Frühneuzeitliche Wissensgeschichte

Wilhelm Schmidt-Biggemanns Aufsatzsammlung über Theologie und Philologie als Grundlagenwissenschaften in der Frühen Neuzeit

Von Gideon StieningRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gideon Stiening

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was Wissensgeschichte sei, scheint gegenwärtig jeder zu wissen. Vor allem Literaturwissenschaftler bedienen diese Konjunktur einer zumeist auf Michel Foucaults Wissensbegriff zurückgreifenden Denk-, Vorstellungs- und Mentalitätsgeschichte, ohne zu erklären, was denn das Wissen sei, über das sie Geschichte schreiben wollen. Ganze 'Poetologien des Wissens' werden in solchen unklaren Zusammenhängen entworfen. Da kann es der Wahrheitsfindung nur dienen, wenn man sich bei den professionellen Vertretern der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte umschaut, zumal jenen, die ihre literaturgeschichtliche Kompetenz nicht verhehlen.

Der Berliner Philosoph Wilhelm Schmidt-Biggemann hat jetzt eine Sammlung von Aufsätzen veröffentlicht, die mit Recht den Anspruch erheben, "die Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit exemplarisch vorzustellen." Und um es vorwegzunehmen: Gegen die modischen Trends unbestimmt abstrakter Wissenspoetologien kann Schmidt-Biggemann präzise die Leistungen und Grenzen einer Wissensgeschichte und deren Konturen für die Frühe Neuzeit nachzeichnen. Wie vor ihm (und auch ganz anders) der Jenaer Wissenschaftshistoriker Olaf Breidbach für die Goethezeit, so bestimmt Schmidt-Biggemann an der Frühen Neuzeit die Systematik und die Methodologie von 'Wissensgeschichte' in einer Weise, die Anschlüsse ermöglicht.

In drei Teilen wird nach einer programmatischen Einleitung anhand der beiden für die Frühe Neuzeit zentralen und charakteristischen Disziplinen, der Theologie und der Philologie, Wissensgeschichtsschreibung realisiert. Schmidt-Biggemann bedient sich methodisch hierbei der intellektuellen Biografie ebenso wie der Darstellung übergreifender problemgeschichtlicher Zusammenhänge. Dabei zeigt sich, dass eine heilsgeschichtliche Philosophia perennis und damit die Theologie das systematische Zentrum frühneuzeitlichen Wissens ausmachte und den Rahmen vorgab, dessen philologische und historisierende Auflösung als wissensgeschichtliches Ende der Frühen Neuzeit zu interpretieren ist.

Im ersten Teil, "Philologie und Hermeneutik im Zeitalter der Konfessionalisierung", zeigt Schmidt-Biggemann, dass schon bei Erasmus Textphilologie und Bibelhermeneutik eine folgenreiche Liaison dangereuse eingingen. Zwar konnten philologische Instrumentarien genutzt werden, um die Autorität kirchlicher Bibelauslegung zu legitimieren und zu stärken, wie dies im herausragenden Kapitel über die Kontroverstheologie Robert Bellarmins vorgeführt wird. Ebenso wirksam wurde die Philologie jedoch auch zum Werkzeug antidogmatischer Kritik, die unter anderem in die unterschiedlichen Begründungen antitrinitarischer Theologien mündete.

In einem aufregenden Parforceritt durch das 16. und 17. Jahrhundert belegt Schmidt-Biggemann die philologische Akribie und systematische Brillanz des zunehmend wirksamen Antitrinitarismus von Michel Servet über Fausto Sozzini bis zum genialischen Christoph Sandius. Die letztlich scheiternden Versuche der Restitution eines patristisch fundierten Trinitarismus führten zu den Entwürfen von natürlicher Theologie und aufgeklärtem Deismus. Die Anschaulichkeit in der Darstellung der einzelnen Positionen in Kombination mit der systematischen Stringenz in der Entfaltung von Jahrhunderte überspannender denkgeschichtlicher Traditionen bietet einen klaren Blick auf die Leistungsfähigkeit dieser Wissensgeschichte.

Im zweiten Teil, "Politische Theologie im Zeichen der Apokalyptik", bilden die intellektuellen Biografien der Gelehrten und Prediger Johann Heinrich Alsted, Johann Amos Comenius und Quirinus Kuhlmann die Grundlage für eine ausführliche Darstellung der unmittelbar politischen Intentionen theologischer Theoriebildung im 17. Jahrhundert. So kann für Alsted gezeigt werden, dass sein Konzept von Enzyklopädie zwar an Petrus Ramus geschult war und diesen metaphysisch fundierte, zugleich aber den Vorstellungen von Millenarismus, die Alsted prominent entwickelte, nicht eben äußerlich blieben. Im Gegenteil war nicht nur das Ordnungswissen der Enzyklopädie als Rekonstruktion der Ordnungen der Gedanken Gottes theologisch fundiert, auch die Thesen vom baldigen Beginn des tausendjährigen Reiches wurden mit den Instrumenten der Gelehrsamkeit umständlich verifiziert. Im Rahmen dieses frühneuzeitlichen Wissenskonzeptes ist "die Theologie eingeordnet in ein Gesamtkonzept des Wissens, das die Grenzen der menschlichen Intellektualität ausschöpfen will, in eine enzyklopädische Scientia omnium scibilium."

