Die Qualen des Heute

Claude Heiser über das Motiv des Wartens bei Ingeborg Bachmann

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende des zwanzigsten Jahrhunderts untersuchte die Literaturwissenschaftlerin Christine Kanz das Gefühl der Angst in "Ingeborg Bachmanns 'Todesarten'-Projekt in Kontexten der Gegenwartsliteratur". Nun, knapp zehn Jahre später, charakterisiert Claude Heiser Bachmanns erzählerisches Œuvre als eine "Literatur der Angst und des Wartens".

Mehr als das Motiv der Angst interessiert Heiser allerdings das des Wartens. Insbesondere ihm wendet er sich in seiner "Analyse des Prosawerks unter Berücksichtigung der Philosophie der Existenz" zu, wobei er seine Aufmerksamkeit vor allem auf "die Handlungsunfähigkeit, die Passivität und die Sprachlosigkeit" richtet, die Bachmanns ProtagonistInnen "in einen immerwährenden Wartezustand versetzen". Denn die österreichische Nachkriegsautorin entwerfe Figuren, die "auf Veränderungen warte[n]" statt "aktiv" am Leben teilzunehmen, sich mit ihm auseinanderzusetzen und sich gegen sein Plagen zu wehren. So werde "[d]as Leben" vom "moderne[n] Ich" in Bachmanns Prosa als "Utopie" auf einen "späteren, zeitlich nicht festgelegten Augenblick" verlegt, die jedoch - "sei es eine glückliche Liebesbeziehung, ein erfülltes Familienleben oder ein Leben ohne Existenzangst" - ihrem Begriff entsprechend nie realisiert werden dürfe, da die mit ihr verknüpften Wünsche und Sehnsüchte durch ihre Erfüllung in einen neuen "zeitlichen und somit begrenzten, den Qualen des Heute unterlegenen Kontext" eingebunden würden.

Zunächst ergründet Heiser, wo und wie das Warten in Bachmanns Prosatexten eine "wesentliche Rolle" spielt. Sodann unternimmt er es, "das Problem der Zeit" zu klären. Des weiteren zeigt er einen "generelle[n] Bezug" von Bachmanns Prosa zur Existentialphilosophie auf, wobei er jedoch auch einen grundlegenden Unterschied konstatiert: "Führt die Angst der Bachmann'schen Protagonisten zur Paralyse, so ist sie für die Existentialisten eine notgedrungene Begleiterscheinung des Handelnden".

Das zentrale Thema von Heisers Arbeit bilden "die verschiedenen Formen des Wartens" in Bachmanns Prosa, wobei der Autor das Motiv in einem allgemeinen literaturhistorischen und sprachphilosophischen Kontext verankert, um seine Bedeutung zu erörtern und zu klären, "worauf die Protagonisten letzten Endes überhaupt warten". Das Ziel seiner Untersuchung ist es zu beweisen, "dass das Warten ein Hauptmotiv, wenn nicht ein wesentliches Thema der Bachmann'schen Literatur ist". Eine doch eher schwache These, die vom Autor später allerdings auf "Malina" zugespitzt und zu einer wesentlich stärkeren umformuliert wird: Gezeigt werden soll, dass die "Situation des Wartens", gleichsam als "Hintergrundmusik", das "Leitmotiv des gesamten Romans" bildet. So bleiben Bachmanns Erzählbände sowie die Fragmente und Entwürfe des "Todesarten"-Projektes zwar nicht ganz außen vor, im Zentrum von Heisers Arbeit steht jedoch ganz dezidiert "Malina", ihm zufolge der "Roman des Wartens schlechthin".

Wie Heiser fast schon aphoristisch formulierte, befinden sich Bachmanns wartende ProtagonistInnen "durch ihre 'Lebensart' in einer antizipierten 'Todesart'". Dem weiblichen Ich in "Malina" sei das Warten sogar geradezu "der Lebensinhalt".

Wie in "Malina" seien es auch in Bachmanns anderen Werken stets die Frauen, die Warten, sei es auf die "die Befreiung", "die Emanzipation aus der Unterdrückung dem Bildnis und der Gewalt des Mannes", das Ende des Patriarchats oder schlicht auf einen "neuen Mann". Da die Protagonistinnen sich jedoch darauf beschränkten, passiv auf bessere Zeiten zu warten, "ohne aber selber etwas dafür zu unternehmen", blieben sie letzten Endes Opfer.

