Weltflucht ins literarische Labyrinth

Enrique Vila-Matas' Essay-Roman 'Doktor Pasavento' brilliert mit schwindelerregenden Abschweifungen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Suche nach einem Unbekannten oder nach einem Verschwundenen (Täter oder Opfer) gehört zu den narrativen Grundmustern von Krimis. Sie erzeugt die Leselust der Spannung. Dieses Weiterlesenwollen, um zur Präsenz des Absenten zu gelangen, dieses Begehren nach Aufklärung und Wissen ist bekanntlich eines der wirkungsvollsten Mittel der Leserbindung. Spannung besitzt ein Suchtpotenzial und eignet sich daher zum Hauptmittel erfolgreicher Literatur. Ein weitaus ambivalenteres Gefühl, das durchs Lesen ausgelöst werden kann, ist der Schwindel, der mit einer Art Angstlust, an Abgründen zu taumeln, verbunden ist. Die Verschachtelung von paradoxen Aussagen und von tief gestaffelten Fiktionsebenen sowie das desorientierende Vermischen von Faktischem und Fiktivem sind seit der Romantik geläufige Mittel, diese literarische Lust am Schwindel hervorzurufen. Jorge Luis Borges war ein Meister dieser fantastischen, intellektuellen, aber eben auch emotionalen Schwindeltricks.

Der neue Roman des spanischen Metaliteraten Enrique Vila-Matas erzeugt durch sein strukturbildendes Leitmotiv zweifellos mehr Schwindel als Spannung. Denn es ist der Ich-Erzähler dieses auch als Autofiktion lesbaren, bildungssatt anspielungsreichen Romans, der die Sehnsucht hegt, zu verschwinden. Er will sich aus dem sozialen Leben und seinen Zumutungen fortstehlen: "Meine ersten Gehversuche in der Literatur hatte ich in dem Glauben unternommen, Schreiben sei ein ständiges Entgleiten, ein unaufhaltsames Sterben. Mit der Publikation wurde alles noch komplizierter. Es machte mich nach und nach zu einem ziemlich bekannten Autor in meinem Land und konfrontierte mich mit dem Schrecken des literarischen Ruhms."

Freilich ergäbe der einfache (sprachliche) Vollzug dieses Wunsches nach dem Verschwinden noch keinen Roman. In seinen Prosastücken 'Vorbildliche Selbstmorde' hatte Vila-Matas schon 1991 in wunderbar schwarz-humorigen philosophischen Kurzerzählungen diese Lust auf Abwesenheit adressiert; die edition suhrkamp veröffentlichte vor einigen Jahren eine deutsche Übersetzung. Dem Faszinosum des Verstummens großer Autoren - also der publizistischen Form des Entzugs oder des Verschwindens - war Vila-Matas Essay-Erzählung 'Bartleby & Co' gewidmet, die 2001 auf deutsch erschien.

Um nun seinen mit 450 Seiten bisher längsten Roman vorzulegen, der sich in epischer Breite dem Verschwinden widmet, bedarf es freilich einer Vervielfältigung der Erzähleridentitäten. Und vor allem verdankt sich das (im Grunde paradoxe) inflationierte Volumen dieser Prosa über das Verschwinden zahlreichen essayistischen Abschweifungen, in denen eine Galerie von Schriftstellern aufgerufen wird, die aus dem öffentlichen Leben austreten wollten. Neben Pynchon und Blanchot als Kronzeugen für die Existenzweise eines biografisch geradezu inexistenten, nur in seinen Schriften präsenten Autors, widmet sich Vila-Matas hier auch Emmanuel Bove und einigen weiteren Dichtern, die die Kunst der Abwesenheit praktizierten. Vor allem jedoch kreist das Buch um Robert Walser. Dessen Rückzug - erst in die Kleinheit seiner Mikrogramme und dann in die Psychatrie - wird dem Erzähler zum (als Romantisierung der Krankheit doch überaus fragwürdigen) Ideal: "Walsers Kunst war vor allem eine Kunst der eigenen Auflösung. Seine Taktik bestand nicht etwa darin, das Chaos nachzubilden, sondern im stillschweigenden Bemühen, sich gerade so viel wie nötig sehen zu lassen und dann möglichst unauffällig zu verschwinden. Er zog es vor, sich zurückzuziehen und in aller Ruhe den Verstand zu verlieren, in Heilanstalten zu leben, laut Canetti, die Klöster unserer Zeit."