Dass solcherart wissensgestützte politische Theologie auch die Gelehrtenstuben verlassen konnte, zeigt Schmidt-Biggemann an der abenteuerlichen Vita des sich als Propheten in der Nachfolge Jacob Böhmes begreifenden Quirinus Kuhlmann: Dessen durch ganz Europa führender Lebenslauf war dadurch bestimmt - und schließlich auch begrenzt - , dass er auf der Grundlage seines prophetischen Selbstverständnisses einen fanatischen Anti-Katholizismus ausbildete. Politisch realisierte sich diese Haltung, die von der Erlösung nach der Vernichtung Roms und Habsburgs überzeugt war, in den Versuchen, zwischen dem Protestantismus und dem osmanischen beziehungsweise dem russischen Reich Koalitionen anzubahnen. In Moskau wurden diese Versuche, die zugleich Bekehrungsversuche des Sultans und des Zaren beinhalteten, so ernst genommen, dass man Kuhlmann auf den Scheiterhaufen schickte.

Nach diesen Schilderungen geht Schmidt-Biggemann im dritten Teil seiner Studie, "Wissensordnungen im Umbruch", zur Darstellung jener Wissenschaftsbereiche und deren Entwicklungen über, die das Ende der Frühen Neuzeit aus ihr selbst heraus bewirkten. Im Zentrum stehen hier die Topik, die Enzyklopädik und Giambattista Vicos Geschichtstheorie, die als Scienza Nuova der Philosophia perennis behutsam, doch unaufhaltsam den Garaus machte. In Anschaulichkeit und Präzision Standard setzend sind zunächst die Kapitel über frühneuzeitliche Topik und Enzyklopädie, die jedem Anfänger in der Frühneuzeitforschung als Einführung empfohlen seien. Als letzten Vertreter der Philosophia perennis, die Schmidt-Biggemann schon in einer monumentalen Studie als maßgebliches Wissenschaftskonzept zwischen Spätantike und Aufklärung herausarbeitete und die in der Geltung der in sich differenzierten Einheit von Monotheismus, Schöpfungstheologie und Heilsgeschichte eindruckvoll erläutert wird, interpretiert er - nicht ohne Wagnis - Gottfried Wilhelm Leibniz. Vor allem aber wird Vicos Denkentwicklung von der Grundlegung in einer theologisch fundierten Renaissancephilosophie zu einem Geschichtskonzept 'rekonstruiert', das in der Historisierung der Heilsgeschichte die "Grundkonzepte der Philosophiae perennis destruiert". Unübersehbar entfaltet Schmidt-Biggemann in diesen Passagen eine gegenüber dem Mainstream der Ideen- und Philosophiegeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit alternative Konzeption, die - statt den Anbruch der säkularen Aufklärung mit Leistungen auf den Gebieten der erkenntnistheoretischen oder naturrechtlichen Philosophie, mithin mit Descartes und Hobbes, anzusetzen - den radikalen Bruch mit dem theologisch fundierten Weltbild der Vormoderne in der Entstehung des Gedankens reiner, heilsgeschichtlich indifferenter Historizität annimmt, also mit Vico, Adam Fergusson und Johann Gottfried Herder.

In einem abschließenden Kapitel liefert der Autor eine geschichtsphilosophische Betrachtung, die die methodologischen Grundlegungen des eigenen Tuns reflektiert und sich zu einem fulminanten Plädoyer für eine narrative Geschichtsphilosophie steigert. Weil der Berliner Philosoph davon überzeugt ist, dass Rationalität und Historizität, Vernunft und Geschichte sich gegenseitig ausschließen, ist Zeitlichkeit nur mehr als Erzählung einzuholen. Geschichte - so Schmidt-Biggemann - lässt sich als Chronologie von unverfügbaren, weil individuellen Ereignissen nur über das Erzählen erfassen. Und diese Zurückweisung rationaler Rekonstruierbarkeit von Geschichte gilt ausdrücklich auch für die Philosophiegeschichtsschreibung. Schmidt-Biggemann begründet mit diesem antirationalistischen, am isolierten Ereignis orientierten Geschichtsbegriff seinen Rückgriff auf die Methode der intellektuellen Biografie, ein methodisches Konzept, das man mit Carl Dahlhaus oder Kurt Flasch auch anders begründen kann.

Schmidt-Biggemanns empiristische Geschichtskonzeption führt aber - weil Historizität nicht auf pure Chronologie reduziert werden kann und soll - zu einer letztlich theologischen Begründungstheorie: "Ich vermute deshalb, es gibt keinen Begriff von radikaler Geschichtlichkeit der Welt ohne theologische Begrifflichkeit." Das mag man bestreiten. Zum endgültigen Beweis dieser nicht nur brillant formulierten, sondern auch präzise entwickelten Vermutung müssten allerdings - zumindest für den Bereich der Philosophiegeschichte - zunächst die alternativen Vermittlungen von System und Geschichte die zwischen Kant und Hegel entwickelt wurden, widerlegt werden. Deren Vorzug bestand ja gerade darin, den historischen Prozess selbst als Moment der geschichtlich gedachten Vernunft zu begreifen und so Rationalität und Historizität nicht mehr abstrakt entgegensetzen zu müssen. Wie auch immer diese sich aufdrängende weitere Auseinandersetzung ausfallen mag, an Schmidt-Biggemanns Buch lässt sich frühneuzeitliche Wissensgeschichte in einer Weise studieren und nachvollziehen, die über die Grenzen des Faches hinausweisen.


Titelbild

Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit.
Herausgegeben von Anja Hallacker und Boris Bayer.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006.
388 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3899713133

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