Kranke Liebe: Die Geschichte der Kleinen-Hirsch-Insel

Zur deutschen Erstveröffentlichung von Yi Chong-Juns Roman "Euer Paradies"

Von Alice HuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alice Huth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1969, unter dem Eindruck der Militärdiktatur Park Chung-hees, schrieb der südkoreanische Autor Yi Chong-Jun eine Liebesgeschichte: "Euer Paradies" erzählt von der schmerzhaften Beziehung zwischen einem absoluten Herrscher und seinem kranken Volk. Endlich wurde der Roman von der Edition Peperkorn in deutscher Übersetzung vorgelegt.

Seit der Antike besetzen Dichter das Eiland mit utopischen Vorstellungen - da ruhen Homers Helden von großen Taten aus und Robinson Crusoe findet zu einer ursprünglichen Daseinsform. Scheinbar in der Tradition romantischer Inseldichtung überschreibt Yi seinen Roman über die Kleine Hirsch-Insel, so benannt wegen ihrer landschaftlichen Schönheit, mit dem Titel "Euer Paradies". Seine Hauptfigur, der Militärentsandte Baek-Heon, folgt den ausgetretenen Pfaden der Kolonialherren, als er an einem sonnenhellen Tag in Sorokdo anlegt. Anfangs findet er Zeichen des Vertrauten: "Die Frauen trugen meistens einen Chima-Jeogori, die Männer ein Sommerhemd mit Hose. Es waren Leute, die man auch fernab der Insel hätte antreffen können" - nur der Umstand, dass sie getönte Brillen tragen und hier und dort ein Einbeiniger am Ufer steht, wirkt befremdlich.

Das südkoreanische "Sorokdo" ist kein Sehnsuchtsort, sondern ein Reich der Verbannten, seit die japanische Kolonialmacht dort im Jahr 1916 eine Anstalt für Leprakranke errichtete, und Oberst Jo Baek-Heon betritt sie in der Funktion des Anstaltsleiters mit uneingeschränkter Machtbefugnis. Während er bei seinem Amtsantritt von der Landschaft verzaubert ist, weiß sein Adjutant Sang Uk, dass sie "nicht das wahre Gesicht der Insel darstellt. Schön ist nicht die Insel an sich, sondern alles, was außerhalb von ihr liegt."

Auf rund 400 Seiten erzählt Yi mit einfachen Worten von dem Bemühen seines Helden, die Insel in ein Paradies zu verwandeln und ihren Bewohnern ein Leben in weitgehender Normalität zu ermöglichen. In Oberst Baek-Heon entwirft er eine ebenso sensible wie unbeugsame Herrscherfigur: Um das Vertrauen der Inselbewohner zu stärken und ihr hartnäckiges Schweigen zu brechen, bildet er Fußballmannschaften und lässt die Versehrten auswärts spielen, unter dem Banner der roten Krüppelhand: "Wenn ein Spieler im roten Trikot mit dem Ball aufs Tor zulief, kam ihm der Gegner nicht zur Verteidigung entgegen, sondern lief lieber davon. Manchmal passierte es auch, dass ein roter Spieler den Ball mit solcher Wucht wegkickte, dass er auf der Stelle vor Schmerz zusammenbrach."

Nach ersten Erfolgen plant Baek-Heon Höheres: Die Erweiterung der Insel zum Festland hin. Mit selbstaufgeschütteten Dämmen hofft er, Naturgewalten und Vorurteile zu bannen. Dabei unterschätzt er das tiefe Misstrauen des Volkes gegenüber dem absoluten Herrscher: Zwar sind Aussätzige "in der Lage, aufgrund ihrer inneren Unerbittlichkeit sogar den eigenen Körper ins Wasser zu werfen, um den Damm zu erhöhen. Doch genau die gleiche Eigenschaft kann sich binnen eines Tages in grausame Bosheit verwandeln." In Yis Roman sind Erzählungen den Unterdrückten ein Mittel, ihre Identität zu behaupten. In ihnen überblenden die Kranken Baek-Heons Amtszeit mit Erinnerungen an frühere Schreckensherrschaften und schüren soneuen Hass.

In einer stürmischen Nacht, als Dämme wegbrechen und Bewohner des Festlands drohend mit Fackeln übers Wasser fahren, erinnert sich der alte Wang an eine Geschichte über Gewalt und Einsamkeit. Wangs Geschichte verdichtet sich mit Erzählungen, die zwischen anderen Kranken kursieren, zu einem Bild von Knechtschaft, Kollaboration und Verrat, das Baek-Heon das Fürchten lehrt: "Sagte ich ihnen nicht vorher, dass die Aussätzigen umso ärger werden, je mehr Angst man vor ihnen hat?", beendet Wang seine Erzählung. Und, ganz wie Baek-Heon, greift es dem Lesenden mit kalten Fingern nach dem Herzen.

Yi schildert den Menschen in seiner Hässlichkeit und Unschuld. In seinem Roman über Sorokdo variiert er die schmerzhafte Geschichte des koreanischen Volkes. Beinahe vergebens sucht man in seiner Chronik, die in weiten Teilen der Geschichte der Insel treu bleibt, zarte Liebesbande, persönliche Wünsche und Lebenspläne - der koreanische Autor buchstabiert Geschichte vom Kollektiv her. Hierin liegt eine Fremdheit und Radikalität, die seit Albert Camus' "Pest" ihresgleichen sucht. Und nach dem ersten Befremden stellt sich ein Gefühl der Ruhe ein, beinahe so, als lausche man den Worten eines Waisen.


Titelbild

Yi Chong-Jun: Euer Paradies. Roman.
Edition Peperkorn, Thunum 2007.
408 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783929181753

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