Das Sanatorium in Herisau, in dem Walser die letzten 23 Jahre seines Lebens (übrigens nicht mehr schreibend) verbrachte, wird dem Erzähler zum Pilgerort; gerne ließe er sich selbst in der immer noch existierenden Klinik nieder. Doch bevor dieser triste Ort erreicht wird, reist der Autor von Barcelona nach Sevilla, dann nach Paris und Neapel, stets in der Hoffnung, aus seinem Leben zu verschwinden. Und zugleich stets mit dem gegenläufigen Entsetzen konfrontiert, dass er derart einsam oder unbeliebt ist, dass ihn bei seinen Fluchten tatsächlich niemand vermisst. Dieser Essay-Roman begann übrigens, durchaus programmatisch, in Montaignes Arbeitszimmer in seinem Chateau bei Bordeaux. Hier führte der Erzähler eine erste Diskussion über das Verschwinden mit einer Stimme, die sich bald als imaginäre, innere Stimme herausstellt.

Das Leitmotiv des Abtauchens in die Anonymität birgt die Spannungsmomente, ob der Erzähler, etwa im Pariser Stammhotel seines französischen Verlegers oder bei der Begegnung mit früheren Kollegen in Neapel erkannt und mithin 'wiedergefunden' wird. Prägender ist freilich die Produktion von Schwindelgefühlen durch die Vervielfältigung der Erzähleridentitäten. Nach der schizophrenen Stimmenverdopplung der Eröffnungsszene erfindet sich der Erzähler später explizit seine Doubles: erst den Psychologen Pasavento, dann den Psychater Doktor Ingravallo, schließlich gar die geborgte Identität des Autors Pynchon.

Wann, wie und mit welchen für den Erzähler durchaus schmerzlichen Folgen diese fingierten Identitäten von seinen Mitmenschen durchschaut werden, sei hier nicht verraten. Denn diese Decamouflage gehört zu den Spuren von Spannung in diesem infra- und intertextuell kunstvoll gestaffelten Buch. Das Leben respektive Erzählen mit mehreren Identitäten bedeutet im übrigen die Herausforderung, auch mehrere persönliche Vergangenheiten parat zu haben, sowie mindestens ein zweites Elternpaar, vier Großeltern und dergleichen mehr mit fingierten Biografien ausstatten zu dürfen oder zu müssen. Spät erfährt man, dass diese Begierde, andere Identitäten zu erfinden, letztlich auch als Flucht aus den Katastrophen und der existenziellen Einsamkeit des eigenen Lebens zu verstehen ist: als Ablenkungen von der Traumatisierung durch den Selbstmord der Eltern und dem Drogentod der Tochter. Zudem wurde der Erzähler ein Jahr zuvor von seiner (ungeliebten) Frau wegen eines Mannes in Malibu verlassen.

Als er einen vulgären Klospruch in die Hoteltoilette malt, glaubt der Ich-Erzähler, die ideale Form des anonymen Schreibens entdeckt zu haben. In einem Abschiedsbrief skizziert er sein weltflüchtiges Autorideal: "Daß nur ja niemand glaubt, ich sei etwa von irgendeinem Unhold eines fernen Planeten geraubt worden. Ich selbst bin mein eigener Entführer. Die Mühen, die ungeheure Anstrengung, die es kostet, um in dieser Welt zu Ruhm und Ehren zu gelangen, sind nichts für mich. Ich will mich allem und jedem entziehen, nie mehr öffentlich auftreten, nie mehr mit all den zermürbenden Intrigen der literarischen Welt leben müssen. Ich will ein anderes Leben führen, zum Beispiel das eines Salinger oder eines Pynchon. [...] Ich will das Leben all der Schriftsteller führen, die ich bewundere, weil es ihnen gelungen ist, ohne Belästigungen weiterzuleben und zu schreiben."

