Raum als Metapher

Anmerkungen zum „topographical turn“ in den Kulturwissenschaften

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

„All unserem Denken drängen sich als Begleiter und Helfer räumliche Vorstellungen auf, und wir sprechen in räumlichen Metaphern“, konstatierte Josef Breuer 1895 in seinen theoretischen Ausführungen zu den „Studien über Hysterie“, um sogleich eine räumliche Metapher zur Veranschaulichung des Gegensatzes von Bewusstem und Unbewusstem zu rechtfertigen. „So stellen sich die Bilder von dem Stamme des Baumes, der im Lichte steht, und seinen Wurzeln im Dunkel oder von dem Gebäude und seinem dunkeln Souterrain fast zwingend ein, wenn wir von den Vorstellungen sprechen, die im Gebiete des hellen Bewußtseins sich vorfinden, und den unbewußten, die nie in die Klarheit des Selbstbewußtseins treten. Wenn wir uns aber immer gegenwärtig halten, daß alles Räumliche hier Metapher ist, und uns nicht etwa verleiten lassen, es im Gehirne zu lokalisieren, so mögen wir immerhin von einem Bewußtsein und einem Unterbewußtsein sprechen. Aber nur mit diesem Vorbehalte.“

Ohne die metaphorische Verwendung räumlicher Sachverhalte zu disqualifizieren, legte Breuer großen Wert darauf, sich im wissenschaftlichen Diskurs der Differenzen zwischen metaphorischem und wörtlichem Sprechen bewusst zu bleiben. Dies scheint bei der geradezu inflationären Verwendung des Raumbegriffs in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften nicht mehr der Fall zu sein. ‚Raum‘ ist zu einer ihrer Lieblingsvokabeln geworden. Doris Bachmann-Medicks Überblick über die „Cultural Turns“ in den Kulturwissenschaften konstatiert denn auch in dem Kapitel „Spatial Turn“, man „rede neuerdings allenthalben von der Wiederentdeckung des Raums als einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Leitkategorie“.

In der Benennung dieses „Turns“ konkurrieren etliche Attribute um Dominanz. Doch ob „spatial“, „topological“ oder „topographical turn“: Bei allen unterschiedlichen Perspektivierungen, die mit der Wahl des einen oder anderen Attributs vorgenommen werden, gleicht sich das raummetaphorische Begriffsfeld. Grenzen oder Schwellen, und dabei vor allem Bilder ihrer Überschreitung oder Auflösung, erfreuen sich in kulturwissenschaftlichen Publikationen seit den 1990er-Jahren einer nicht nachlassenden Attraktivität. Sie stehen im Rahmen einer Raummetaphorik, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Strukturierungen ihrer Untersuchungsbereiche besonders gerne als ‚Kartierung‘, ‚Mapping‘ oder als ‚Vermessung‘ begreift. In dem literarischen Erfolgsroman Daniel Kehlmanns aus dem Jahre 2006, „Die Vermessung der Welt“, dem der Untertitel „Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung“ des kürzlich erschienen Buches über die „Geopolitik der Literatur“ des Literaturwissenschaftlers Niels Werber (siehe die beiden Rezensionen in dieser Ausgabe von literaturkritik.de) wohl nicht zufällig gleicht, steht der Satz: „Raum sei überall!“ Es ist, als hätten sich die Kulturwissenschaften diesen Satz schon seit zwei Jahrzehnten zum Motto gemacht. Doch sind nicht nur die Kulturwissenschaften an dem spatial turn beteiligt. Neu gegründete Studiengänge oder Lehrstühle für „Wirtschaftsgeographie“ oder „Kulturgeographie“ verweisen ebenso auf die kollektive Breitenattraktivität des „Raums“ wie zum Beispiel das Unternehmen der Wochenzeitung „Die Zeit“, in ihrem 50teiligen Bildungskanon das „Wissen dieser Welt“ an Orte zu binden, von denen aus die Autoren „das für die heutige Allgemeinbildung entscheidende Wissen“ vermitteln.

Nicht nur Bachmann-Medick hat inzwischen versucht, Gründe für die Konjunktur des Raum-Begriffs zu finden. Eine plausible Erklärung verweist auf die Irritationen, denen diverse räumliche Vorstellungsmuster in den letzten Jahrzehnten ausgesetzt waren: auf die Transzendierung territorialer Grenzen durch neue technische Medien, auf die ökonomische Globalisierung oder auf die politische Auflösung der Ost-West-Blöcke nach dem Fall der Mauer. Sie haben dazu geführt, die Selbstverständlichkeit von lange Zeit stabilen Orientierungen aufzulösen und sich ihrer kulturellen Kontingenz bewusst zu werden. Die Grenzen zwischen Untersuchungen zu kulturell variierenden Raumkonstrukten und der eigenen, vielfach metaphorischen und inflationären Generierung solcher Konstrukte sind jedoch heute oft nicht leicht zu ziehen. Das hat schon früh zu kritischen Einsprüchen gegenüber kulturwissenschaftlichen Verwendungen des Raumbegriffs geführt.

Für die Literaturwissenschaft sind freilich gerade solche metaphorischen Verwendungen von besonderem Interesse. Sie verweisen einmal mehr auf Ähnlichkeiten zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten und kommen ihrem Anspruch entgegen, bei der Anwendung ihrer textanalytischen Kompetenzen die Gegenstandsbereiche zu erweitern. Maßgebliche Anregungen dazu, die von jüngeren kulturwissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Raum vielfach noch gar nicht beachtet wurden, hatte der russische Strukturalist Jurij M. Lotman schon 1970 veröffentlicht.

Lotmann hat mit seiner einflussreichen Schrift „Die Struktur des künstlerischen Textes“ den Blick strukturaler Textanalytiker auf kulturelle und speziell auch literarische Verwendungen räumlicher Modelle für nicht räumliche Inhalte erheblich geschärft. Die „Sprache der räumlichen Relationen“, so Lotman, ist

eines der grundlegenden Mittel zur Erfassung der Wirklichkeit. Die Begriffe „hoch – niedrig“, „rechts – links“, „nahe – fern“, „offen – geschlossen“, „abgegrenzt – unabgegrenzt“, „diskret – kontinuierlich“ bilden dabei das Material für den Aufbau von kulturellen Modellen mit keineswegs räumlichem Inhalt und erhalten die Bedeutung: „wertvoll – wertlos“, „gut – schlecht“, „eigen – fremd“, „zugänglich – unzugänglich“, „sterblich – unsterblich“ und dergleichen mehr. Die allgemeinsten sozialen, religiösen, politischen und moralischen Modelle der Welt, mit Hilfe derer der Mensch in den verschiedenen Etappen seiner Geistesgeschichte das ihn umgebende Leben begreift, sind stets mit räumlichen Charakteristika versehen, etwa in der Art der Gegenüberstellung „Himmel – Erde“ oder „Erde – unterirdisches Reich“ (eine vertikale dreigliedrige Struktur, organisiert auf der Achse oben – unten), oder in der Art der moralischen Merkmalhaltigkeit der Opposition „rechts – links“.

Neben und zusammen mit der zeitlichen ist die räumliche Orientierung für die strukturierende Wahrnehmung der Umwelt und die eigene Positionierung in ihr fundamental. Zu unterscheiden, ob akustische oder optische Objekte der Wahrnehmung in Relation zum eigenen Standort innen oder außen, fern oder nah, oben, unten oder seitwärts, rechts oder links, vorne oder hinten situiert sind, zu wissen, ‚wie weit man gehen darf‘, um sich oder anderen nicht zu schaden, welche begrenzten Bereiche welche Gefährdungen oder Vorteile erwarten lassen, ob sie offen oder geschlossen sind, gehört zu den grundlegenden adaptiven Fähigkeiten, die das Überleben sichern oder das Leben erleichtern.

Das Bedürfnis nach räumlicher Orientierung scheint so tief in uns verankert zu sein, dass auch nicht räumliche Sachverhalte ständig räumlich modelliert werden, dass man also beispielsweise jemandem ‚nahe steht‘, obwohl er sich tausend Kilometer entfernt von einem aufhält. Literatur ist eine Fundgrube für Untersuchungen zur Raummetaphorik.

Geografische ‚Kartierungen‘ nicht geografischer semantischer Sachverhalte oder Semantisierungen geografischer Strukturierungen und Benennungen von Räumen sind gängige Phänomene in literarischen Textwelten. Thomas Mann korreliert im „Tod in Venedig“ wie im „Zauberberg“ für sein Werk konstitutive semantische Oppositionen wie die von Vernunft und Sinnlichkeit, Gesundheit und Krankheit, Zivilisation und Wildnis mit Entgegensetzungen von Norden und Süden, Westen und Osten und der Verortung von Schauplätzen und Figuren nach diesen Himmelsrichtungen. Das Davoser Bergland und das deutsche Flachland, München, Venedig, Indien (als Herkunftsort der Cholera und Schauplatz eines Tagtraums und des nächtlich geträumten Dionysoszuges), der Pole Tadzio, die Russin Clawdia Chauchat, die Abstammung der Mutter Aschenbachs von einem böhmischen Kapellmeister, das alles ist in ein geografisches und zugleich semantisches Koordinatensystem eingepasst, in dem südöstlich anarchische Sinnlichkeit und nordwestlich die disziplinierte Vernunft verortet sind.

Im Gegensatz zu vielen anderen einflussreichen literaturwissenschaftlichen Konzepten, vor allem auf dem Gebiet der Erzählforschung, stand bei Lotman nicht die zeitliche Ordnung der Textwelt im Vordergrund, sondern die literarische Erstellung von bedeutungshaltigen Raumordnungen. Das entsprach der Präferenz des Strukturalismus für das Synchrone gegenüber dem Diachronen, für das Systematische gegenüber dem Historischen. Der spatial turn in den Kulturwissenschaften profilierte sich in den ‚postmodernen‘ 1980er-Jahren, wie Bachmann-Medick bemerkt hat, ebenfalls zum Teil in Opposition gegenüber einer Kulturgeschichtsschreibung, die in Traditionen des 19. Jahrhunderts an den Leitkategorien Zeit, Entwicklung (beziehungsweise Evolution) und Fortschritt orientiert war. Stattdessen betonte man die räumliche Gleichzeitigkeit des kulturell Verschiedenen und die Präsenz des Historischen an gegenwärtigen Schauplätzen der Erinnerung.

Dass literarische Schauplätze, imaginäre wie auch solche, die auf reale, mit kulturellen Semantisierungen oft schon kollektiv vorbesetzte Orte verweisen, mit historischen Erinnerungen, bestimmten Bedeutungen und Emotionen assoziiert werden, ist allerdings ein altes und gängiges literarisches Verfahren. Im Umkreis des Existenzialismus philosophierte man in einem literarisch-metaphorischer Sprache angenäherten Stil und gerne auch mit Blick auf literarische Texte bis hin zu Peter Sloterdijks „Sphären“-Trilogie (1998-2004) und ihrer Anthropologie des Menschen als eines Räume bildenden Wesens über den ‚erlebten‘, ‚gestimmten‘ oder ‚beseelten‘ (im Unterschied zum mathematisch und physikalisch konzipierten) Raum. Gaston Bachelard in „La Poétique de l‘éspace“ (1957; dt. 1975 „Die Poetik des Raumes“) und Otto F. Bollnow in „Mensch und Raum“ (1963; 6. Auflage 1990) hatten u.a. dem Raum des ‚Hauses‘ umfassende Reflexionen gewidmet. In literarischen Texten kann auch der Raum innerhalb des Hauses Gegenstand einer komplexen Topografie werden. In der Psychoanalyse wurde das Haus eine dominierende Metapher zur Verbildlichung der Psyche, in der das bewusste Ich „nicht mehr Herr im eigenen Hause“ ist.

Informationen über Schauplätze eines dargestellten Geschehens werden von Literatur und anderen Künsten mit unterschiedlichen Verfahrensweisen und Funktionen vermittelt. Deren meist gattungs-, kunst- und mediengebundenen Beschreibungen in den dafür jeweils zuständigen wissenschaftlichen Disziplinen müsste durch eine die Affinitäten und Differenzen gattungs-, kunst- und medienspezifischer Phänomene systematisch vergleichende Beschreibung ergänzt werden. So dürften beispielsweise die sprachlichen „Lokalisierungstechniken“ von Dramentexten, wie sie Manfred Pfisters Standardwerk über „Das Drama“ in begrifflicher Analogiebildung zu den „Charakterisierungstechniken“ von Figuren beschreibt, funktionale Entsprechungen in erzählenden oder sogar in lyrischen Texten haben und in ihnen durchwegs relativ ähnlich eingesetzt werden.

Mit expliziten Inszenierungsanweisungen in ‚Nebentexten‘ (unter anderem Überschriften, Bühnenanweisungen zur Szenerie und Aktion) informieren Dramentexte mehr oder weniger detailliert und mit unterschiedlich hohem Verbindlichkeitsanspruch darüber, wie man sich als Leser oder als ein an der Inszenierung interessierter Regisseur die Haupt- oder Nebenschauplätze des in Szene gesetzten Geschehens vorstellen kann oder soll. Die Ausführlichkeit von expliziten Inszenierungsanweisungen variiert innerhalb eines Textes, aber auch in Abhängigkeit von dramengeschichtlichen Entwicklungen, wie etwa die Detailversessenheit der Nebentexte in Dramen des Naturalismus zeigt. Nicht grundsätzlich andere Spielräume hinsichtlich der Beschreibungsgenauigkeit haben epische und lyrische Texte auch. Und was in Dramentexten, soweit sie sich nicht als Lesetexte verstehen, an den Regisseur adressiert ist, der die Inszenierungsanweisungen unterschiedlich konkretisieren kann, richtet sich in epischen und lyrischen Texten an Leser, die gleichsam auf der Bühne ihrer Vorstellungen selbst Regie führen.

Manfred Pfister hat ein differenziertes Instrumentarium zur Beschreibung von Raumkonstellationen im Drama und ihren möglichen Funktionen entwickelt, das sich zu weiten Teilen auf die Beschreibung anderer Textarten, sogar wissenschaftlicher Texte übertragen lässt. Innerhalb eines Schauplatzes (etwa eines Dorfes oder eines Hauses) sind dessen Bestandteile (ein Schloss etwa oder ein Keller) bedeutungshaltig unten oder oben positioniert, im Zentrum oder an der Peripherie, einander nah oder fern. In der Beziehung zwischen einem abgeschlossenen Schauplatz und der gesamten Außenwelt (off stage) kann die räumliche Relation ‚draußen – drinnen‘ semantisch ganz unterschiedlich gefüllt werden, der Außenraum etwa mit Freiheit oder Gefahr, der Innenraum mit Beengung oder Schutz. Die Beziehung zwischen verschiedenen Schauplätzen, etwa zwischen einem städtischen und einem ländlichen, kann für umfassendere Entgegensetzungen stehen, zum Beispiel zwischen Zivilisation und Natur.

Literarische Schauplätze erhalten weiterhin ihre Bedeutung aus dem Kontrast (in literarischen Utopien etwa) oder aus der Ähnlichkeit zu dem realen Lebensraum des Autors und/oder seiner Adressaten. Und sie sind auf spezifische Weise mit dem dargestellten Geschehen und mit den in das Geschehen involvierten Figuren korreliert. Schauplätze können wie in naturalistischen Milieuschilderungen und Abbildungen realer Lebensumstände als ein das Verhalten von Figuren determinierender Faktor erscheinen, sie können aber auch als Spiegelungen der mentalen Befindlichkeit von Figuren fungieren.

Das alles ist jedoch nicht nur in literarischen Welten, sondern auch in ‚wirklichen‘, nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in wissenschaftlichen und in vielen anderen Textarten so. Statt sich an der Produktion von Raummetaphern blindlings zu beteiligen, wäre es für die Literaturwissenschaft wohl angemessener, sie zu analysieren – und sie wie Josef Breuer nur unter Vorbehalt selbst zu übernehmen.