Obwohl Bachmanns weibliche Figuren "in einer passiven, unterlegenen und ihrer Unterlegenheit akzeptierenden Position" verharrten, scheint es Heiser "plausibel", "in Bachmanns Werk ebenfalls eine Kritik an dem noch bestehenden Patriarchat und dessen Vergehen an der Frau zu sehen". Dem ist wohl zuzustimmen. Mit einem Abstrich allerdings: Dass Bachmanns Protagonistinnen ihre Lage akzeptieren ist wohl zuviel gesagt. Denn der Begriff des Akzeptierens ist ja nicht nur mit Duldung konnotiert, sondern auch mit Bejahung und Billigung. Bachmanns Frauenfiguren nehmen ihre Lage aber ob der Ausweglosigkeit ihrer Situation eher resigniert hin. Und auch das durchaus nicht immer. Elisabeth Matrei aus "Drei Wege zum See" etwa ist durchaus eine agile und aktive Person, die ihre Angelegenheit in die eigenen Hände zu nehmen weiß. So hat Christine Kanz in einer von Heiser nicht rezipierten Interpretation der Erzählung darauf hingewiesen, dass die Protagonistin sich zwar einmal "für kurze Zeit" in "die traditionelle Rolle der vergeblich neben dem Telefon auf den ersehnten Anruf wartenden Geliebten" fallen lässt. Daraus schließt Kanz aber nicht auf eine grundlegende Passivität der Figur. Der würde ja auch widersprechen, dass Bachmanns Protagonistin sich eben diesen Mann, auf dessen Anruf sie nun wartet, zuvor "bewußt ins Bett geholt" hat, wie es in Bachmanns Erzählung heißt, und worauf Kanz ebenfalls verweist.

Heiser kommt zweifellos das Verdienst zu, das Motiv des Wartens bei Bachmann als erster genauer unter die Lupe genommen und dessen Stellenwert betont zu haben. Auch sind seine Darlegungen meist überzeugend. Nicht jedoch immer und jedes Detail betreffend. Nicht nur, dass ihm manches kleine Fehlerchen unterläuft. Nietzsche etwa unterzeichnete seine Briefe durchaus nicht "kurz vor seinem Tode" mit "Der Gekreuzigte", sondern etwa zehn Jahre zuvor. Wie man weiß, verdämmerte er das letzte Dezennium seines Lebens in der mütterlichen Heimstatt.

Auch Heisers Interpretationen einzelner Passagen in Bachmanns Werken wird man nicht in jedem Fall zustimmen können. Zu der Szene, in der das Ich in "Malina" Ivan um ein Gespräch bittet und sich mit dessen Erklärung "Aber wir haben keine Eile. Es bleibt uns noch das ganze Leben" abspeisen lässt, meint Heiser, dass Ivan diese "hoffnungsvollen Worte" vom Ich "angedichtet" worden seien. Dabei ist ganz offensichtlich, dass Ivan die Ich-Erzählerin hinhalten will, so wie es zahlreiche diskussionsfaule Männer ihren diskussionsfreudigen Partnerinnen gegenüber in den 1960er-Jahren gerne taten und auch heute immer noch gerne tun. Geradezu abwegig ist die Behauptung, die titelstiftende Figur des Fragments "Das Buch Franza" habe die am Ende des Textes erlittene Vergewaltigung "gleichgültig hingenommen". Eine These, die Heiser mit der Textstelle "Es ist nichts, es ist nichts geschehen, und wenn auch. Es ist gleichgültig. Ihr Denken riß ab, und dann schlug sie, schlug mit ihrer ganzen Kraft, ihren Kopf gegen die Wand in Wien und in die Steinquader in Gizeh" zu belegen versucht. Eine krasse Fehlinterpretation. Tatsächlich versucht Franza die unerträgliche Traumatisierung zu verdrängen und zerschlägt sich den Kopf, da dies nicht gelingen will.

Ebenfalls nicht nachzuvollziehen ist, dass Elisabeth Matreis "Turandot-Wunsch", es möge einen Mann geben, der das "Geheimnis der Weiblichkeit" zu "lüften" vermag, "zwangsläufig mit Unterwerfung und dem faschistischen Gedanken eines unangefochtenen Führers zu verbinden" sei. (Hervorhebung R.L.) Und Heisers Unternehmen, den zentralen Befund der Untersuchung, dass die "Protagonisten" in Bachmanns Prosawerken entgegen einer "rein feministischen Hermeneutik" nicht etwa auf die Bedingungen weiblicher Existenz in einer patriarchalischen Gesellschaft zielen, sondern "durchaus paradigmatischen Charakter haben und letzten Endes die Stellung des Menschen in der Existenz zum Ausdruck bringen", anhand des Ich in "Malina" belegen zu wollen, krankt daran, dass dieses Ich weiblich ist.


Titelbild

Claude Heiser: Das Motiv des Wartens bei Ingeborg Bachmann. Eine Analyse des Prosawerks unter Berücksichtigung der Philosophie der Existenz.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2007.
363 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783861104261

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