Mit Isis zum Erfolg

Hans Joachim Schädlich erzählt die Geschichte des Dichters Äsop neu

Von Stefanie Regine BrunsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Regine Bruns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Gib ihm Sprache", so nennt Hans Joachim Schädlich seine Nacherzählung des Äsop-Romans. Dieser programmatische Titel gilt hier in doppelter Hinsicht: Erstmals verleiht ein Schriftsteller dem knapp hundertseitigen Text, der bislang häufig in unzureichenden, allzu wörtlichen Übersetzungen vorlag, literarische Qualität. Äsops Lebensbeschreibung wurde oft entschärft, zerfasert und verfälscht durch den vielsprachigen Überlieferungsstrom, der die Legende vom weisen Sklaven in immer neuen Fassungen aus der Antike ins lateinische Mittelalter und die Aufklärungszeit befördert hat und mit dem Namen des Fabeldichters verbunden ist. Schädlich schaltet sich nun in diesen Überlieferungsstrom ein. Er versucht den Äsop-Roman so nachzuerzählen, dass die Prägnanz der äsopischen Fabeldichtungen deutlich wird; das Leben dieses Sklaven, Intellektuellen und Aufklärers so zu erzählen, dass es selber sprachmächtig wird und also fortan spricht. Darüber hinaus bezieht sich Schädlichs Titel auf die Geschichte selbst, in der die Göttin Isis dem stammelnden Äsop Sprache schenkt und so einem Sklaven zu einer ungeahnten Laufbahn verhilft. Erst dieses Geschenk macht ihn zum "Menschen", der nun kritisierend, belehrend und zur Vernunft mahnend seinen Emanzipationsweg gehen kann.

Äsop, der griechische Fabeldichter aus Thrakien, soll um die Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus auf Samos gelebt haben. Im Laufe der Jahrhunderte kamen bei der mündlichen Überlieferung seiner Lebensgeschichte zahlreiche Legenden auf, die ihn schließlich selbst zur Fabel-Figur werden ließen. Äsop tritt den Mächtigen mit Klugheit und eulenspiegelhaftem Witz entgegen und setzt sich für die Armen und Hilflosen ein. Er lässt in seinen Fabeln Tiere wie Menschen reden und handeln: mal hochmütig, mal neidisch, mal eitel und fast immer dumm. Die pädagogische Absicht seiner komischen, manchmal grotesken Geschichten ist dabei nur allzu deutlich. Er versteckt geschickt die Wahrheiten, die er seiner Zeit sagt, und dient somit gleichzeitig seiner Karriere. Vom Witz und von der Klugheit dieser Fabeln wurden Rückschlüsse auf ihren Autor gezogen. Aber er wurde als hässlicher, stummer Sklave dargestellt, um seinen Aufstieg als Fürsprecher der Armen vor den Mächtigen noch wundersamer erscheinen zu lassen.

Schädlichs Nacherzählung beginnt folgendermaßen: "Äsop war zahnlos, seine Rede kaum zu verstehen. Äsop schielte. Er reckte den Kopf vor. Seine Nase war platt, seine Haut schmutzfarben. Äsops Bauch quoll über den Gürtel. Äsop war krummbeinig. Sein linker Arm war kürzer als der rechte. Manche sagen: Sein rechter Arm war kürzer als der linke. Äsop war ein Sklave. Für eine Arbeit in der Stadt war er unbrauchbar. Sein Herr bestimmte ihn für eine Arbeit auf dem Land." Doch der stumme Äsop ist klug: Als zwei Diener seines Herren ihn beschuldigen gestohlene Feigen gegessen zu haben, trinkt er lauwarmes Wasser und erbricht nur Wasser. Als der Herr den beiden Dienern befiehlt, es Äsop nachzutun, erbrechen sie die Feigen und sind selber des Mundraubs überführt.

Bald darauf begegnet Äsop einer verirrten Priesterin der Göttin Isis, die er bewirtet und der er den Weg in die Stadt zeigt. Als Dank für die selbstlose Hilfe schenkt die Göttin dem stammelnden Sklaven Sprache. Von nun an kann Äsop seine angeborene Klugheit auch artikulieren und durch seine spitzfindigen Fabeln für die Rechte der Unterdrückten eintreten. Sein Denken und Sprechen ist sehr genau. Befehle seines Herren, einem berühmten Philosophen, führt er oft wörtlich aus ("Koch ein Paar Linsen!"), um diesen zu lehren, sich präziser auszudrücken. Äsop irritiert die festgefahrenen Denkmuster der Mächtigen, und diese begreifen langsam das erkenntniskritische Verfahren, dem sie durch Äsop ausgesetzt sind. Äsop erschüttert ihre klischeehafte Wahrnehmung der Welt, indem er alternative Verhaltensmöglichkeiten und neue Perspektiven aufzeigt. Er ist weder schön noch von besonders edler Herkunft, seine Karriere verdankt er allein seinem logischen Verstand und seiner klaren Sprache. In einer von Macht und Eitelkeit geprägten Welt kann er sich kraft seines Verstandes durchsetzen.

Zunächst dient Äsop dem Philosophen Xanthos, der sich anfangs über seinen gewitzten Sklaven ärgert. Erst später lernt er sein scharfsinniges Denken zu schätzen - die Dialoge mit Xanthos und dessen Schülern nehmen den größten Teil des Buchs ein. Als sein Sklave ihm schließlich das Leben rettet, gibt Xanthos ihn frei. Äsop wird nun Ratgeber der Samier und bringt es dank seiner Klugheit bis zum Wesir von Babylon. In Delphi wird er schließlich zum Tode verurteilt, weil er eine goldene Schale aus dem Tempel gestohlen haben soll.

Mit dem Eintritt Äsops in das Haus des Xanthos wird Schädlich zum Interpreten seiner Vorlage. Die locker aufgefädelten Episoden häuslich -geselligen Lebens formt er zur exemplarischen Herr-und-Knecht-Geschichte um. Der Philosoph und sein Sklave sind beide durch einen scharfen Intellekt und eine präzise Ausdrucksweise gekennzeichnet. Dennoch ist Äsop seinem Herrn überlegen, weil er sich nicht der griechischen Wertewelt unterwirft. Er verlässt sich lieber auf die durch Erfahrung gewonnene Vernunftwahrheit.

Schädlichs unverwechselbar eigener Roman erzählt die Lebensgeschichte des ersten kritischen Intellektuellen, vom immerwährenden Konflikt zwischen Geist und Macht. Sein Fortbestand ist vorgezeichnet im Todesurteil, das ausgerechnet das souveräne Volk von Delphi über ihn fällt. In Schädlichs Nacherzählung bewahrt sich Äsop seine Freiheit auch noch bei seiner Hinrichtung: Er stürzt sich selbst den Felsen hinab - noch bevor ihn die Delpher hinunterstoßen können.

Hans Joachim Schädlich erzählt die Lebensgeschichte des Äsop nicht ohne dem alten Text sein eigenen Ton zu verleihen. In seinen Abwandlungen wird Schädlichs Botschaft deutlich: Durch Intellekt, Sprache, Logik und Witz gelingt Äsop sein unaufhaltsamer Aufstieg - doch letztlich scheitert er an der Eitelkeit der Macht.

Titelbild

Hans J. Schädlich: Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1999.
96 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3498063391

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch