, Licht), sie benutzen auch die gleichen Ausdrücke ("vom Himmel fallen" für das Abstürzen eines Flugzeugs), lachen auf die gleiche Weise ("sardonisch"), oder leiden gleichermaßen unter einem Gefühl des Schwindels. Alles scheint auf geheimnisvolle Weise miteinander zusammenzuhängen. Im Leben wie in der Kunst nämlich geht es um das "Schließen der Nähte", um das Verbinden von Stoffen und das Zusammenfügen des Getrennten - die allesamt nähenden Frauenfiguren führen das ebenso vor, wie der Text selbst. Zufälle existieren hier nicht, oder wenn, dann als "Wiederkehr von etwas, das lange zurück liegt."

So ist es auch nicht zufällig eine Familiengeschichte, an der der Zusammenhang der verschiedenen Bedeutungsebenen des "Stoffs" als Textilie, als künstlerischer Stoff und als Material der Malerei (Leinwand) vorgeführt wird. Über ihre Abschlussarbeit sagt Nele, die Kunstgeschichte und Modedesign studiert hat: "Ich wollte einen Stoff finden, der den Übergang erfahrbar macht, etwas Osmotisches, das wir durchdringen können. Eine Annäherung an die Erinnerung, ähnlich dem geschriebenen Wort, eine Textur eben." Wie schon zuvor in dem Bild eines Pullovers, "dessen Kragen wie ein aufgeschlagenes Buch" wirkt, wird hier auf die etymologische Bedeutung des Wortes "Text" als Textur, als Gewebe, angespielt. Zugleich wird der Stoff als Textilie und als literarischer Stoff in eine Verbindung zur Erinnerung gebracht, die das Kernmotiv der Familiengeschichte ausmacht.

In der Begegnung Neles mit dem Großvater werden sämtliche Fäden noch einmal zusammengeführt: Der Großvater leidet an einer Schwindel erzeugenden Krankheit, die ihn dazu zwingt, auf einen einzigen Punkt zu starren, um fokussieren zu können. Dieser Punkt, als gemalter schwarzer Punkt auf einem Stück Papier vor ihm hängend, bildet gleichsam die Zentralperspektive, auf die alles zuläuft. In ihrer Begegnung muss Nele sich so still vor diesen Punkt setzen, als würde sie porträtiert. Sie wird zum Fluchtpunkt der Familiengeschichte. Und nicht ohne Grund ist der junge Mann, der die Begegnung zwischen Nele und ihrem Großvater ermöglicht, mit seinen Tätowierungen ein lebendes Gemälde. Der Großvater hingegen mit seinen von "eingeschnitzten Falten" durchzogenen Handtellern ist zur Skulptur geworden.

Am Ende heißt es über Nele: "Ich bin, sagte sie zu sich, in einer Fläche, die es nur gibt, weil jemand Linien zueinander in Beziehung gesetzt hat. Ich bin einsortiert in eine Zentralperspektive. [...] Vielleicht, dachte Nele dann, geht es nicht mehr um den Stoff, sondern nur um die Nähte." Identität bildet sich in der Verknüpfung der Linien und Dinge, in der Narration. Diese Reflexion der Funktion des Erzählens bildet den Schlüssel zu Boehnings literarischem Verfahren. Ihr Roman offenbart seine Gemachtheit und stellt damit die Erkenntnis aus, dass die künstlerisch-verdichtende Narration, auch die malerische, immer eine Konstruktion bedeutet, eine Überführung der Kontingenz der Ereignisse in die Sinnhaftigkeit der Erzählung. Der Versuch, die Dinge zueinander in Beziehung zu setzen, wirkt jedoch oft bemüht und führt zu mitunter schiefen Bildern, beispielsweise wenn ein Mann wirkt, wie von einem Kubisten gemalt, zugleich aber, in völligem Widerspruch zu den scharf gezogenen Linien und Flächen des Kubismus, als sei er aus Mohair. Auch wenn Nele überlegt, welche "filzgrauen" Schatten an ihr haften, scheint die Verbindung von Licht (beziehungsweise dessen Abwesenheit) und dem Filzstoff allzu weit hergeholt.

In seinen durchschaubaren Mustern und Strukturen ist der Roman selbst ein lichter Stoff. Die Figuren haben voreinander Geheimnisse, manche davon nehmen sie mit ins Grab. Der Text jedoch ist ohne Geheimnis - wäre da nicht die Frage, in welcher Sprache die zwischen den USA und Deutschland angesiedelten Figuren eigentlich sprechen. Ein Wortspiel zwischen Nele und ihrem Sitznachbarn im Flugzeug ergibt nur Sinn, wenn sie englisch sprechen (ihr Nachname "Niebuhr" und "neighbour"), ein anderes nur, wenn sie deutsch sprechen ("Vermeer" - "Meer"). Auch, dass die Großmutter ebensowenig englisch spricht, wie der Großvater deutsch, gibt das ungelöste Rätsel auf, wie er ihr so eloquent und detailliert die Geschichte des Degas-Gemäldes erzählen konnte. Dieses Problem der Zweisprachigkeit gipfelt schließlich in einer Figur, die völlig unsinnigerweise sagt: "Thank God, it's sunday. Und ich bin hier und nicht in Sidney, Ohio." Beide Sätze spricht sie als Amerikanerin natürlich auf englisch. Warum aber der eine Satz "übersetzt" wird, der andere jedoch nicht, bleibt, wie die Frage nach der Verständigung zwischen den Großeltern, dann doch noch ein letztes Geheimnis.


Titelbild

Larissa Boehning: Lichte Stoffe. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
325 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783821857961

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