Wir können nicht anders

Harry Frankfurt zeigt uns die Kraft der Liebe

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Harry Frankfurt, einer der renommiertesten Philosophen der Gegenwart, hielt 2004 an der Stanford University zwei Vorträge, die im vergangenen Jahr in englischer Sprache erschienen sind. Nun liegen sie in deutscher Übersetzung vor, nebst dreier Kommentare kompetenter Kolleginnen und Kollegen, die sich neben begründeter Kritik mit einer möglichen Weiterentwicklungen der Thesen Frankfurts befassen. Herausgekommen ist ein Produkt ganz auf der Linie des "Frankfurt-Projekts", das - so die Herausgeberin Debra Satz in ihrem Vorwort - darin bestehe, "in klarer und eleganter Prosa [zu erörtern], was es bedeutet, ein Mensch zu sein".

Das Essay-Bändchen mit dem spannenden Titel "Sich selbst ernst nehmen" wendet sich insbesondere an philosophische Laien, kann aber auch von Leserinnen und Lesern "vom Fach" mit großem Gewinn gelesen werden, streift Frankfurt doch in seiner philosophischen Anthropologie alle relevanten Themen- und Fragestellungen im Spannungsfeld zwischen Handlungstheorie und Ethik, insbesondere die teils sich bedingenden, teils aber auch inkonsumerablen Verhältnisse, die es im Rahmen einer Abhandlung zur praktischen Rationalität zu bedenken gilt, nämlich die Verhältnisse von Vernunft und Willen, von Identifikation, Identität und Integrität sowie von Rationalismus, Realismus und Relativismus. Die große Klammer, mit der Frankfurt dieses komplexe Gebilde zusammenzuhalten gedenkt, ist die Liebe. Für Frankfurt ist der Mensch ein Wesen, das sich selbst dadurch ernst nehmen kann, dass es andere Menschen, aber auch Ideen und Dinge ernst nimmt, indem es sie liebt. Ausdruck der Liebe ist die Sorge. Das bedeutet, dass sich der Mensch um das, was er liebt, sorgt. Auf diese Weise gibt der Mensch sich Zwecke, die ihn zu einem sinnerfüllten Leben führen und zu einer Person machen, die nicht nur synchron, sondern auch diachron kohärent handelt und deshalb integriert ist. Das gibt ihm Identität oder "innere Harmonie", kurz: Selbstbewusstsein. Frankfurt behauptet, dass es weniger die Vernunft ist, die uns bei der Zwecksetzung lenkt, sondern vielmehr der Wille. Dabei baut er hinsichtlich der normativen Bestimmtheit eine Analogie zwischen praktischer Volitionalität und theoretischer Rationalität auf: So wie es logische Notwendigkeiten gibt, denen sich keiner entziehen kann, der denkt, so gebe es "volitionale Notwendigkeiten", denen sich keiner entziehen kann, der liebt: "Die Objekte der Liebe gehören zu den Dingen, um die wir uns sorgen, ohne dass wir das verhindern könnten." (Hervorhebung von J.B.). Das wirft einige Fragen auf, die Frankfurt ausführlich, gründlich und im Ergebnis überzeugend beantwortet.