Ergänzend zu den Exkursen über die Rückzugsbewegungen gewisser Schriftsteller gewinnt das Buch sein narratives (respektive: deskriptives und digressives) Material durch die Abschweifungen von und zu einem überdeterminierten Ort in Paris. Die Rue Vaneau, in der das Hotel de Suède den Erzähler immer wieder beherbergt, war zugleich die Adresse von so unterschiedlichen Autoren wie Antoine de Saint-Exupéry, Julien Green, André Gide, Karl Marx und Emmanuel Bove - und sie beherbergt die syrische Botschaft. So entfaltet sich ein geradezu paranoider Beziehungswahn, der den Erzähler nach der Entdeckung der syrischen Botschaft in den folgenden Tagen allerlei Zeitungsnotizen und Koinzidenzien zu syrischen Angelegenheiten wahrnehmen lässt. Ein irritierender effet de réel entsteht, wenn mit dem Hinweis auf den syrischen Fahrer der zwei im Irak entführten französischen Journalisten plötzlich der Irakkrieg und die im Internet kolportierte Folter des freigelassenen Syrers durch die US-Army in das literarische Labyrinth eingewoben wird. Eine solche Form abschweifenden Schreibens hat einen ihrer Vorläufern in Sternes 'Tristram Shandy', dessen Digressionen hier als Fluchten (vor dem Tod) gedeutet werden.

Die letzte Figur und Narrations-Verschachtelung des Romans ist der (wohl fingierte) Ex-Schriftsteller Humbol. Der schreibt zwar nicht mehr - erfindet, erzählt oder lebt aber gerne Geschichten. So ist er dem Erzähler, den er umgehend zum Protagonisten eines solchen ungeschriebenen Romans macht, für seine Obsession für die Rue Vaneau dankbar. Dieses Interesse des anderen erleichtert wiederum den Erzähler, der seine Geschichte nun in Humbols luftiger Vorstellungskraft geborgen sieht: "Da Humbol sich nun darum kümmerte, brauchte ich mich fortan nicht mehr verpflichtet zu fühlen, mir meine eigenen Geschichten auszudenken, geschweige denn, sie mir selbst zu erzählen. Ich konnte mich beruhigter denn je meinen mikroskopischen und essayistischen Entwürfen widmen, das heißt, meiner Kurzprosa".

Dieser Roman (wenn es denn einer ist) wurde in Spanien, wo Vila Matas, dessen Bücher in 15 Sprachen übersetzt worden sind, fraglos zu den wichtigsten zeitgenössischen Autoren zählt, mit dem Preis der königlichen Akademie Madrid und dem 'Premio Lara' ausgezeichnet. Der Text trägt mithin erheblich zur Steigerung von Ruhm, Ansehen und Präsenz des Autors bei und durchkreuzt solcherart die im Buch gefeierten Ideale. Die Leselust des kognitiven wie emotionalen Schwindels, die der Text in hohem Maße produziert, darf man preisen als sublimere, perversere und womöglich höhere Lust als die landläufige Spannung. Freilich ist das Vergnügen an diesem Buch wohl kaum voraussetzungslos. Es ist durch die Auftritte der vielen Autoren - von Gracq über Green bis Gide, von Blanchot bis Bove, von Atxaga über Bauçà und Carvallo bis zum bestimmt erfundenen Fernando Humbol - eher ein Buch für belesene Literaturliebhaber oder für Profileser.

Die Freude an den Anekdoten zu den alten Bekannten wie der Frust oder die Freude an den zitierten unbekannten Autornamen entspringen dabei vielleicht einer ähnlichen, genuin bibliomanen Eitelkeit, wie sie die fundamental paradoxe Anlage dieses Buches kennzeichnet. Es ist schließlich ein sonderbares Unterfangen, ein umfangreiches, bestenfalls gelehrt gewitztes, doch phasenweise auch repetitives Buch über die Flucht aus der Welt zu den Büchern zu schreiben - und speziell zu Büchern von Autoren, die wiederum wegen ihrer Tendenz zum Verstummen oder Verschwinden aus der Welt gelobt werden. Denn wer schreibt, bleibt. Die Spur des Geschriebenen ist eine Gegenkraft zum Verschwinden und Verstummen. So konterkariert dieser große (Böswillige würden sagen: tendenziell geschwätzige und idiosynkratisch egozentrische) Essay-Roman auf verstörende Weise die Minimierungs- und Rückzugsbewegungen, die er an seinem Idol Robert Walser so bewundert.


Titelbild

Enrique Vila-Matas: Doktor Pasavento. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Petra Strien.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2007.
464 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004027

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