Gesamtdeutsche Schizophrenie

In Nicki Pawlows Roman "Die Frau in der Streichholzschachtel" bleibt politisches Wissen unter Lovestory-Klischees verborgen

Von Nicole SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicole Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Autorin ist nicht nur in Thüringen aufgewachsen und 1977 über die Grenze in den Westen Deutschlands geflohen, sondern hat auch noch Politikwissenschaft, Slawistik und Neuere Geschichte studiert. Darüber hinaus war Nicki Pawlow Pressesprecherin in der Politik, Journalistin, Geschäftsführerin, Redakteurin, Moderatorin und Drehbuchautorin. Sie verfügt also zweifelsohne über das Erfahrungswissen und auch das theoretische Fundament, das ein guter Nachwende-Roman braucht.

Wenn es in diesem Buch nur um die Arbeit der Hauptfigur Franziska Kling als Pressereferentin der TREUHAND ginge, wäre "Die Frau in der Streichholzschachtel" ein gelungener Roman geworden, der das so viele Male mit gleicher Färbung aufbereitete Thema der Wende aus neuer Perspektive beleuchtet und damit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der ersten Wirren nach dem Fall der Mauer leistet.

Doch aus irgendeinem Grund hat Frau Pawlow beschlossen, einen Liebesroman zu schreiben. Sie lässt die junge Treuhandmitarbeiterin Franziska eine verrückte Beziehung zu einem alten, von ihr seit Jahren verehrten politischen Journalisten eingehen. Zu Anfang wirkt das noch wie eine nette Geschichte um die Interessenkonflikte und moralischen Nöte der bei der TREUHAND beschäftigten Menschen. Doch mehr und mehr gerät die Handlung in ein Ungleichgewicht. Der jeden Tag zu Dutzenden in den Zimmern und auf den Gängen der "Anstalt" verhandelte Ausverkauf der sozialistischen Betriebe, die berührenden Einzelschicksale wie das einer Brotfabrik in Merseburg, der Druck, durch die richtigen Entscheidungen manche Betriebe und Arbeitsplätze zu retten, dafür jedoch Tausenden ihren Broterwerb zu nehmen, die Demonstrationen vor dem Gebäude der TREUHAND, die stillschweigende "Entfernung" ehemaliger IMs - all diese wirklich differenziert und anschaulich geschilderten Dinge sind schließlich nur noch der Hintergrund für eine langweilige Liebesgeschichte.

Für die Gewichtung der sonderbaren Affäre bleiben die beiden beteiligten Figuren zu blass. Der alkoholkranke, verheiratete Mann, der einst Franziskas unerreichbares Idol war, bleibt auch im Verlauf der Geschichte für sie unerreichbar. Er verspricht ihr nichts, er erfüllt ihre sexuellen Hoffnungen kein einziges Mal und verhält sich abwechselnd zutraulich und abweisend. Und doch bleibt Franziska voller Liebe und Leidenschaft für ihn, und die Autorin schildert ein ereignisloses Treffen nach dem anderen minutiös und mit seitenlangen Dialogen.

Das alles könnte ja sogar noch interessant sein, wenn dabei auch klar werden würde, warum sich die beruflich so eingespannte, selbstbewusste und leistungsfähige Franziska diesbezüglich wie ein kleines, dummes Mädchen verhält. Doch ohne eine ausführliche psychologische Charakterisierung bleibt nicht nur die Geschichte langweilig und unglaubwürdig, sondern auch die Figur selbst wird durch ihre unterwürfige Naivität dem arroganten, ichbezogenen Vater-Mann gegenüber unsympathisch.

Und so fragt sich der Leser etwa ab der Hälfte des Buches, wann denn die Hauptfigur endlich, endlich kapieren möge, dass sie ihr Herz und ihren "feuchten Schoß" an einen Volltrottel verschwendet. Mehr gelangweilt als mitgerissen auf der letzten Seite angekommen, taucht dann die Frage auf, warum uns die Autorin eine so schizophrene Hauptfigur vorgestellt hat. War es überhaupt Absicht? Kümmert es Nicki Pawlow gar nicht, wenn Dinge nicht zusammenpassen und der Charakter dadurch unglaubwürdig erscheint? Bei genauerem Hinsehen benutzt sie zwei verschiedene Sprachen, zwei verschiedene Stile, ja, sie spielt in zwei verschiedenen Ligen: Erste Liga bei allem, was mit der Arbeit bei der TREUHAND zu tun hat. Da sind die Charaktere nicht überzogen gezeichnet, egal ob Büro-Nachbarin oder Chef - da sind die Schilderungen anschaulich und flüssig, die Dialoge packend. Es geht um politische Themen, die zu einem stimmigen Gesamtbild der Umbruchzeit zusammengeführt werden. Doch die Liebesgeschichte, eher eine Lovestory der Groschenroman-Art, ist einfach unterste Liga. Da stimmen weder die glanzlosen Figuren - sei es der Ex-Freund oder die beste Freundin - noch die Stimmungsbeschreibungen. Die Dialoge wirken hölzern und sinnlos. "Will er mich etwa ...? ... Warum eigentlich nicht? Würdest du ...? Nein, nein, das wäre nicht gut. So leicht bist du nicht zu haben. Am besten Unterwäsche anziehen, die total unsexy ist, damit du gar nicht erst in Versuchung kommst.", denkt da die Protagonistin. Oder: "Sieh mich an, Wolf! Ich bin stark! Ich bin klug! Ich werde dir helfen, dich retten. Rede mit mir! Über gestern Abend. Über deine Traurigkeit. Über uns." - endlose pubertäre Selbstgespräche der verliebten Protagonistin während der panikartigen Suche nach einem "kirschroten Lippenstift" vor dem ersten Date erinnern an eine biedere Idiko von Kürthy. Da wird Franziska "vom ewigen Erwarten" "sozusagen zu Dörrfleisch". Die im journalistischen Bereich so stilsichere Pawlow wirkt da wie eine Journalistin, die eine Reportage durch unzählige Banalitäten und viel zuviel wörtliche Rede im Zeitungsstil zu einem Roman ausweitet, um sich Schriftstellerin nennen zu können. Auch andere Sätze lassen sie als geborene Reporterin, die sich das Gewand der Schriftstellerin nur übergeworfen hat und viel zu häufig auf der Taste mit dem Ausrufungszeichen landet, erkennen.

Auch der letzte Trumpf wird nicht ausgespielt. "Die Frau in der Streichholzschachtel", das Rätsel dieser Frau, deren Nummer in einer Streichholzschachtel notiert wurde, mit der die Geschichte beginnt und auch endet, ja, nach der sogar der gesamte Roman benannt wurde, ist es, was den Leser über mühsam verdauliche Klischee-Sätze ganze Seiten hinweg bei der Stange hält. Denn vielleicht, so hofft man für die Autorin, hat es die Auflösung dieses Rätsels wirklich in sich, erklärt dies alles, auch die Stilbrüche und Klischees, die Widersprüche und Ungereimtheiten. Doch am Ende ist auch diese lange vorbereitete und mit Erwartetungen überladene Pointe nur zum Gähnen und überrascht lediglich die liebesblinde Hauptfigur.

Schade, aus diesem Insiderwissen hätte man ein gutes Buch machen können. "Die Frau in der Streichholzschachtel" ist aber nur als Symbol einer Unvereinbarkeit von Ost und West gelungen.


Titelbild

Nicki Pawlow: Die Frau in der Streichholzschachtel. Roman.
Dittrich Verlag, Berlin 2007.
308 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783937717258

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