Erstens: Wie passt die "Notwendigkeit des Willens" mit der "Freiheit des Willens" zusammen? Sehr gut, so Frankfurt, denn er fasst den Freiheitsbegriff sehr pragmatisch auf, indem er Willensfreiheit in Analogie zu Handlungsfreiheit konstruiert: "Es gibt [..] eine klare Parallele zwischen einer freien Handlung und einem freien Willen. Genauso wie unser Handeln frei ist, wenn wir so handeln, wie wir handeln wollen, ist unser Wille frei, wenn das, was wir wollen, mit dem übereinstimmt, was wir wollen wollen - das heißt, wenn der Wille, der hinter dem steht, was wir tun, auch genau der Wille ist, durch den wir zum Handeln bewegt werden wollen." Und weiter: "Der Wille einer Person ist nach dieser Auffassung frei, wenn in ihr eine gewisse Einheit des Willens existiert, wenn der Wunsch, der ihr Handeln lenkt, ihrem Wunsch zweiter Ordnung entspricht, von einem bestimmten Wunsch gelenkt zu werden." Freiheit wird so sinnvoll reduziert auf jene Freiheit, "auf die ein endliches Wesen vernünftigerweise hoffen kann". Frankfurt glaubt, dass "wir nicht in der Lage sind, uns mehr Freiheit vorzustellen, als wir in diesem Moment genießen", also in dem Moment, wo unser Selbst-Bild mit dem Selbst-Sein konvergiert. Wir überschätzen uns nicht nur, wenn wir frei von jeder Fremdbestimmung sein wollen, weil wir als endliche Wesen nicht die Klaviatur des Absoluten spielen können, wir verwechseln dabei auch schlicht Freiheit und Macht: "Die Möglichkeit, daß alles notwendig durch vorhergegangene Ursachen determiniert wird, stellt keine Gefährdung unserer Freiheit dar; statt dessen bedroht sie unsere Macht. Da wir von kausalen Kräften beherrscht werden, sind wir nicht allmächtig. Das hat aber keinen Einfluß auf die Frage, ob wir frei sein können." In aller Deutlichkeit stellt er fest: "Es gibt [..] keinen Grund, warum eine Sequenz von Ursachen, die außerhalb unserer Kontrolle liegt und von unseren Interessen und Wünschen unabhängig ist, nicht zu der harmonischen volitionalen Struktur führen könnte, die den freien Willen einer Person ausmacht." Ergo: Wir sind nicht allmächtig, aber dennoch frei.

Zweitens: Woher kommen die "volitionalen Notwendigkeiten"? Warum verfügen wir über die Einsicht, dass wir bestimmte Dinge nicht wollen sollen und warum verfügen wir zudem über eine innere Willensrestriktion, die sogar macht, dass wir bestimmte Dinge nicht wollen können? Frankfurt führt den Selbsterhaltungstrieb als gemeinhin willensbildend, entscheidungsbestimmend und handlungsleitend ein: "Unser Interesse daran, am Leben zu bleiben, hat als Quelle von Handlungsgründen eine enorme Reichweite und Resonanz."

Drittens: Was ist Liebe für den Autor? Er gibt wie folgt Auskunft: "Ich verstehe Liebe hier als einen bestimmten Modus der Sorge. Sie ist ein Interesse an der Existenz und dem Wohl dessen, was geliebt wird [...]." Dieses Interesse der liebenden Person ist "nichtutilitaristisch, insofern sie sich um das Objekt ihrer Liebe um seiner selbst willen sorgt und es nicht nur als Mittel zu irgendeinem Zweck ansieht" (hier fällt Frankfurts Definition erkennbar mit der so genannten humanitas-Formel des Kategorischen Imperativ zusammen).

Und schließlich bleibt die Frage nach der Normativität des Liebens beziehungsweise Sorgens: "Wie sollen wir bestimmen, um was wir uns sorgen sollen?" Frankfurt wendet sich deutlich gegen den rationalistischen Absolutismus Thomas Nagels, indem er diesen mit einer Aussage zur Rationalität der Moral zitiert, die unmoralisches Verhalten als "vernunftwidrig" kennzeichnet, nach dessen Auffassung es mithin nicht böse ist, sondern dumm, dem moralischen Gesetz nicht zu folgen. Der erkenntnistheoretische Status der Moral sei aber, so Frankfurt, mit dem der Logik nicht zu vergleichen, was sich schon daran zeige, dass wir "auf Sünder anders [reagieren] als auf Narren". Also: "Hinter der Autorität des moralischen Gesetzes muß etwas anderes stehen als die Vernunft." Es müsse zudem etwas sein, dass nicht außerhalb unserer Subjektivität steht. Dabei soll es allerdings nicht jedem überlassen sein, seine Privatmoral zu entwickeln, denn manches Verhalten könnten wir aufgrund der "Autorität des moralischen Gesetzes" nicht dulden. Frankfurt unternimmt in seiner Ethik den Versuch, die intersubjektive Gültigkeit von Moralprinzipien zu begründen, indem er sie als Objektivität beschreibt, die im Subjekt ihren (volitionalen) Ursprung hat. Die Moralprinzipien sollen "universalistisch und kategorisch" sein, ohne dass Frankfurt dabei an einen Absolutismus festzuhalten gedenkt, dessen ontologische Voraussetzungen ihm hinsichtlich der unterstellten normativen Realitäten problematisch erscheinen (insbesondere dann, wenn man, wie Frankfurt, metaphysikarm und areligiös argumentiert, und damit sowohl Platons Ideenreich als auch das Reich Gottes als Referenzen einer externen Moralbegründung entfallen), noch die Menschheit dem Wertrelativismus zu übereignen, dessen Konsequenzen nicht hinnehmbar wären.

Insoweit handelt es sich - zumindest in Ansätzen - um einen typischen postmodernen ( also postmetaphysischen) Entwurf einer voraussetzungslosen Moraltheorie ohne Referenz auf heteronome Gebote, traditionelle Erzählungen oder normative Realitäten (außerhalb der "realen Notwendigkeiten unseres eigenen [...] Willens", Hervorhebung von J.B.). Selten ist dieser Ansatz eines "subjektivistischen Objektivismus" so gut begründet worden wie in der "Liebes-Ethik" Frankfurts.

Freilich sind damit nicht alle Probleme gelöst ("Neben der Tatsache, daß unsere Vorstellung von den Dingen, die wir lieben, vielleicht einer Korrektur bedarf, ist zu beachten, daß wir uns selbst oft nicht besonders gut verstehen." - "Es könnte [..] vorkommen, dass die Dinge, um die andere Menschen sich sorgen, von diesen Menschen fordern, dem, was wir lieben, zu schaden oder es zu zerstören."), aber dennoch kann Frankfurt ein konstruktives und positives Fazit ziehen, das nicht nur für die Moraltheorie einen wertvollen Beitrag darstellt, sondern auch für die Praxis Hoffnung macht: "Etwas von ganzem Herzen zu lieben versorgt einen jeden von uns mit klaren Antworten auf die Frage, worum wir uns sorgen sollten. [...] Diese legitime Autorität [der Liebe, J.B.] ist für uns alle die einzige angemessene und letzte Grundlage normativer Einstellungen und Überzeugungen."

In einer feingliedrigen Argumentationskette führt Frankfurt seine Leserschaft mit eindrucksvoller sprachlicher Klarheit an Kernkonzepte der Philosophie heran, die selten so greifbar erschlossen werden. Besonders eindrucksvoll ist, wie elegant er das hochkomplexe Problem der Willensfreiheit löst (es sei hier nur an die Libet-Experimente und die sich anschließende Debatte zwischen Neurowissenschaft und Philosophie erinnert).

Die drei sich anschließenden Kommentare stehen dem hohen Niveau und Unterhaltungswert der Ausführungen Frankfurts in nichts nach. Christine Korsgaard spürt der von Frankfurt beschriebenen engen Verbindung von Sorge und Moral nach, um zu fragen, ob ihre Beziehung wirklich derart ist, wie Frankfurt behauptet, ob also die Sorge des liebenden Menschen so konstitutiv für die Moral ist, dass sie als ihre Bedingung gelten kann oder ob es nicht eher so ist, dass wir "der Autorität der praktischen Vernunft unabhängig von der Liebe unterstehen". Mit Immanuel Kant argumentiert Korsgaard zunächst dafür, dass "das Selbstbewusstsein die direkte Quelle der Vernunft ist und uns automatisch der normativen Autorität der Vernunftprinzipien unterstellt". Hier ist es also die Vernunft selbst, die die Macht hat, wobei Kant, so Korsgaard, die praktische Vernunft als willensbildend ansieht, während Frankfurt gerade betone, dass Vernunft und Wille "getrennte Vermögen" seien und die Quelle praktischer normativer Autorität nicht die Vernunft, sondern der Wille sei. Die unabhängige Bedeutung der Vernunft und die Verallgemeinerbarkeit der vernünftigen Maximen erweist sie an einem Alltagsbeispiel, das zeigt, dass man von allem, zu dem man sich vernünftiger Weise verpflichtet fühlt zugleich wünscht, es sei allgemeine Pflicht. Der persönliche Wille ist somit immer auch "allgemein und öffentlich", insofern als die willensbestimmenden und handlungsleitenden Gründe "mit allen rationalen Wesen oder zumindest mit all jenen, mit denen ich interagieren muß", geteilt werden; meine Interessen und die anderer Menschen sind aufeinander bezogen. Weitere Anmerkungen betreffen begriffliche Abgrenzungen, die bei Frankfurt nicht expliziert werden (Wunsch/Wille) sowie Frankfurts Liebesbegriff, den sie für zu unpersönlich hält, wenn es darum geht, was ein liebender Mensch will ("Ich glaube nicht, daß die Wünsche der Liebe so unpersönlich und selbstlos sind, wie Frankfurt sie beschreibt, und vielleicht sollten sie das auch nicht sein.") und zugleich auch für zu persönlich, weil, und dies verkenne Frankfurt, zu lieben auch immer bedeute, dem Objekt der Liebe einen "universellen oder öffentlichen Wert zuzuschreiben". Korsgaard zeigt (ganz kantisch), "wie uns die Logik der Sorge zu universell geteilten Werten und damit zur Moral verpflichtet".

Michael Bratman geht es um die von Frankfurt postulierten "volutionalen Notwendigkeiten" der Liebe. Zwar sei dies eine "kraftvolle und aufregende philosophische Überlegung", doch stelle sich die Frage, ob die Liebe wirklich eine so überragende Rolle bei der Willensbestimmung spiele, zeige doch die Realität ein anderes Bild: "Während die Liebe zum eigenen Leben eine universelle Notwendigkeit ist, scheint mir die Liebe zum Leben anderer Personen leider weniger allgemein verbreitet" (ein empirischer Befund, der nicht nur Frankfurt betrifft, sondern auch Kantianer wie Korsgaard). Ferner geht es ihm um den Zusammenhang von Handlungsgründen und Werturteilen. Er kommt zu dem Schluss: "Während zur Vernunft eine Art Notwendigkeit gehört hat die Rolle des Willens in unserem praktischen Leben möglicherweise vor allem mit überlegter, vernünftiger Stabilität zu tun", und eben nicht mit "Notwendigkeit".

Der Jurist Meir Dan-Cohen unternimmt schließlich den hochinteressanten Versuch, die Gedanken Frankfurts auf das Strafrecht anzuwenden, in dem - in den USA ganz ähnlich wie in Deutschland - die Intentionalität eine zentrale Rolle spielt (man erkennt das etwa daran, dass die Absicht des Täters und nicht die Folge der Tat für die Strafbarkeit dieser Tat entscheidend ist). Anhand realer Fälle rekonstruiert er Frankfurts Thesen in einem sozialen Kontext (dem Gerichtsverfahren), indem es um die Zuschreibung von Verantwortung (und damit um die Zuweisung von Schuld und Strafe) von außen geht. Die Grenze der Verantwortlichkeit ist die Grenze von "Ich" beziehungsweise "Selbst" und "Nicht-Ich" beziehunsgweise "Nicht-Selbst". Diese Grenze zieht immer auch die Gesellschaft (im US-Rechtssystem vertreten durch die Geschworenen) für jedes ihrer Mitglieder (im Prozess: die/der Angeklagte), denen damit die Möglichkeit grenzenloser Exkulpation genommen wird. Dazu deutet er Frankfurts distributives "Wir" kollektiv und entzieht damit "dem Individuum die unilaterale Autorität über den Inhalt und die Bedeutung" von Begriffen wie "wichtig", "richtig", "angemessen".

Harry Frankfurt und die Kommentatoren legen mit "Sich selbst ernst nehmen" ein spannendes, unterhaltsames und wichtiges philosophisches Lesebuch vor, das sehr zu empfehlen ist.


Titelbild

Harry G. Frankfurt: Sich selbst ernst nehmen.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Eva Engels.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
145 Seiten, 18,80 EUR.
ISBN-13: 9783518584859

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